Prager Zeitung 35/1999 KULTUR 13 Unser Genosse J. W. Goethe Von Tomas Kafka PZ - Die Gerechtigkeit existiert manchmal nur als Phantombild. Wie etwas, das es wert ist, daß man davon träumt, aber wirklich nur das. Für die verkannten Genies kommt sie in* der Regel zu spät, während sie im Falle grandioser. Schwächlinge allzugern lünler dein Mythos der Gottesmühlen samt ihrer sagenhaften Langsamkeit zurücktritt. Die einzige „Ausnahme" bilden daher Hundertschaften stinknormaler Sterblicher, die ihre Hoffnungen auf höhere Gewalt längst fahren gelassen haben und stattdessen mit dem Recht vorlieb nehmen. Dennoch passiert es ab und zu, daß auch Giganten die ersehnten Triumphe noch zu Lebzeiten zelebrieren und Schwächlinge ihre Schlappe bei vollem Bewußtstein erleiden. Und manchmal geschieht sogar beides zugleich, so daß dann die Betroffenen auf einmal wie Sterbliche mit zwei völlig unterschiedlichen Seelen - der geistreichen wie der feigen - in einer Brust erscheinen, und die den Klassikern sonst abspenstig gemachte Gerechtigkeit ihren rechtlichen Lauf plötzlich doch nehmen mag. Von der Sellenheil solcher Fälle zeugt allerdings die Tatsache, daß kein Geringerer als Johann Wolfgang Goethe als typischer Repräsentant dieser Spezies taugt. Nicht nur. weil Goethe der modernen deutschen Geschichtslehre mit allen hausgemachten Bauchschmerzen hinsichtlich ihrer Kontinuität den Gefallen tut. eine wahrhaft makellose Zcit- rechnung „vor Goethe" und „nach Goethe" einzuführen; viel eher, da sich mit zunehmender Distanz zu Goethes irdischer Existenz „einmal Goethe, immer Goethe" als goldene Regel zu behaupten scheint. Aber erfüllte dieser lebendige Klassiker wirklich alle Erwartungen, die seine Zeitgenossen mit seinem Namen innig verbanden? Wurde er tatsächlich zu jenem Herkules, „der sein Vaterland von großem Unrat zu befreien" hatte, wie der Publizist Ludwig Börne forderte? Weiß Gott nicht. Börne selbst löst dieses scheinbare Rätsel, indem er dem göttlichen Goethe vorhält: „Nie hat er ein armes Würt-chen für sein Volk gesprochen, er, der früher auf der Höhe seines Ruhmes unantastbar, später im hohen Alter unverletzlich, hätte sagen können, was kein anderer wagen durfte... Dir ward ein hoher Geist, hast du je die Niedrigkeil beschämt? -Der Himmel gab dir eine Feuerzunge, hast du je das Recht verteidigt? Du hattest ein gutes Schwert, aber du warst nur immer dein eigener Wächter!" Aber auch Börne sah schließlich ein, daß Goethe - vielleicht'dank und nicht trotz seiner Widersprüchlichkejt -ein bißchen Gerechtigkeit verdient, und er verzieh dem „Dichter der Glücklichen" und dem „Stabilitäts-narr" zumindest insofern, als er akzeptierte, daß „ohne dieses zu sein, hätte er (Goethe) jenes wohl nicht sein können." Das lebendigste Porträt des großen Johann Wolfgang altgriechischen Motive und die sich ins fortgeschrittene Alter ziehenden LiebesavcntUren. Alles Lug und Trug! Die reift in der Well - aber hauptsächlich in der deutschen Öffentlichkeit - erst im Jahre seines 250. Geburtstages heran. Was alles mußte über sein Leben geschrieben beziehungsweise gelesen werden, in welche Kontexte mußte seine vielfältige Persönlichkeit eingeflochten werden beziehungsweise eingedrungen sein, nur um ihn auch zu unserem (Zeit)geiwssen zu machen. Zu unserem Genossen Goethe! Alles nahm seinen Anfang im Jahre 1997, als ein britischer Germanist den verlogenen Meister seiner genauso eindeutigen wie auch geschickt verheimlichten Homosexualität überführte. Und wer weiß, vielleicht gingen seine erotischen Phantasien sogar soweit, daß man ihn stolz auch mit dem Thema Pädophilie verheiraten kann, von dem sich die Medien zur Zeil dankbar verhexen lassen. Wie auch immer, eines steht fest: Deswegen die tnvestigative Germanistik des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist ausgeschlafen genug, als daß ilir solche Ablenkungsmanöver etwas anhaben könnten. Aber auch die politischen Kommentatoren sind nicht zu kurz gekommen. Oder getreten? Dank ihres Eifers durfte man vor kurzem erfahren, daß der geheime Legations rat nicht nur einer leidenschaftlichen Sammelwut nachgab, sobald es um Informationen über seine Zeitgenossen ging, sondern auch ein unübertreffliches Vorbild des Ur-i.M. (urinoffiziel-len Mitarbeiters) abgab. Dementsprechend muß es wiederum als weiteres Beispiel der höheren Gerechtigkeit angesehen werden, daß seine „Enkel" aus den Reihen der ostdeutschen Stasi die Gebeine des unsterblichen J. W. aus völlig unerklärlichen Gründen vor einem guten Vierteljaluhunderi exhumierten. Den Höhepunkt an Revanche bereiteten dem leichtsinnigen Verführer jedoch die Verantwortlichen für den Film Die Braut, der das Leiden der Christiane Vulpius in ihrer Ehe mit Goethe in ziemlich schrillen Farben schildern will. Auch wenn dieser Film anläßlich des großen Goethe-Jubiläums gedreht wurde, mag das Geburtstagskind selbst in ihm gar nicht in Erscheinung treten! Aber vielleicht ging es in Wirklichkeit - Recht hin, Gerechtigkeit her - doch anders zu. Vielleicht mahlen alle Mühlen - egal ob Gottes oder unsere - etwas schief, und wir versuchen unserem Johann Wolfgang in einer unkonventionellen Weise Liebeserklärungen zu machen. Wir leben doch in einer Ära. in der „good news -no news" gilt und auf die neckische Frage des Hanser-Verlages „Wieviel Goethe braucht der Mensch?" spontan „nichts davon" ertönt. Und das alles freiwillig! Und Goethe? Vielleicht würde er in den tolpatschigen Annäherungsversuchen Anzeichen unsere Bemühtheit erkennen können, wie man der Einbalsamierung der Klassiker erfolgreich entgegen wirkt und uns verzeihen. Andernfalls macht es nichts. Es war doch Goethe, der empfahl, die Rezensenten totzuschlagen... um selbst Rezensionen zu schreiben. Leb wohl, unser aller J.W.! Der Autor ist Germanist, ZHtZeit einer der Geschäftsführer des Verwaltungsrats des deutsch-tschechischen Zukunftsfonds.