ERNST LOTHAR DIE RÜCKKEHR Roman Mit einem Nachwort von Doron Rabinovici Paul Zsolnay Verlag 1 Ein Vogel fliegt weg Felix zog den Regenmantel an. Als er vierzig Minuten vorher vom Grand-Central-Bahnhof in New York wegfuhr, war es heiß und feucht, aber wolkenlos sonnig gewesen. Bei der 125. Straße wurde der Himmel plötzlich grau. In Mt. Vernon war er schwarz. In Tuckahoe begann es zu regnen, und als er ausstieg, war es ein Wolkenbruch. Alles in vierzig Minuten. Er stellte den Kragen auf und ärgerte sich. Auch darin war Felix ein Wiener, dass Kleinigkeiten ihn plötzlich in Wut versetzten. Monatelang war er hin und her gefahren, ohne dass ein einziger Regentropfen fiel. Ausgerechnet heute, da er ein Kleid von Lanz in einer dünnen Pappendeckelschachtel in der Hand trug, musste es so schütten. Es würde total aufgeweicht sein, bevor er es Livia geben konnte. Er praktizierte die lange Schachtel über Brust und Magen und knöpfte den Regenmantel darüber zu. Zum Teufel mit den amerikanischen Quantitäten! Wenns heiß war, war es eine Hitzewelle, wenn's regnete, eine Sintflut. Alles im Extrem. In Salzburg regnete es im Sommer auch nicht wenig, aber mit einem Schirm und einem Regenmantel war man seines Lebens sicher. Es entging ihm, dass er keinen Schirm hatte, und seine Wut wuchs, als die Taxi-Chauffeure, die am Kopf der von der Station zur Straße führenden Treppe warteten, die Ankommenden, fünf zusammen, von denen keiner zum anderen gehörte, in die Cabs pferchten. Felix hasste es, wenn man über ihn verfügte, und er konnte es einfach nicht mehr hören, dass man alles, was geschah, mit »There is a war on, Mister« erklärte. Dass es Krieg gab, war ihm nicht entgangen. Er hatte diesen Krieg für unvermeidlich gehalten, seit der Sekunde, da Hitler in Wien eingezogen, die Familie von Geldern (Haupthaus in Wien, Filiale in Paris) an ihrem Leben bedroht und Wien zu einer obskuren deutschen Provinz geworden war. Er hatte es bei seiner Musterung in New York gesagt und 9 den Herren in Washington immer wieder geschrieben: There is a war on, Mister, und ich, Felix von Geldern, will mitmachen. Ich kann Ihnen von Nutzen sein, glauben Sie mir das! Aber man hatte ihm höflich geantwortet: »Danke, nein, Ihre Augen sind zu schlecht.« Er war kurzsichtig, aber um sich seiner Haut zu wehren, dazu sah er genug. Sei doch froh, hatte ihm die Familie (mit Ausnahme von Großmama Viktoria) gesagt, so hast du wenigstens Ruhe. Zum Teufel mit der Familie! Denen musste man tatsächlich erzählen, dass Krieg war. Die waren so felsenfest davon überzeugt, dass sie durch ihre mehr oder weniger erzwungene Auswanderung (Luxuskabinen auf der »Queen Mary« und der »Normandie«) unendlich gelitten hatten; dass sie in ihren Appartements im Hotel Plaza, in ihren Wohnungen, Ecke Fifth Avenue und 68. Straße, in ihren Sommerfrischen am Lake Placid, bei ihren Golf-Weekends im Westchester County Club als Dulder und Opfer auftraten. Als ihm die Familie einfiel, warf Felix mit einer ihn kennzeichnenden Gebärde heftig den Kopf zurück. Mit unbelehrbaren Menschen gab es keine Verständigung. Auch in seiner Erscheinung war Felix ein Wiener. Er war groß, hielt sich aber nicht stramm (»leger« nannte man es in Wien). Die Augen unter den horngefassten Brillen hatten trotz ihrer Kurzsichtigkeit etwas Anziehendes; ihre Bereitwilligkeit zog an und ihre jungenhafte Neugier. Felix war, wie seine Großmutter Viktoria, einer der neugierigsten Menschen auf der Welt. Dass er sein Haar länger als notwendig trug, wie ein Musiker, obwohl er Jurist war, und auf seine Anzüge und Krawatten mehr Sorgfalt verwendete, als er zugab, gehörte zu den wienerischen Widersprüchen seines Wesens: Er hasste Prätention oder, wie es in Wien hieß, Getue, aber er hatte eine ausgesprochene Schwäche, zu gefallen. Einer seiner bleibenden Kindheitseindrücke war ein zufällig aufgefangener Ausspruch seines Onkels Richard gewesen: »Der Felix ist der wenigst hübsche in unserer Familie.« Onkel Richard, der später gesagt hatte: »Amerika wird nie in den Krieg eintreten«, hatte sich auch damals geirrt. Sein Verdikt klang Felix trotzdem nach, bis zu diesem Augenblick im Wolkenbruch. »Nein, danke«, sagte er zu den Chauffeuren, obschon es purer Wahn- sinn war, zu Fuß zu gehen. Impulsen nachzugeben, war ein anderes seiner Merkmale; er tat Dinge, von denen er noch eine Sekunde zuvor nicht geglaubt hätte, dass er sie tun werde. Sie hätten wissen können, dass er sich die fünfunddreißig Cent für ein Taxi nicht einmal bei einem Wolkenbruch leistete; seit Jahren hatten sie ihn hier ein- und aussteigen gesehen, in der Früh, 7 Uhr 49 nach New York, abends, 6 Uhr 25 von New York. Er ging die Abkürzung unter dem Viadukt und entlang des Baches. Bei gutem Wetter legte er die wenigen Minuten von der Station zu seiner Wohnung mit zwei Männern und vier Mädchen zurück, die er nicht persönlich kannte. Sie waren wie er »Commuters«, das heißt, sie lebten in einem Vorort, arbeiteten in der Stadt und benutzten dieselben Züge. Vor Pearl Harbor waren es vier Männer gewesen, und zwei Mädchen weniger. Felix kannte ihre Namen nicht, aber die Farbe ihrer Anzüge. Bis Dezember waren die Anzüge lebhaft blau oder braun; später trugen die Männer helle Regenmäntel; die Zeitung »Sun« oder »World-Telegram« schaute ihnen aus der Rocktasche, sie waren ihm immer um einige Schritte voraus. Die Mädchen dagegen gingen hinter ihm. Sie kicherten die ganze Zeit. Wenn er über die kleine Holzbrücke nach rechts abbog, pflegte er sich umzuschauen und festzustellen, dass sie kleine, blaue, quadratische Schachteln trugen; sie hatten beim Bäcker Cushman-Torten für das Dinner gekauft. Es war ein so lächerlich maßloser Wolkenbruch, dass man in Pfützen watete, wo noch vor Augenblicken Straße gewesen war. Die lange Schachtel auf Felix' Magen wurde feucht. Dann geb ich's ihr eben erst morgen. Es muss erst trocknen, entschied er. Der Aufschub erleichterte ihn irgendwie. Er hätte ihr gern eine Freude gemacht. Deshalb war er, bevor er das Kleid gekauft hatte, wochenlang vor Schaufenstern in der Fifth Avenue gestanden. Aber seit er sich erinnerte, konnte er zu niemandem sagen: »Hier. Das hab ich dir geschenkt.« Er fand es anmaßend, dass man sich mit hundert österreichischen Schilling oder hundert Dollar, oder was es eben war, zu einem Mann machte, der sich Anspruch auf Dank erwarb. Außerdem würde er bestimmt nicht »Happy Birthday to you!« singen können, dazu war er zu gehemmt. Beneidenswert, dachte er und meinte die Leute, die sich einfach hinstellen und »Happy Birthday« singen konnten. Der Regen riss Löcher in den Boden. Die Eichen, deren Höhe riesig war, schüttelten ihre Kronen im Sturm. Im Westen blitzte es. Donner folgten wie Detonationen. Die Luft war vor Elektrizität kaum zu atmen. In Schweiß und Regen gebadet, trat Felix durch die Hintertür ins Haus. Livia schien ihn kommen gehört zu haben. Sie stand im Vorraum. »Hat es Sie erwischt, Herr von Geldern?«, fragte sie. Sie sagte nicht Mr. van Geldern, sondern Herr von Geldern zu ihm. »Guten Abend, Livia. Ich hätte ein Taxi nehmen sollen.« »Es sind ja nur ein paar Schritte.« Noch nie hatte sie etwas getadelt, was er tat oder sagte. Er fingerte an dem Regenmantel, den er wegen der Schachtel nicht ausziehen wollte. »Vielleicht behalten Sie ihn lieber an«, sagte Livia, »Hansl ist weg.« Sie sagte »Hansl«, mit dem österreichischen Diminutiv, und sie sagte es nicht einmal mit dem langen amerikanischen »a«. Hansl war ein Kanari, Großmama Viktorias Geschenk; sie behauptete steif und fest, er komme aus Österreich. Jedenfalls hatte der Vogel in Felix' Zimmer österreichisch getrillert. Es schien, dass Livia wusste, wie schlecht die Nachricht war. Sie wusste jedenfalls, was Felix freute oder verstimmte. Seit er bei ihrer Schwester Joyce als Mieter eingezogen war, hatte sie das zu ihrer Hauptaufgabe gemacht. Hatte jemand sie gefragt: »Was studieren Sie?«, sie hätte nicht länger beschämt sein müssen, dass ihre Schwester sie verhindert hatte, das College zu beenden, und dass sie jetzt in Altmans Kaufhaus in White Plains ihren Unterhalt als Verkäuferin verdienen musste. Sondern sie hätte geantwortet, ihr Hauptfach sei ihre Liebe zu Felix. Sie hatte Narben an Kinn und Hals, die man unter Puder fast nicht sah; als kleines Kind war sie in den Kamin gefallen, und Joyce hatte sich schon damals wenig aus ihr gemacht. Hätte sie rechtzeitig ärztliche Behandlung gehabt, die kleinen weißen Narben wären ihr erspart geblie- ben. Doch Joyce war damals zwölf, und sie war zwei. Und sogar wenn Joyce damals erwachsen gewesen wäre, hätte sie wie heute gefunden, es sei Verschwendung, den Arzt zu holen. Wenn es sein musste, kämpfte Joyce mit den Nägeln. Sie hatte es hart gehabt und sah nicht ein, warum andere es leicht haben sollten. In ihren Augen war Livia ein unreifes Geschöpf, außerdem dumm. Trotzdem würde Livia Felix heiraten und mit Joyce um ihn kämpfen. Auch Joyce wollte Felix heiraten; sie hatte das nie gesagt, aber Livia wusste genau, dass es so war. »Sind Sie böse?«, fragte sie ihn. »Ja.« Das bisschen Aufmerksamkeit, auf einen Vogel aufzupassen, hätte sie wirklich haben können. »Wieso ist das passiert?« Die Schachtel mit dem Kleid wurde ihm immer lästiger. Sie hatte, erzählte Livia, wie jeden Abend das Gläschen im Käfig mit Wasser gefüllt; ein Blitz hatte so nahe eingeschlagen, dass sie fürchtete, es sei im Garten; sie war hinausgelaufen, die Käfigtür blieb einen Augenblick offen. Als sie zurückkam, war Hansl nicht mehr da. »Aber der Blitz hat natürlich nicht im Garten eingeschlagen?« »Nein. Leider.« Darüber musste er wider Willen lachen. »Es war sehr dumm von mir«, sagte sie. Wenn jemand ein Verschulden zugab, war er sofort versöhnt. »Das hätte jedem passieren können, Livia.« »Ich hätte die Käfigtür schließen sollen. Oder das Fenster. Selbstverständlich.« »Unsinn. Selbstverständlich wird alles erst, wenn es vorbei ist.« »Sie sind wundervoll«, sagte sie. Sie verbesserte sich sofort. »Glauben Sie, wir bekommen ihn zurück?« »Nein.« »Wir können ihn rufen. Ich kann pfeifen wie er.« »Im Regen?« Er fügte hinzu: »Wenigstens hat er jetzt seine Freiheit.« »Er hat so viel ...« Sie vollendete nicht, was sie sagen wollte. Vielleicht hatte sie sagen wollen: »Er hat so viel gesungen.« Wer so viel sang, 12 13 konnte die Freiheit nicht entbehrt haben. »Geben Sie mir Ihren Mantel. Ich hänge ihn in die Küche zum Trocknen.« »Nein, danke«, sagte er schnell. »Ich gehe noch ein bisschen hinaus. Der Regen hat nachgelassen. Vielleicht höre ich ihn wirklich.« »Joyce ist zum Dinner eingeladen. Ich komme mit Ihnen.« »Mit Ihren bloßen Beinen!« Sie hatte ihre weißen Shorts an. Ihre Beine irritierten ihn. Nicht zum ersten Mal packte ihn das Verlangen, sie in seine Arme zu nehmen. »Es wäre hübsch, wenn Sie endlich wüssten, dass ich mir nichts verbieten lasse. Von Joyce nicht, von niemandem.« Auch sie gab dem Gewitter einen Augenblick nach. »Ich ziehe meinen Regenmantel an.« »Nein!«, sagte er heftig. »Sie können mir nicht verbieten, in unseren Garten zu gehen, Herr von Geldern.« Er überlegte, ob er ihr jetzt das Geschenk geben sollte. Es hätte ihm ähnlich gesehen, aus etwas, das er als Freude gedacht hatte, im letzten Moment eine Bagatelle zu machen. Dazu war er im Begriff, als er auf dem Tischchen, worauf die Post gelegt wurde, einen Brief sah. »Für Sie«, sagte sie. Ihr Ton war wieder beherrscht. Der Brief kam vom Naturalization Service und forderte Mr. Felix van Geldern auf, am 29. Juli 1944,8.30 a. m., Columbus Avenue 70, mit zwei Zeugen und seinen Papieren zu erscheinen und seine Bewerbung um die amerikanische Bürgerschaft vorzubringen. »Und das sagen Sie mir erst jetzt!«, rief er. »Livia, in ein paar Wochen bin ich Ihr fellow Citizen!« »Freuen Sie sich?« »Sehr.« »Sie freuen sich nicht.« »Seien Sie nicht dumm, Livia!« »Sie wollen doch zurück nach Wien.« »Woher wissen Sie das?« Sie hätte ihm antworten können: Ich denke viel über Sie nach, denn Sie sind anders als alle Menschen, die ich bisher kennengelernt habe, und ich mache jetzt eine entscheidende Probe. »Sie wollen nicht zurück?«, fragte sie, hielt den Atem an. »Nein.« Mit einem jähen Schritt kam sie näher zu ihm. Der Vorraum war von einer kleinen Stehlampe beleuchtet, die nur die Umrisse deutlich machte. »Sie freuen sich wirklich!«, sagte sie. »Gute Nacht.« Ohne sich umzusehen, lief sie hinauf in ihr Zimmer. Felix sperrte die Schachtel mit dem Kleid ein und trat vors Haus. Eine Wiese mit Eichen und Eschen fiel schräg davor gegen die Fahrstraße ab. Der Regen hatte so jäh aufgehört, wie er begonnen hatte, aber die Tropfen, die der Wind aus den Blättern schüttelte, klangen wie Regen. Die Blitze hatten sich verzogen, manchmal warfen sie fahlen Schein auf das nasse Grün und die Jasmingebüsche, welche die Wiese säumten. Die Luft war rein. Wenn man scharf hörte, konnte man die Geräusche der Nacht unterscheiden: die Enten im Teich drüben, die Spechte, die Rotkehlchen. Wie zu Hause. Hoffentlich hat er während des Regens in einem Baum Schutz gesucht, dachte er. Er hätte sich sehr gewünscht, ihn wiederzuhaben. Zu Hause hatte er fast immer einen Kanari gehabt - drüben heißt das. Zu Hause war drüben. »Hansl«, rief er. Er pfiff ihm auch. Die Enten lärmten. Ein Specht klopfte fleißig. Felix ging die schräge Wiese hinunter, von Baum zu Baum. Geduldig stand er unter jedem und schaute in die Kronen. Jenseits der Fahrstraße waren keine Bäume mehr. Der Wind ließ nach, das Tropfen von den Bäumen hörte auf. Hoch über den Baumkronen erschienen Sterne. »Ist er weg?«, rief jemand aus einem Fenster. »Ja«, sagte Felix. »Er hat eine schöne Nacht zum Nach-Hause-Flie-gen. Übrigens müssten Sie nicht so selig drüber sein! Entschuldigen Sie. Ich habe vergessen, dass Sie sich nichts sagen lassen.« »Glauben Sie, er fliegt nach Hause?«, fragte die Stimme. »Von Ihnen lasse ich mir alles sagen.« »Ich hoffe.« »Sie wollen doch zurück«, sagte die Stimme. 14 15