2.1 Freiheit oder Einheit Diese wohl simplifizierende Schlussfolgerung soll mithilfe folgender Hypothese präzisiert werden, die die Disjunktion zwischen Freiheit und Einheit illustriert. In der deutschen Geschichte, schreibt J. Schröder, sei es immer wieder dazu gekommen, dass die militärische Niederlage die nationale Einheit der Deutschen zunichte gemacht, doch zugleich die Freiheiten erweitert habe, wenn man Freiheit im Sinne der Französischen Revolution auffasse. Jeder militärische Sieg allerdings habe die Deutschen der nationalen Einheit nähergebracht, was jedoch durch reaktionäre Reduktionen der Freiheit erkauft worden sei. Dieses Muster trat zunächst nach der Niederlage bei Jena und Auerstedt (1806) zum Vorschein, als sich deutsche Länder infolge der französischen Verwaltung liberalisieren durften. Nachdem Napoleon einige Jahre später bezwungen worden war, konnten sich deutsche Gebiete zwar vom französischen Aggressor befreien, doch zugleich wurden dabei aufklärerische Ideale preisgegeben. Die Jahre der europäischen Restauration waren Jahre der Unfreiheit. Der nächste Sieg über Frankreich im Jahre 1871 hat zur Vereinigung Deutschlands geführt. Die erreichte Einheit ging indes mit einer Deliberalisierung einher, der Traum der Einheit glich, um eine zeittypische Formulierung zu zitieren, der „Unterwerfung des friedensliebenden deutschen Volkes der Dichter und Denker unter den preußischen Militarismus durch die Blut- und Eisenpolitik Bismarcks“. Das vereinte Deutschland schlug in den nächsten Jahren einen spezifischen Weg ein, der für die auf die Französische Revolution zurückgehende Auffassung der Freiheit nicht viel übrig hatte. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs mündete die Disjunktion zwischen Freiheit und Einheit in die sogenannten „Ideen von 1914“ ein, einer deutschen Antwort auf die Frage, warum man in Deutschland mit der westlichen Auffassung der Freiheit nicht viel anzufangen habe. Im Vergleich zu der deutschen Freiheitsauffassung erschien die westliche als oberflächlich und seicht, dem Geiste und den Idealen der deutschen Nation also vollends inadäquat. Am Ende des ersten Weltkriegs hatte man in Deutschland die demütigenden Bedingungen des Friedensvertrags von Versailles zu akzeptieren, andererseits wurde eben in dieser ungünstigen Lage zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine republikanisch-demokratische Staatsform angestrebt; aus dieser Spannung heraus entstand die schwache und unsichere Weimarer Republik. Erst angesichts der bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945 waren die Deutschen bereit, auf ihre Visionen des wesensmäßig antiwestlichen Charakters von Deutschland zu verzichten und sich mehr und mehr den westlichen Werten der Demokratie und des Liberalismus zuzuwenden. Dieser „lange Weg nach Westen“ (H.A. Winkler) war allerdings wieder „nur“ in einer in zwei Staaten gespaltene Nation zurückzulegen. Die Regelmäßigkeit der Annahme, Freiheit nehme auf Kosten der Einheit zu und vice versa, war für viele nachkriegsdeutsche Intellektuelle ein Grund dazu, sie als eine gesetzmäßige zu betrachten. Auf die Sicherheit, die sie während des Kalten Krieges gewährte, wollte man in der Regel auch um und nach 1990 nicht verzichten. Das einheitliche Deutschland schien daher nach der Vereinigung zwangsläufig defizitär, also unfrei zu sein. Fragen: 1) Wie verstehen Sie in diesem Kontext den Begriff „Einheit“? 2) Wie verstehen Sie den Begriff „Freiheit“? 3) Finden Sie im Text alle Ereignisse der deutschen Geschichte, die zur „Einheit“ Deutschlands führten. 4) Finden Sie alle Ereignisse, nach denen Deutschland „freiheitlich“ war. 5) Wie hat dieses Schema „Einheit oder Freiheit“ nach der Wiedervereinigung funktioniert?