Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte RechtsRggeschichte Rechtsgeschichte www.rg.mpg.de http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg4 Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 4 (2004) http://dx.doi.org/10.12946/rg04/165-186 Rg 42004 165 – 186 Otto Gerhard Oexle Was ist eine historische Quelle? Dieser Beitrag steht unter einer Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0 Abstract The question is discussed in the form of the history of a problem during the 19th century until today. Thereby it can be demonstrated that the different answers are substantially determined by epistemological attitudes in historiography. The antagonistic positions especially of Leopold von Ranke and of Johannes Gustav Droysen in the 19th century were not discussed in respect to their incompatibility. Instead Ranke’s position was generally successful – though it is not very convincing. Today the discussion is dominated by theories of »memory« which, besides a certain empirical approach to the historical materials, focus the subjective aspect of cognition as a condition of historical knowledge as such. □× Was ist eine historische Quelle?* Ziel meiner Überlegungen ist nicht, eine einfache Antwort auf die Frage, was eine historische Quelle sei, zu vermitteln. Vielmehr möchte ich diese Frage historisieren. Das heißt: Ich werde eine Reihe von Antworten auf diese Frage vorlegen, die in ihrer Gesamtheit eine Problemgeschichte der modernen Forschung dar- stellt. Zweitens möchte ich dabei zeigen, wie jede Antwort auf die Frage, was eine historische Quelle sei, zutiefst von der jeweils dahinter stehenden Epistemologie, von der dahinter stehenden Theorie der historischen Erkenntnis abhängt. Ich tue dies in fünf Schritten. Zuerst möchte ich in Kürze etwas sagen über die triviale, die selbstverständliche Auffassung vieler Historiker. Danach möchte ich vier Positionen eingehender erläutern, die – zumindest in Deutschland – für die Diskussion über das, was eine historische Quelle ist, eine Rolle spielten und spielen oder spielen sollten, und ich gehe in diesen vier Schritten von den Positionen eines Leopold von Ranke zu denen eines Johann Gustav Droysen und der Auseinandersetzung darüber und weiter zur Historischen Kulturwissenschaft um 1900 und zu Marc Bloch, um schließlich mit den aktuellen Debatten über ›Gedächtnisgeschichte‹ zu schließen. I Zunächst also, erstens, die Trivialauffassungen. Sie lassen sich in drei Grundannahmen wiedergeben, nämlich: Es gibt die Vergangenheit ›wirklich‹ und es gibt Tatsachen, Fakten der Vergangenheit, ganz unabhängig von der Erkenntnis des Historikers. Und: Der Historiker kann, wenn er nur mit »Quellen« arbeitet, herausfinden, was die Wahrheit der Vergangenheit ist, oder, mit der berühmten Formulierung Leopold von Rankes: Er kann herausfinden, »wie es eigentlich gewesen«. Das Mittel dazu sind eben die »Quellen«. Und was die Historiker von den Quellen für Vorstellungen haben, zeigt die gesamte Metaphorik, die sich hier immer wieder aufs Neue entfaltet. Die Metaphorik basiert vor allem auf der Vorstellung von der Quelle als Wasserquelle. Man spricht von klaren oder von trüben Quellen und vom Versiegen 165 Otto Gerhard Oexle Recherche der Quellen, man spricht davon, dass man die Quellen zum Sprechen bringen muss und dass der Historiker auf die Quellen lauschen soll, dass er ihnen gewissermaßen die Wahrheit ablauschen soll. Des weiteren ist vom »Vetorecht der Quellen« (Reinhart Koselleck) oder von den Quellen als »dem Lebensborn« des Historikers (Alexander Demandt) die Rede. »Wie bei natürlichen Wasserläufen«, so äußert ein jüngst (2002) in einem ›Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe‹ erschienener Artikel ›Quellen‹, »die Vorstellung und Begriff (sc. der ›Quelle‹) prägten, kommt es jedoch nicht auf ihre bloße Existenz an; sie gewinnen ihre Bedeutung erst durch das menschliche Zurückverfolgen zu deren Ursprüngen«. ›Quellen‹ führen demnach zu den »Ursprüngen«. Wohl noch immer allgemein bekannt ist Eduard Mörikes wunderbares Gedicht ›Um Mitternacht‹: »Gelassen stieg die Nacht ans Land / …«, so heißt es da, und weiter: »Und kecker rauschen die Quellen hervor, / Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr / Vom Tage, / Vom heute gewesenen Tage.« Mörike möge mir verzeihen, dass ich sein Gedicht zu didaktischen Zwecken missbrauche. Aber das Gedicht vermittelt einen pointierten Eindruck von der Suggestivität der Vorstellung von der Quelle, die dem, der ihr zuhört, etwas erzählt – und zwar vom Gewesenen erzählt. II Die verbreitete Vorstellung von der Vergangenheit als der Gesamtheit historischer Fakten und von den Quellen, die davon berichten, ja, die davon die Wahrheit berichten, wenn man denn nur richtig zuhört, hat sich – und damit komme ich zum zweiten Abschnitt meiner Überlegungen – in den unterschiedlichen nationalen Kontexten in unterschiedliche Epistemologien eingekleidet. So zum Beispiel in Großbritannien in die klassische britische Position des Empirismus. Unter vielen anderen Historikern vertritt sie heute in sehr dezidierter Version erneut Richard J. Evans in seinem Buch ›In Defence of History‹ (1997), das unter dem Titel ›Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis‹ 1998 in deutscher Übersetzung erschienen ist. »Historische Fakten sind Dinge, die in der Geschichte geschehen sind« – so Evans – »und die als solche anhand der überlieferten Spuren 166 Was ist eine historische Quelle? Rg4/2004 überprüft werden können«. Ob Historiker bisher den Akt der Überprüfung unternommen haben oder nicht, sei für die Faktizität selbst ohne Belang: die Fakten existieren – so sagt uns Evans – »vollkommen unabhängig von den Historikern«. Es gibt also »die Vergangenheit«. Und sie »ist wirklich geschehen«. Und deshalb können die Historiker tatsächlich, wenn sie »sehr gewissenhaft, vorsichtig und selbstkritisch sind, herausfinden, wie sie geschah …«. Denn »die Vergangenheit«, so Evans, könne dem Historiker »ihre Wirklichkeit durch ihre Überreste aufzwingen«. Die Vergangenheit könne dies angeblich, indem sie »ihre eigenen materiellen Überreste fortlaufend selbst produziert«. Und diese »realen, materiellen Spuren der Vergangenheit« sind nichts anderes als die »historischen Quellen«, die – so Evans – »tatsächlich ›für sich selbst‹« sprechen, die den Historiker an die Hand nehmen und ihm sogar »Zwänge« auferlegen, wodurch der Historiker eben schließlich die Geschichte »tatsächlich erkennen kann«. Genau das, was Richard Evans (wie auch andere britische Historiker) – philosophiegeschichtlich gesprochen – in der Tradition des Empirismus, also mit dem Tabula-rasa-Modell von der Tätigkeit des Verstandes aufgrund von Sinneseindrücken begründet, wird in Deutschland durch die Tradition Leopold von Rankes (1795–1886) ganz anders begründet, nämlich mit Metaphysik, – allerdings mit demselben Ergebnis. Hier geht es um Rankes berühmte Devise des »Sagen, wie es eigentlich gewesen« von 1824, oder, in Rankes Formulierung von 1831: es sei sein »Grundgedanke«, »die Fakten, wie sie sind, … zu erkennen, zu durchdringen und darzustellen«. Die »wahre Lehre« liege, so Ranke 1831, »in der Erkenntnis der Tatsachen«. Rankes Modell von Geschichtserkenntnis ist allerdings – um es noch einmal zu sagen – nicht empiristisch, es ist metaphysisch begründet. Denn die Gegenstände der Erkenntnis des Historikers sind nach Ranke die Ideen in der Geschichte, welche Ideen Gottes darstellen. Das ist natürlich nicht die Metaphysik eines scholastischen Theologen des 13. Jahrhunderts, es ist die Metaphysik eines gläubigen Protestanten des 19. Jahrhunderts. Der Historiker erkennt die Ideen in der Geschichte, zum Beispiel das Wirken der Staaten und Völker, weil er als geschaffener Geist an der Erkenntnis Gottes, des Schöpfers, partizipiert. Das »letzte Ziel« des Historikers sei deshalb, so Ranke in seiner Berliner Antrittsvorlesung von 1836, »den Kern und das tiefste Geheimnis der Begebenheiten in sich aufzunehmen«. 167 Otto Gerhard Oexle Recherche Die Aufgabe des Historikers sei – so Ranke 1836 – deshalb nichts anderes, als »mit Hilfe der Geschichte« zum »göttlichen Wissen« vorzudringen. Deshalb auch sein dringender Wunsch, wie er später, 1860, formulierte: »Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen.« Rankes Programm zieht freilich einen mehrfachen Reduktionismus nach sich. Zum einen wird die Darstellung auf Erzählung begrenzt. Zum Zweiten, und damit kommen wir zu den so genannten »Quellen«, wird die Grundlage der Rankeschen Erzählung, wie Ranke bereits 1824 in seinem ersten Werk, den ›Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535‹ angibt, reduziert auf: »Memoiren, Tagebücher, Briefe, Gesandtschaftsberichte und ursprüngliche Erzählungen der Augenzeugen«. Ein dritter Reduktionismus liegt darin, dass Ranke es als die wichtigste »Aufgabe der Historie« angesehen hat, »das Wesen des Staates« darzustellen, wie er in seiner Berliner Antrittsvorlesung von 1836 erläuterte. Rankes Grundlegung, seine spezifische Art und Begründung der historischen Erkenntnis war in Deutschland äußerst wirkungsvoll und ist es bis zum heutigen Tage geblieben. Sie steckt der Mehrzahl deutscher Historiker noch immer tief im Hinterkopf und in den Knochen. Das liegt zum einen daran, dass Rankes Konzept von der Erkenntnis der ›Geschichte‹ voll und ganz der natürlichen, der quasi selbstverständlichen Vorstellung entspricht, dass Wissenschaft die Wiedergabe einer an sich vorhandenen Wirklichkeit darstellt und dass historische Wissenschaft somit also die Wiedergabe einer an sich geschehenen faktischen Vergangenheit darstelle. Vor diesem Hintergrund rief denn auch 1998 der Mittelalterhistoriker Werner Paravicini in beschwörendem Ton zur »Rettung der Tatsachen« auf. Die Tatsache und nichts anderes sei doch der »Pfeiler, das Grundelement aller Geschichte als Wissenschaft«. Aber eben die Tatsachen seien heute wie in einem »Säurebad« aufgelöst worden; die Geschichtswissenschaft sei heute in der Gefahr, den »Schlingpflanzen der theoretischen Verunsicherung zu erliegen«. Nun aber sei es an der Zeit, die Geschichtswissenschaft zu »retten« – und zwar durch die »Rettung der Tatsachen«. Vor allem müssten die »Primärtatsachen … wieder in ihre Würde eingesetzt werden«. Paravicini ist zuversichtlich: »Die Tatsache wird gerettet werden, weil sie gerettet werden muß«, so sagt er. 168 Was ist eine historische Quelle? Rg4/2004 Und indem man wieder die Tatsache entdecke, werde man auch die »Wahrheit« der historischen Erkenntnis wiederfinden. Zum Zweiten beruhte Rankes Suggestivität in seiner Lehre vom Staat als dem wichtigsten und wesentlichsten Gegenstand der Historiker. Daraus – und aus der späten Staatsgründung von 1870/71 – resultierte übrigens ein großer Teil der Staatsfixiertheit der deutschen Historiker bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hinein. Und schließlich beruht Rankes Suggestivität in seiner Verheißung von absoluter Objektivität, also von Wahrheit, – und wer könnte einer solchen Verheißung widerstehen. Das war immer sehr geschätzt. Und es wurde besonders dann geschätzt, wenn man »Katastrophen« und Zusammenbrüche erlebt hatte, wenn die Geschichtswissenschaft sich kompromittiert hatte und deshalb in der erneuten Verkündigung von Rankes Lehre von der Objektivität, von einer Erkenntnis »wie es eigentlich gewesen« einen Rettungsanker zu erkennen glaubte, – und immer auch die Grundlage eines wohltuenden Vergessens. Das war vor allem nach 1945 so. Und man konnte im Bereich der zu Ende gegangenen DDR seit 1989 Ähnliches beobachten. Ein Problem ist dabei freilich die metaphysische Begründung. Denn eigentlich lässt sich wissenschaftliche Erkenntnis schon seit dem Nominalismus des 14. und 15. Jahrhunderts und allerspätestens seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts nicht mehr auf Metaphysik gründen. Deshalb bedarf es dafür besonderer Anstrengungen. So unternahm denn anlässlich des Ranke-Jubiläums von 1986 der Neuzeithistoriker Thomas Nipperdey den Versuch des Nachweises, dass Rankes Theorie der historischen Erkenntnis »wie es eigentlich gewesen« auch ohne religiöse Begründung eine »starke Theorie« sei. Diesen Nachweis ist Nipperdey allerdings schuldig geblieben, und er musste ihn schuldig bleiben. Denn wie könnte Wesenserkenntnis jemals ohne Metaphysik begründet werden? Zuweilen wird deshalb sogar ein drohender Ton angestimmt. Im Ranke-Gedenkjahr 1995 veröffentlichte der Althistoriker Alexander Demandt ein Plädoyer für Rankes ›Wissenschaftsverständnis‹ und sein ›Objektivitätsideal‹ und eine scharfe Kritik an jeglicher »Ranke-Schelte«. Demandt schloss sein Plädoyer mit dem Hinweis, dass kein anderer als Adolf Hitler es gewesen sei, der die »definitive Absage an die historische Objektivität« im Sinne Rankes formuliert habe. Wer Ranke kritisiere, der müsse sich deshalb – so Demandt wörtlich – dieses »wissenschaftsgeschichtlichen 169 Otto Gerhard Oexle Recherche Vorläufers« bewusst sein. Sei man das, so gewinne Rankes »Suche nach Objektivität eine postmoderne Legitimität, ja Plausibilität«. Dies sei, so abermals Demandt, »der nachgeholte Vorsprung der Rückständigkeit«. Nur mit Mühe versage ich mir dazu einen ironischen Kommentar. III Ich habe Rankes Theorie der historischen Erkenntnis deshalb so ausführlich zitiert, weil ihre Wirkungen die Diskussion der deutschen Historiker auch über die Frage, was eine historische Quelle ist, tiefgehend geprägt haben. Dies wird im Folgenden noch zu zeigen sein. Zuvor aber möchte ich im dritten Abschnitt meiner Überlegungen eine andere Welt betreten und auf eine andere Theorie der historischen Erkenntnis hinweisen, die von einem Antipoden Rankes formuliert wurde. Es ist dies der Althistoriker Johann Gustav Droysen (1808–1884). Droysen begann 1857 als erster mit der Konzipierung einer ›Historik‹, also einer systematischen Theorie der historischen Erkenntnis. Sie steht in einem polaren Gegensatz zu Rankes Metaphysik. Denn Droysen war nicht Metaphysiker, er war Kantianer. Es ist gleich vorweg darauf hinzuweisen, dass der erste Druck von Droysens ›Historik‹ erst 1937 erfolgte, die erste kritische Ausgabe sogar erst 1977 vorgelegt wurde. Man sieht daran, dass in der Rezeption Droysens in Deutschland etwas schiefgegangen ist. Und in der Tat: Droysens Versuch einer Historik auf der Grundlage des kantischen Kritizismus wurde in Deutschland schon zu Droysens Lebzeiten sowohl von seinen Studenten als auch von seinen Fachkollegen als ein überflüssiges Unternehmen beurteilt. Wozu das alles?, so fragten sie. Denn eigentlich ist doch völlig klar, wie die historische Erkenntnis als Wiedergabe der Vergangenheit mit Hilfe von Quellen funktioniert. Wenn man über Droysens Historik spricht, und sie ist für unser Thema von zentraler Bedeutung, dann muss man sich dabei also darüber im Klaren sein, dass es sie nur in Form von Vorlesungen an der Berliner Universität gab und dass sie darüber hinaus keinerlei Wirkung haben konnte, obwohl es sich dabei nicht nur um die erste, sondern auch um die bedeutendste Theorie der historischen Erkenntnis bis zum Beginn, ja vielleicht bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts handelt, nämlich bis zu Max Webers Abhandlung über ›Die »Objektivität« 170 Was ist eine historische Quelle? Rg4/2004 sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis‹ von 1904 und bis zu Marc Blochs ›Apologie pour l’histoire‹ vom Beginn der 1940er Jahre. Worum ging es in Droysens ›Historik‹? Erstens ging es Droysen darum, zu zeigen, dass historische Erkenntnis nicht eine Abbildung von Vergangenheit oder von vergangenen Tatsachen ist, weil sie dies nicht sein kann. Denn die Vergangenheit ist vergangen. Was Historiker erkennen, ist nicht – so hat es Droysen formuliert – die vergangene Gegenwart oder besser: die Vielheit vergangener Gegenwarten, es ist gewissermaßen ›nur‹ die jeweils gegenwärtige Vergangenheit, oder besser: die jeweils gegenwärtigen Vergangenheiten. Wir finden in dieser Unterscheidung Kants fundamentale Unterscheidung von Ding an sich und Phänomen wieder. Zweitens: Mit dieser Absage an historische Erkenntnis als Wesenserkenntnis ist eine Neudefinition von Geschichte als Wissenschaft verbunden. Droysen zeigt in seiner ›Historik‹, dass die Wissenschaft der Geschichte eine empirische Wissenschaft ist, nämlich »das Ergebnis empirischen Wahrnehmens, Erfahrens und Forschens«. Gegenstand dieses Forschens – und es war übrigens Droysen, der als erster die historische Erkenntnis als ›Forschung‹ definiert hat – ist aber nicht die Vergangenheit oder die Geschichte, sondern ist das, was Droysen das historische Material nennt. Die historische Wissenschaft wird als empirische Wissenschaft definiert, aber nicht im Sinne von Rankes Metaphysik und »Geschichtsreligion« (W. Hardtwig) und nicht im Sinne des britischen Empirismus, sondern im Sinne des kantischen Kritizismus. Das heißt auch: Historische Erkenntnis kann niemals absolut objektive oder gar wahre Erkenntnis sein. Die Erkenntnis ist immer ein Produkt des erkennenden Geistes, freilich kein willkürliches, sondern ein empirisch gestütztes. Mit den Worten Droysens: »Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.« ›Geschichte‹ ist also nicht eine Abbildung der Vergangenheit, sondern ist immer ›erkannte Geschichte‹, ist eine – allerdings stets empirisch fundierte – Hervorbringung des erkennenden Geistes. Droysen hat versucht, den epistemologischen Status dieses Produkts der Erkenntnis mit dem Begriff der 171 Otto Gerhard Oexle Recherche ›Repräsentation‹ anzudeuten, den auch die neurologische Hirnforschung von heute in eben dieser Absicht verwendet. Diese Umstellung der Begründung von historischer Erkenntnis von Metaphysik auf Kritizismus bedeutet auch eine Veränderung des Status der sogenannten ›Quellen‹. Droysen spricht nämlich nicht von ›Quellen‹, er spricht vom »historischen Material«. Der Ausgangspunkt des Forschens ist – so erläutert Droysen – nicht das Reden und Raunen der Quellen, sondern ist, wie Droysen ausdrücklich sagt, »die historische Frage«, die sich an historisches Material richtet, die mit historischem Material arbeitet. Und dieses Material ist einerseits, was aus jenen vergangenen Gegenwarten, von denen wir etwas erkennen wollen, noch unmittelbar vorhanden ist. Droysen nennt diesen Bereich des historischen Materials »Überreste«. Dazu gehören zum Beispiel Werke menschlicher Formgebung, Wege und Feldfluren, Sitten und Gebräuche, Gesetze, staatliche und kirchliche Ordnungen; dazu gehören Philosophien, Literaturen, Mythologien, Musik und auch die Geschichtswerke, insofern sie ein Produkt ihrer Zeit sind; dazu gehören Korrespondenzen, Rechnungen, Archivalien aller Art. Ein zweiter großer Bereich des historischen Materials sind Darstellungen der Vergangenheiten (im Plural!), »wie menschliches Verständnis sie aufgefaßt und sich geformt hat« und »zum Zwecke der Erinnerung überliefert«. Dazu gehören Sagen, historische Lieder, Gerichts- oder Parlamentsreden, sofern sie die Vergangenheit betreffen, publizistische Schriften usw., und dazu gehört natürlich die gesamte Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung. Diesen Bereich des historischen Materials bezeichnet Droysen mit dem Begriff »Quellen«. Schließlich definiert er noch eine dritte Gruppe, nämlich »Überreste, bei deren Hervorbringung … die Absicht der Erinnerung mitwirkte«; diese nennt er »Denkmäler«. Dazu zählt Droysen Urkunden und Inschriften, Medaillen, Münzen, Grenzsteine usw. Der »Wertunterschied« der drei Arten von historischem Material ergibt sich aus dem Zweck, zu dem sie dem Forscher dienen. Die »Quellen, auch die vorzüglichsten«, geben dem Forscher »sozusagen nur polarisiertes Licht«. Hier taucht bei Droysen die Metapher der Lichtquelle auf, allerdings mit der kritizistischen Einschränkung, dass das Licht der »Quelle« – eben wegen der Auffassung der Vergangenheiten zum Zwecke der Erinnerung – immer einseitig ist. »Völlig sicher, bis ins Kleine und Kleinste«, gehe 172 Was ist eine historische Quelle? Rg4/2004 der Forscher nur bei den »Überresten«. Aber auch hier gibt es eine kritizistische Einschränkung: Die Überreste sind eben nur »zufällige und zerstreute Fragmente«. Einem frühgeschichtlichen Grabfund liegt kein Zettel des Inhalts bei, wer der Tote war und was die ihm ins Grab gelegten Beigaben bedeuten. Mit diesem historischen Material mit seinen drei Untergruppen von »Überresten«, »Quellen« und »Denkmälern« hat die historische Erkenntnis zu arbeiten. Aber, wie Droysen immer wieder aufs Neue betont: Die Kritik des historischen Materials sucht nicht die »eigentliche historische Tatsache«, sie stellt vielmehr Fragen an das historische Material, zum Beispiel die Frage nach der Echtheit, die Frage nach dem Früher und Später. Und die »Quellenkritik« insbesondere versucht, die Färbungen, die Intonationen zu erfassen, sie versucht zu ermitteln, was eine »Quelle« aufgefasst hat und in welcher Weise sie es darstellt. Wenn also, wie Droysen feststellt, das Gegebene für die historische Forschung nicht »die Vergangenheiten« sind und sein können, wenn der Ausgangspunkt des Forschens vielmehr die historische Frage ist, die an das historische Material gestellt wird, dann rückt die Gegenwart des Forschers in einer bis dahin noch niemals reflektierten Weise in den Vordergrund des Interesses. Die Gegenwart des Historikers wird zu einem fundamentalen, zu einem konstitutiven Moment der Forschung selbst. Dem Wunsch Rankes nach dem »Auslöschen« des Ich, um die historischen Kräfte und Tatsachen als solche dann um so deutlicher erscheinen zu lassen, tritt Droysens Forderung entgegen, dass ein wesentlicher Teil des Forschungsprozesses gerade nicht das »Auslöschen« des Ich, sondern – im Gegenteil – die Reflexion des Ich als des erkennenden Subjekts über die Bedingungen seiner Erkenntnis sein muss. Mit den Worten Droysens: »Die historische Forschung setzt die Reflexion voraus, daß auch der Inhalt unseres Ich ein vermittelter, gewordener, ein historisches Resultat ist.« Die Objektivität historischer Forschung beruht demnach auf zwei Pfeilern. Zum einen auf der sorgfältigen Arbeit mit dem historischen Material, also auf der empirischen Basis. Zum anderen beruht sie auf der Reflexion des erkennenden Individuums über die Bedingungen, über die Tragweite und natürlich auch über die Grenzen seiner Fragestellung. Reflektierte Subjektivität wird – neben dem historischen Material – zu einem Instrument der Erkenntnis, insofern diese Reflexion über die Bedingungen der 173 Otto Gerhard Oexle Recherche Erkenntnis Aufschluss gibt. Ich werde auf diese Frage noch zu- rückkommen. Im Ganzen hat sich Droysens Historik, wie schon angedeutet, nicht durchgesetzt. Dies hatte Konsequenzen auch für seine Reflexion über historisches Material und dessen Bedeutung im Prozess der historischen Erkenntnis. Man kann in der Folgezeit – also seit dem Ende des 19. Jahrhunderts – mehrere Reduktionen gegenüber den Droysenschen Überlegungen feststellen. Man könnte auch sagen: Droysens Historik und seine Systematik des historischen Materials wurden im Sinne der Rankeaner und zum Teil auch im Sinne eines positivistischen geisteswissenschaftlichen Szientismus zurückgeschnitten, ja, ihrer eigentlichen Dimensionen beraubt. Der Historiker Ernst Bernheim zum Beispiel übernahm in seinem sehr erfolgreichen ›Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie‹ (1. Auflage 1889) zwar Droysens Unterscheidung von »Überresten« und »Quellen«, aber unter den Begriffen »Überreste« und »Tradition«. Der Begriff der »Quelle« war also wieder frei und konnte wieder anders verwendet werden, und Bernheim führte ihn prompt als Oberbegriff für beide Gruppen wieder ein. Den Begriff »Denkmäler« ließ er wegfallen. Das hat sich von da an in einer langen Kontinuitätslinie bis heute gehalten. Nach Bernheims Definition sind dann »Überreste« jene »Quellen«, welche »unmittelbar von den Begebenheiten übriggeblieben« seien; und »Tradition« halte das fest, was von den »Begebenheiten« »mittelbar« überliefert, nämlich durch »menschliche Auffassung« »hindurchgegangen« sei. Mit dem Verschwinden von Droysens Begriff des »historischen Materials« verschwand zugleich auch Droysens kritizistische Theorie der historischen Erkenntnis. Vor allem aber: Die Quellen-Metapher mit ihrer vermeintlichen »Aura des Ursprünglichen« (M. Zimmermann) war wiedergewonnen. Und nur allzu gerne ist man dabei geblieben. Dies führte in der Folge auch zu einer Vielzahl von Verwendungen des Quellen-Begriffs mit außerordentlich unterschiedlichen Inhalten. Auf Droysens Begriff der ›Quelle‹ bezogen sich in gewisser Weise, allerdings schon mit der Verengung auf Geschichtsschreibung, die Werke von Wilhelm Wattenbach (›Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts‹, 7. Aufl. 1904) und von Ottokar Lorenz (›Deutschlands Geschichts- 174 Was ist eine historische Quelle? Rg4/2004 quellen im Mittelalter seit der Mitte des 13. Jahrhunderts‹, 3. Aufl. 1886). Wattenbachs ›Geschichtsquellen‹ fanden in der Folge verschiedene Überarbeitungen und Fortsetzungen bis in die 1970er Jahre. Eigentümlich auch die Vermengung von ›Quellenkunde‹ mit ›Bücherkunde‹ oder Bibliographie, so im sogenannten ›DahlmannWaitz‹ (9. Aufl. 1931), der ›Quellenkunde der Deutschen Geschichte‹, die in Wahrheit eine Bibliographie zur deutschen Geschichte darstellt. Zuletzt erschien sie in 10. Auflage, in mehreren Bänden und von Hermann Heimpel im Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen noch einmal neu begründet, in den Jahren 1965–1999. Entgegengesetzt verfuhr der Mediävist Erich Keyser (1893– 1968) in seinem Buch ›Die Geschichtswissenschaft. Aufbau und Aufgabe‹ von 1931. Keyser war von der Bedeutung der »völkischen Idee« und des »Rassengedankens« fasziniert, die ihm – natürlich auch für die Geschichtswissenschaft – »zukunftsfrohe Ziele« zu versprechen schienen und jedenfalls eine bessere Erkenntnis der »Wurzeln unseres Volkstums«. Unter dieser Zielsetzung schlug Keyser eine »Zusammenordnung« des gesamten »historischen Materials« unter dem Begriff »Quellen« vor und propagierte eine »Gliederung der geschichtlichen Quellen« nach den Kategorien ›Natur‹ (Landschaft; Tierwelt; der menschliche Körper – u. a. »das Knochengerüst und seine Teile«, »die leibliche Gestalt«, »der seelische Ausdruck«); – ›Sachen‹ (gemeint sind hier die »Kulturdenkmäler« der Siedlungsgeschichte, der Wirtschaftsgeschichte, der Staatsgeschichte, der Kirchengeschichte und Geistesgeschichte); – ›Schriften‹; – ›Sprache und Musik‹ sowie ›Sitte und Brauch‹. Eine drastische Erweiterung des Quellenbegriffs finden wir dann in der Definition eines gewissen Wilhelm Bauer, der in seiner ›Einführung in das Studium der Geschichte‹ (1. Aufl. 1921) als »Quellen« »alles« definierte, »was uns zur geistigen Rekonstruktion geschichtlichen Lebens den Stoff liefert«; dies erfordere eine dezidierte Ausweitung des Quellen-Begriffs. Deshalb seien auch »Tatsachen« als »Geschichtsquellen im weiteren Sinne« zu definieren. Bauer teilte sie ein in: geographische Tatsachen, körperliche Tatsachen (z. B. Körperbau und physische Widerstandsfähigkeit), Tatsachen des praktischen Lebens (z. B. »Technik, Wirtschaftsform, Bestattungsform«), Tatsachen der Willenssphäre (z. B. die Religion) und Tatsachen der geistigen Fähigkeiten (Wissenschaft 175 Otto Gerhard Oexle Recherche und Kunst). Auf dieser Grundlage war schließlich, statt von »Tradition« und »Überresten« im Sinne Ernst Bernheims, nur noch von »Texten« und »Gegenständen« die Rede. Aus alledem ergab sich dann, zum Beispiel bei dem Neuzeithistoriker Paul Kirn (1890–1965) in seiner erstmals 1947 erschienenen ›Einführung in die Geschichtswissenschaft‹, folgende Definition: »Quellen nennen wir alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann.« Auch diese Definition wurde nun immer weitergereicht und zwar bis heute. Erst jüngst wurde der Definition Kirns erneut eine »allgemeine Gültigkeit« (K. Arnold) attestiert. Dabei hat man allerdings die Schwierigkeit, zu erklären, warum Tatsachen »Quellen« sind. Eigentlich kann man nur von unreflektierten rankeanischen Überzeugungen her Tatsachen als Quellen bezeichnen. Droysens Historik jedenfalls ist damit von den Füßen auf den Kopf gestellt. Die Tatsache, dass »historische Tatsachen« – zumindest in der Auffassung Droysens, und es lässt sich dagegen eigentlich nichts Rechtes einwenden – das Ergebnis von Forschung sind und nicht deren Ausgangspunkt, ist dabei bis auf den heutigen Tag offenbar unbegriffen geblieben. Ebenso unbegriffen blieb bis auf den heutigen Tag vielfach auch der Sachverhalt, dass die Definition von historischem Material sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in signifikanter Weise erneut verändert hat. Darauf ist nun im vierten Abschnitt meiner Überlegungen ein Blick zu werfen. IV Die neue Konstellation der historischen Erkenntnis war die einer Historischen Kulturwissenschaft. Sie wird mit den Namen von Georg Simmel, Max Weber, Ernst Cassirer und anderer evoziert. Die Gründe für die Entstehung einer solchen Historischen Kulturwissenschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts sind vielfältig. Ich nenne nur drei. Zum einen: die Entstehung einer neuen, nämlich einer beobachtenden, empirischen Naturwissenschaft seit dem Ende der 1830er Jahre, wie sie mit den Namen von Rudolf Virchow, Hermann von Helmholtz und Emil Du Bois-Reymond verbunden ist. Diese neue Naturwissenschaft ging davon aus, dass alle Kenntnis allein aus der empirischen Beobachtung stammt, und dass deshalb 176 Was ist eine historische Quelle? Rg4/2004 aller Fortschritt der Menschheit einzig und allein (so Rudolf Virchow) darauf beruhe, dass die »ewigen Gesetze« der Natur durch eine »immer fortgesetzte (empirische) Beobachtung« immer genauer ergründet würden. Deshalb stellte sie sofort die Frage nach der Tragfähigkeit und nach den Grenzen der historischen Erkenntnis. Was würden die Historiker darauf antworten? Das zweite Problem war die Erkenntnis der historischen Gewordenheit alles dessen, was ist, also das Problem des Historismus. Ranke und der herrschende Rankeanismus hatten auf diese Frage keine Antwort parat, ebensowenig wie auf die Frage der Naturwissenschaftler nach Tragweite und Grenzen der historischen Erkenntnis. Die Rankeaner haben sich beiden Fragen nie gestellt. Dazu kam ein drittes Problem: nämlich Friedrich Nietzsche und seine Attacke gegen wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt, sowohl gegen die naturwissenschaftliche, vor allem aber gegen die historische Erkenntnis im Sinne von Ranke. Ranke und die Rankeaner, so Nietzsche, behaupten eine historische Erkenntnis »Wie es eigentlich gewesen«. Dies sei aber völlig unbegründet und auch nicht begründbar. In Wahrheit seien die »Fakten« der Historiker, seien die Facta der Historiker nichts als Facta ficta, also Fiktionen. Aber während die Fiktionen der Naturwissenschaftler immerhin gefährlich seien, seien die Fiktionen der Historiker einfach nur dumm. Was würden die Historiker darauf antworten? Die Vertreter einer Historischen Kulturwissenschaft waren der Meinung, dass allein auf der Grundlage des kantischen Kritizismus eine Antwort auf alle diese Fragen und Herausforderungen gegeben werden könne. Dass dies bereits Droysen vor ihnen versucht hatte, war ihnen – aus den genannten Gründen – unbekannt geblieben. Zu den Innovationen der Historischen Kulturwissenschaft gehört zum einen ihre interdisziplinäre, ja transdisziplinäre Art der Fragestellung. Ist Max Weber Nationalökonom? Jurist? Althistoriker? Mittelalterhistoriker? Ist er Soziologe oder Philosoph? Diese Fragen können nicht beantwortet werden, weil Max Weber alles zugleich ist und seine Fragen dementsprechend ausgerichtet sind. Ähnliches ließe sich für Georg Simmel feststellen. Zum zweiten gehört zu den Kennzeichen einer Historischen Kulturwissenschaft ihre weitausgreifende diachronische Tiefendimension. Und drittens gehört dazu die transkulturelle Komparatistik. Max Weber beschäftigt sich mit islamischer, chinesischer, indi- 177 Otto Gerhard Oexle Recherche scher Kultur ebenso wie mit dem antiken Judentum. Und das okzidentale Mittelalter ist in seinen Überlegungen ohnedies immer präsent. Diese transdisziplinäre, diachronisch weit ausgreifende und komparatistische Perspektive hatte natürlich Konsequenzen auch für die Frage, was ›historische Quellen‹ sind. Die Vertreter einer Historischen Kulturwissenschaft haben diese Frage, soweit ich sehe, nicht explizit erörtert. Aber ihre Forschungen wurden von der deutschen Geschichtswissenschaft ohnedies nicht respektiert und schon gar nicht aufgenommen. Anders verhält es sich mit der ›neuen‹ französischen Geschichtswissenschaft, die mit dem Namen der 1929 gegründeten Zeitschrift ›Annales‹ verbunden ist, und insbesondere mit Namen und Werk des Mittelalterhistorikers Marc Bloch (1886–1944). Hier zeigen sich auffallende Übereinstimmungen mit der Historischen Kulturwissenschaft seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Worauf diese Übereinstimmungen gründen und wie sie zustandekamen, braucht hier nicht erörtert zu werden. Es ist ein Kennzeichen der ›Annales‹ und eine wesentliche Bedingung für den überwältigenden Erfolg der mit ihr verbundenen ›neuen Geschichtsforschung‹, der ›Nouvelle Histoire‹, dass sie auch die Frage der historischen Überlieferung, des historischen Materials neu erörtert hat. Ihre Antwort bestand (1) in der Aufhebung aller Hierarchien, wie sie zum Beispiel Ranke in seiner Bevorzugung der erzählenden Überlieferungen errichtet hatte. Sie bestand (2) in der Aufhebung aller Segmentierungen, wie sie zum Beispiel Droysens Unterscheidung von Quellen, Überresten und Denkmälern zugrundeliegt. Und sie bestand schließlich (3) in der Aufhebung aller fächerspezifischen Ein- und Ausgrenzungen der Definitionen dessen, was als historisches Material jeweils zu gelten hat und herangezogen werden kann. Alles, wirklich alles, kann historisches Material werden: Kirchenbücher, Lohnlisten, Testamente, Baurechnungen, geographische, linguistische, medizinische Materialien, die materialen Gegenstände der Archäologie, der Kunstgeschichte, der Musikwissenschaft. Marc Bloch zum Beispiel, als Offizier im Nachrichtendienst der französischen Armee im Ersten Weltkrieg geschult in dem Tätigkeitsfeld »Topographie, Beobachtung, Feindaufklärung« und befasst mit der Auswertung von Luftaufnahmen von Schlachtfeldern, hat aus dieser Tätigkeit die geschichtswissen- 178 Was ist eine historische Quelle? Rg4/2004 schaftlichen Konsequenzen gezogen. Er hat die Sichtbarmachung ›aus der Höhe‹ in die Praxis der Geschichtswissenschaft übertragen, die er sogar als eine »Beobachtungswissenschaft« (»science d’observation«) definierte. Bloch hat nach 1918 Luftaufnahmen von Dörfern, Feldern, Wegen als agrarhistorisches Material genutzt und schließlich anhand von Katastern und Parzellenplänen den agrargeschichtlichen Wandel bis ins Mittelalter zurück nachgezeichnet. »Die Anlage der Felder« – so schrieb Bloch einige Jahre nach seinem epochemachenden Werk ›Les caractères originaux de l’histoire rurale française‹ – »ist das Buch, in das die bäuerlichen Gesellschaften Zeile für Zeile die Wechselfälle ihrer Vergangenheit eingeschrieben haben«. Was so genannte »Quellen« sind, ist jetzt also gar nicht mehr definierbar. Historisches Material ist, was zur Beantwortung einer historischen Frage jeweils herangezogen werden kann. Die Frage entscheidet, was jeweils im umfassenden Sinn die Materialgrundlage zur Beantwortung dieser Frage sein kann und muss. Und deshalb bin ich ganz zuversichtlich, dass wir noch lange nicht am Ende der Material-Ressourcen historischer Erkenntnis angekommen sind – solange uns die Fragen und vor allem die guten Fragen nicht ausgehen. V Viel überraschender als diese Feststellung ist – wie mir scheint – nun die jüngste Wendung der Theorie der historischen Erkenntnis, die sich mehr und mehr der subjektiven Seite der Forschungsprozesse zugewandt hat. Damit bin ich beim fünften und letzten Abschnitt meiner Überlegungen angekommen. Ich erinnere noch einmal an Droysens Diktum von 1857: »Die historische Forschung setzt die Reflexion voraus, dass auch der Inhalt unseres Ich ein vermittelter, gewordener, ein historisches Resultat ist.« Auch diese Erkenntnis Droysens ist von der deutschen Geschichtswissenschaft lange Zeit vernachlässigt worden. Denn Droysens Erkenntnis war und ist eine ungeliebte Erkenntnis, weil sie eine in höchstem Maße unbequeme Erkenntnis ist. Von der Historischen Kulturwissenschaft, z. B. von Max Weber – man lese dazu dessen Objektivitäts-Abhandlung von 1904 –, ist diese unbequeme Erkenntnis allerdings außerordentlich stark akzentuiert worden. Aber auch hier hat die deutsche Geschichtswissenschaft 179 Otto Gerhard Oexle Recherche die Botschaft nicht vernehmen wollen und bis auf den heutigen Tag nicht. Gleichwohl sind in jüngster Zeit, seit der Mitte der 1990er Jahre, neue Ansätze aufgetaucht, die mehr und mehr gerade diesen Aspekt der historischen Erkenntnis in den Vordergrund stellen, die gewissermaßen die subjektive Seite der Erkenntnis nicht nur reflektieren, sondern geradezu zu einer Grundlage der Erkenntnis selbst werden lassen. Hier wird also die Geschichtsforschung als »Überrest« im Sinne Droysens zu einer »Form des historischen Materials«. Ich will das an vier Beispielen andeuten. (1) Der Ägyptologe Jan Assmann hat in mehreren seiner jüngeren Publikationen, zuletzt in seinem Buch ›Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur‹ (1997/98), die Ziele dessen erläutert, was er Gedächtnisgeschichte nennt. Er hat mit diesem Buch selbst ein Beispiel dafür gegeben. Im Unterschied zur Geschichte »im eigentlichen Sinne«, wie Assmann schreibt, gehe es bei ›Gedächtnisgeschichte‹ »nicht um die Vergangenheit als solche, sondern nur um die Vergangenheit, wie sie erinnert wird«. Gedächtnisgeschichte untersucht, so Assmann, »die Pfade der Überlieferung, die Netze der Intertextualität, die diachronen Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Lektüre der Vergangenheit«. Den Ertrag einer solchen ›Gedächtnisgeschichte‹ hat Assmann anhand der »Geschichte einer europäischen Erinnerung Ägyptens« eindrucksvoll dargestellt. Sie konzentriere sich »auf jene Aspekte der Bedeutung oder Relevanz, die das Produkt der Erinnerung im Sinne einer Bezugnahme auf die Vergangenheit sind und die nur im Licht späterer Rückgriffe und Lektüren hervortreten«. Gedächtnisgeschichte dieser Art ist also keineswegs identisch mit der sogenannten ›Rezeptionsgeschichte‹, die ja schon seit langem und vielfältig betrieben wird. Denn die Vergangenheit werde von der Gegenwart »nicht einfach ›rezipiert‹. Die Gegenwart (werde) von der Vergangenheit unter Umständen auch ›heimgesucht‹, und die Vergangenheit (werde) von der Gegenwart rekonstruiert, modelliert und unter Umständen auch erfunden«. Dem Mittelalterhistoriker liegt natürlich, vom Ansatz Assmanns ausgehend, die Frage einer Gedächtnisgeschichte des Mittelalters sehr viel näher. Damit haben die Mediävisten freilich noch kaum begonnen. Auch hier geht es nicht um Mittelalter-›Rezeption‹, wozu ja bereits Vieles gesagt worden ist. Es geht um sehr viel mehr. Es geht um die Konstituierung von ›Mittelalter‹ als Hervor- 180 Was ist eine historische Quelle? Rg4/2004 bringung der ›Moderne‹, es geht um das Verhältnis von Mittelalter und Moderne. Der Begriff des Mittelalters wurde ja erst am Beginn der Moderne, im 18. Jahrhundert konzipiert, in der Aufklärung nämlich. Zugleich entstand in der Aufklärung und als ihre Folge die moderne historische Wissenschaft. Die Frage nach der Begründung von Wissenschaft und nach der Möglichkeit der Erkenntnis einer historischen Wissenschaft und gar einer Vielheit historischer Wissenschaften, die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von ›Geschichte‹ und geschichtlicher Erkenntnis wurde damit zu einer zentralen Frage der Moderne – zugleich mit der Frage nach dem Verhältnis von Mittelalter und Moderne und all der Vielheit von Deutungsmustern, die in der Beantwortung dieser Frage entwickelt worden sind: – das Mittelalter als das in der Moderne ein für allemal glücklich Überwundene; – das Mittelalter als das in der Moderne unglücklicherweise Verlorene; – die Idee von der Wiederkehr des Mittelalters in einem neuen Mittelalter (seit Novalis und bis in unsere Tage propagiert); – die Konstituierung einer Moderne als Konsequenz des okzidentalen Mittelalters mit all ihren zentralen Fragen: nach dem Fortschritt, nach Individualität, Subjektivität und Selbst. Natürlich ist die Frage nach Mittelalter und Renaissance ein Teil dieser Problematik. Die Aufgabe einer Gedächtnisgeschichte des Mittelalters ist natürlich sehr viel schwieriger als die einer Gedächtnisgeschichte Ägyptens. Und zwar deshalb, weil sie nicht nur die Reflexion über das ›Andere‹, sondern auch die über das ›Eigene‹, weil sie die Selbstreflexion über das ›Eigene‹ enthalten muss, weil sie vor allem die Bedingungen der Möglichkeit der eigenen Gegenwart und der Reflexion darüber in noch viel umfassenderer Weise zu zeigen hätte. Die Anforderungen an ein solches Unternehmen sind denn auch entsprechend hoch. Ginge es doch (a) zum einen darum, die Vielheit der Bereiche von Wissenschaft und Lebenswelt oder, noch besser, der vielen Lebenswelten zu erfassen, die hier von Bedeutung sind: die Musik, die Literatur, Kunst, Architektur, Fotografie, der Film usw. Ich erinnere an die Musik eines Richard Wagner; an die großen Kathedralen-Projekte des 19. Jahrhunderts; an die Faszination der Kunsttheorie des frühen 20. Jahrhunderts durch die ›Gotik‹; an die lange Reihe der Mittelalterromane, von den Werken der Romantiker bis zu den Mittelalterromanen in der Krise der 181 Otto Gerhard Oexle Recherche Weimarer Republik 1929/30 und bis zu der fundamentalen Analyse des deutschen Mediävalismus in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹ von 1947 und weiter bis zu ›Il nome della rosa‹ von Umberto Eco (1981) oder zu ›Timeline‹ von Michael Crichton (1999). Ich erinnere an die Filme eines Fritz Lang, die – wie die ›Die Nibelungen‹ oder ›Metropolis‹ – gerade deshalb vom Mittelalter handeln, weil sie sich so intensiv mit der Moderne auseinandersetzen. Und was hat die – so kompromisslos modern erscheinende – Architektur eines Mies van der Rohe mit den Mittelalterreflexionen eines Romano Guardini im Berlin der 1920er Jahre zu tun? Sehr viel, lautet die Antwort. Und war es nicht ein Schriftsteller, nämlich Rudolf Borchardt (1877–1945), der 1928 das erste Programm einer integrierenden Mittelalterwissenschaft (einer, wie er sagte, »mittelalterlichen Altertumswissenschaft«) skizziert hat, – deshalb nämlich, weil Borchardt nicht nur die »Makroskopie« einer »neuen Wissenschaft«, sondern überhaupt eine »originale neue Gesamtsicht« des Mittelalters im Interesse der Modernität zum Zuge kommen lassen wollte. Es müssten (b) zum anderen bei einem solchen Unternehmen auch solche Wissenschaften einbezogen werden, die bei dem Thema von Mittelalter und Moderne freilich mit einem zumeist unreflektierten Imaginarium vom Mittelalter hantieren: die Theologien zum Beispiel, die Philosophie, die Soziologie, die Politologie, die Ökonomie, die Rechtswissenschaften. Und schließlich wäre (c) auf die Vielheit der nationalen Kulturen zu achten, seit deren Konstituierung im 18. und 19. Jahrhundert bis heute. Denn hier wird über das ›Mittelalter‹ in jeweils sehr verschiedener Weise geredet, sind die Fragestellungen jeweils anders angelegt. Man nehme das Beispiel des ›Feudalismus‹ und die Debatten darüber in England, in Frankreich, in Deutschland, die in ganz verschiedenen historischen Momenten konzipiert wurden und die deshalb auch auf die Mittelalterforschung in den drei Ländern sehr unterschiedlich gewirkt haben. Und was unterscheidet die deutschen Nazarener von den englischen Präraffaeliten in ihrer Reflexion über Mittelalter und Moderne und was verbindet beide? Wie ist das Bild der gotischen Kathedrale in der französischen Literatur der Moderne konstruiert, im Gegensatz zur deutschen, und wie stellt sich in den beiden Ländern die Verknüpfung von Kathedralenliteratur, Darstellung von mittelalterlichen Kathedralen in der Kunst und Kathedralenrestaurierung im 19. Jahrhundert 182 Was ist eine historische Quelle? Rg4/2004 dar? Und, ganz generell: Wie wird ein und derselbe mittelalterliche ›Gegenstand‹ in den historisch bedingten Wahrnehmungen des kulturellen Gedächtnisses verschiedener europäischer Länder in der Moderne aufgenommen? (2) Zweites Beispiel: die in den letzten Jahren, wiederum in sehr unterschiedlicher Weise, in den einzelnen Kulturwissenschaften einsetzende Reflexion über die Rolle der jeweiligen Kulturwissenschaften im Nationalsozialismus mitsamt der Kontinuitätslinie zurück, vor 1933, ins 19. Jahrhundert hinein, und auf unsere Zeit hin, also nach 1945. Als ein exemplarisches Beispiel solcher Reflexion nenne ich den von dem Musikwissenschaftler Anselm Gerhard herausgegebenen Band ›Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin? Die akademische Musikforschung zwischen Fortschrittsglauben und Modernitätsverweigerung‹ (2000). Hier werden schon im Untertitel des Bandes die entscheidenden Stichworte aufgerufen. (3) Ein drittes Beispiel, ganz anderer Art, hat das Jahr 2002 beigesteuert, und zwar aus dem Bereich der Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, nämlich die Frage nach der deutschen Atombombe während der Herrschaft der Nationalsozialisten im allgemeinen und im Blick auf die Begegnung von Niels Bohr und Werner Heisenberg in dem von den Deutschen besetzten Kopenhagen des September 1941 im besonderen. Lange Zeit hatte man, ganz im Sinne der Frage »wie es eigentlich gewesen«, allergrößte Hoffnungen auf die Veröffentlichung neuer »Quellen«, nämlich der sogenannten Bohr-Papiere gesetzt, die im Februar 2002 dann auch endlich erfolgt ist. Die sich daran anschließende Diskussion zeigte aber sehr rasch, dass die Frage nach dem »wie es eigentlich gewesen« auch jetzt überhaupt nicht beantwortet werden kann. Ja, mehr noch: Es zeigt sich etwas ganz anderes. Nämlich, dass diese neuen »Quellen« nicht nur die Frage nach dem »wie es eigentlich gewesen«, nämlich wie es 1941 in Kopenhagen ›gewesen‹, nicht beantworten können, sondern dass sie in eine Gedächtnisgeschichte gehören, in eine Vielzahl von Stellungnahmen, Büchern, wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Äußerungen hineingehören, und dass deren Kontext im Ganzen wissenschaftspolitischer und politischer Art ist, und zwar von 1945 bis auf den heutigen Tag. Die Aufgabe, die sich hier stellt, wird nun sehr kompliziert, für manche – und gerade für auf bloße Erkenntnis und Feststellung sogenannter ›Tatsachen‹ 183 Otto Gerhard Oexle Recherche ausgerichtete Wissenschaftshistoriker, von denen es viele gibt – geradezu unerträglich kompliziert. (4) Schließlich ein viertes und letztes Beispiel. Ich verdanke es dem im Sommer 2003 erschienenen Buch des jungen Leipziger Historikers Nicolas Berg mit dem Titel ›Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung‹. Das Buch zeigt nicht nur die politisch-historisch-kulturellen Bedingungen der Reflexionen prominenter deutscher Historiker nach 1945 über den Nationalsozialismus. Also: in Friedrich Meineckes ›Die deutsche Katastrophe‹, in dem Programm der Entnationalisierung des Nationalsozialismus bei Gerhard Ritter, in der Erfindung des Begriffs und Programms der ›Vergangenheitsbewältigung‹ durch den Göttinger Mediävisten Hermann Heimpel usw. Das Buch reflektiert auch über die Institutionalisierung der Erforschung des Nationalsozialismus im Institut für Zeitgeschichte in München und setzt dem (gerade anlässlich der 50-Jahrfeier der Gründung dieses Instituts jüngst, 1999, noch einmal kräftig akzentuierten) Selbstverständnis einer ›objektiven‹ Erforschung des Nationalsozialismus entgegen, in welcher Weise hier mit subjektiven Kriterien ziemlich beliebig und gänzlich unreflektiert argumentiert und geforscht wurde. Nämlich zum einen so, dass Direktoren und Mitarbeiter dieses Instituts in den 1950er und 1960er Jahren für sich selbst in Anspruch nahmen, dass über den Nationalsozialismus nur der forschen könne, der ihn am eigenen Leibe erfahren habe, dass es also unmöglich sei, die Technik totalitärer Macht historisch zu durchschauen, wenn man nicht selbst in einem totalitären Regime gelebt habe. Auf der anderen Seite aber hielt man einem Joseph Wulf, der in den 1960er Jahren mit seinen Arbeiten zum Beispiel über ›Presse und Funk im Dritten Reich‹, über ›Theater und Film im Dritten Reich‹, über ›Musik im Dritten Reich‹ usw. die Forschung über den Nationalsozialismus mit Entschlossenheit vorangetrieben hat, entgegen, dass einer, der – wie Wulf – in Auschwitz gewesen war und Auschwitz überlebt hatte, weder über Auschwitz im Besonderen noch über das Dritte Reich im Allgemeinen forschen könne, weil nämlich seine Objektivität eben dadurch in Frage gestellt sei. Das heißt: »Objektiv« könne – so war die Meinung – den Nationalsozialismus nur erforschen, wer ihn »erlebt« habe, – wer aber eines der nationalsozialistischen Vernichtungslager überlebt habe, könne über den Nationalsozialismus nicht wissenschaftlich arbei- 184 Was ist eine historische Quelle? Rg4/2004 ten, weil eben das, was er »erleben« musste, seine »Objektivität« in Frage stelle. Berg reflektiert in seinem Buch also über Subjektivität von Forschung in einer Weise, die Äußerungen der Subjektivität und damit der Bedingung von Forschung selbst zur »Quelle« werden lässt. Er tut dies freilich in einer intellektuellen Eindringlichkeit, die inzwischen außerordentlich heftige Gegenreaktionen entfesselt hat. Und das kann man ja auch gut verstehen. VI Was also ist eine »historische Quelle«? Ich habe versucht, dies im Zuge einer Problem-Geschichte anzudeuten – vor dem Hintergrund bestimmter, bis zum heutigen Tage immer gleicher Trivialauffassungen, und vom Beginn des 19. Jahrhunderts an bis zur Gegenwart: seit Rankes GeschichtsMetaphysik und seiner Bevorzugung erzählender Quellen für das »Sagen, wie es eigentlich gewesen«; über die Ent-Mystifizierung des Quellen-Begriffs in Droysens kritizistischer Theorie der historischen Erkenntnis, die mit »historischem Material« arbeitet und gerade deshalb eine empirische Wissenschaft ist; über die Universalisierung der Auffassung von historischem Material am Beginn des 20. Jahrhunderts im Zeichen einer Historischen Kulturwissenschaft; und bis zur Konstituierung historischer Forschung auch durch Analyse der subjektiven Bedingungen der Erkenntnis, also bis zur konsequenten Historisierung der historischen Erkenntnis selbst, die von Droysen schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts gefordert und begründet wurde, die aber auch heute noch immer keineswegs allgemein akzeptiert ist, im Gegenteil. Leider muss also festgestellt werden, dass diese Problem-Geschichte keineswegs als eine schlichte Fortschritts-Geschichte erzählt werden kann. Ich hoffe, dass ich deutlich machen konnte, warum das nicht möglich ist. Ich hoffe aber auch, dass ich deutlich machen konnte, was meine eigenen Optionen sind. Otto Gerhard Oexle 185 Otto Gerhard Oexle Recherche 186 Was ist eine historische Quelle? Rg4/2004 Literatur Klaus Arnold, Der wissenschaftliche Umgang mit den Quellen, in: Geschichte. Ein Grundkurs, hg. von Hans-Jürgen Goertz, Reinbek 1998, 42–58. –, Art. ›Quellen‹, in: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan, Stuttgart 2002, 251– 255. Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München, Wien 1998. Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003. Alexander Demandt, Ranke unter den Weltweisen, in: Vorträge anläßlich der 200. 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