Milena Jesesnká „…sein Glück anderswo suchen?“ Die Angestellten der Auslandsvertretungen, die Angestellten der Passabteilung in Prag und die Angestellten des Immigration Office könnten heutzutage wohl einiges über die neue Emigrationswelle berichten. Vor den Konsulaten stehen die Leute schon ab Mitternacht, und die Mitarbeiter aller dieser Konsulate sinken vor Müdigkeit zusammen, denn sie müssen täglich Hunderte abweisen, bevor sie einen Menschen finden, der alle Zauber aufweist, die ein Emigrant in unseren Tagen braucht. Und dennoch geschehen Wunder: Menschen emigrieren. Mit einem Koffer und zehn Mark. Wohin? Sie zucken die Achseln. Was werden Sie da machen? Alles. Egal was. Wovon werden Sie leben? Vielleicht finden sich da gute Menschen, die über die ersten Wochen helfen, wir haben ja schließlich auch geholfen – und auf der Welt herrscht so eine ganz eigene Gerechtigkeit: Du hilfst einem Unbekannten, siehst ihn niemals mehr wieder, und nach drei Jahren vielleicht, wenn du hungrig auf der Straße stehst, hilft am anderen Ende der Welt irgendwer dir, denn die Vorsehung schickt ihren Lohn auf Umwegen. Meistens sind es Juden, die ausreisen. Verständlich, dass sie möglichst schnell fort wollen, und sie können sich und uns dadurch nur helfen. Sie haben neue Pläne für eine neue Zukunft, suchen all ihre Fähigkeiten zusammen für neue Beschäftigungen und neue Arbeit. In der Zimmerecke, vor den Fenstern, die auf die Prager Dächer schauen, in einer halbleeren Wohnung, in Gedanken teils schon auf der anderen Seite des großen Teichs oder des Kanals und teils zitternd beim Anblick der Dächer Prags, erzählen sie halblaut ihren Traum: irgendwo eine Hühnerfarm, ein Häuschen, ein Stück Garten. All diese Träume sind unklar, und keiner hat je eine Hühnerfarm auch nur gesehen. Und sprechen sie von der Hühnerfarm, so wollen sie sagen: ein Ort, wo die Sonne aufgeht, keine Autos fahren, kein Rundfunk etwas meldet, keine Flugzeuge dröhnen – ein Ort, zu dem möglichst keine Nachrichten dringen. Es gibt solche Orte noch auf der Welt, behaupten sie mit leuchtenden Augen und ihr ganzes Sein lechzt nach Ruhe und Frieden, wie Rekonvaleszenten nach den Strahlen der Sonne. _ _ _ Das kann man ihnen wohl kaum verübeln. Wahrscheinlich werden es nicht sehr viele sein, die weggehen. Zum einen ist es heute nicht einfach, ins Ausland zu fahren, zum anderen können die Menschen nur mit leeren Händen aufbrechen und dazu finden nicht viele den Mut. Die Mehrheit des tschechischen Volkes denkt nicht an Emigration, weil es Menschen sind, die hier ihre Arbeit und ihr Zuhause haben, ein Stück Land, sie haben hier ihre Pflichten, ihre Wurzeln, ihren Willen und ihre Sprache. Nicht jeder ist geschaffen für eine Verpflanzung. Nicht jeder ist geschaffen für die Emigration. Emigration – das heißt nicht nur Sorge, Not, ein neues und schweres Leben. Emigration ist auch ein seelischer Zustand. Ein seelischer Zustand, der darin besteht, dass man ständig zurückschaut. Wissen Sie, gesunde Menschen machen Pläne, denken stets nach vorn, überlegen, einen neuen Schrank anzuschaffen oder freuen sich darauf, dass sie im Sommer ans Meer fahren, dass sie im Frühling unter den Fenstern Krokusse setzen, dass sie die Kinder zum Studium schicken. Gebrochene Leute leben von der Erinnerung. Konzentrieren ihr Sein um etwas Gestorbenes. Ihre seelische Kraft liegt in der Liebe zu dem, was sie verlassen mussten. Ihre schöpferische Kraft erwächst nicht aus dem Lebendigen, sondern aus dem Respekt vor dem Unlebendigen. Die Tage und die Zeit laufen voran, aber ihre Gedanken sind an etwas festgeknetet, was sich nicht mehr weiterbewegt hat. Allein die Tatsache, dass sie leben, wird sie zwangsläufig immer weiter davon entfernen. In ihrem Innern erschaffen sie sich die Legende von der Heimat. Eine Legende der Vergangenheit. Früher oder später erliegen sie einer seltsamen Täuschung: sie sehen die Wirklichkeit nicht. Je größer die Liebe zu dem Verlorenen ist, umso zäher weigern sie sich, zur Kenntnis zu nehmen, dass ihre Heimat sich verändert hat. Die einfache Volksweisheit, dass „das Leben weitergeht“, ist ebenso unbarmherzig wie wahr. Wer sich dieser Gesetzlichkeit entziehen will, gleicht der Witwe, die den Rest ihres Lebens das kleine Grab gießt, in dem der liebe Verstorbene schon längs nicht mehr verwest. Die meisten Emigranten verfallen dem Blick zurück. Nur wenige haben die Kraft, sich dagegen zu wehren. Als sie weggingen, gehörten sie womöglich zur Elite einer hochentwickelten Nation, zu deren intellektuell repräsentativem Teil, zur tragenden geistigen Schicht. Doch wie durch geheimen Zauber beginnt diese geistige und seelische Reife nach wenigen Jahren zu verknöchern. Es fehlt an den Voraussetzungen für eine Weiterentwicklung und sie bleiben stehen, wie ein Uhrwerk, das niemand mehr aufzieht. Zu schöpferischer Arbeit treibt einen das Umfeld. Und wenig Menschen haben so viel seelische Festigkeit und Kraft, um ihre ureigensten Leistungen aus einem fremden Umfeld zu schöpfen. _ _ _ Ich bezweifle nicht, dass die Menschen, die ausreisen, für eine Arbeit an der geistigen Entwicklung der Nation meist verloren sind. Sie haben sich von dem großen Organismus losgerissen, beginnen irgendwo auf fremdem Boden ein privates Leben und können allein schon durch ihren Körper nicht mehr erklären, was die tschechische Sache sei. Und hätten sie einen noch so starken Willen, sie fallen vom Volk ab wie im Herbst die bunten Blätter vom Baum. Sie sind nicht etwa Abtrünnige. Doch Emigranten. Das heißt: Menschen, die unlebendig etwas Lebendiges lieben. Es zu lieben reicht aber nicht. Man muss ihm dienen, ihm helfen, es weiterentwickeln, wecken, hüten und dafür kämpfen. Sind wir so viele, dass wir emigrieren dürften? Können wir uns den Luxus eines stillen Privatlebens irgendwo weit hinter dem Ozean oder dem Kanal leisten? Können wir es uns leisten, unsere geistigen Ressourcen hier so auszudünnen? Das ist, worüber ich nachdenke, wenn ich mit den Leuten spreche, die sich aufmachen und das „Glück anderswo suchen.“ Die Deutschen wundern sich so sehr über uns und fragen so erstaunt: warum fürchtet ihre so sehr um eure Nationalität? Man hat euch doch gesagt, dass sie euch nicht genommen wird. Man hat euch doch versprochen, dass sie euch erhalten bleibt? Ihr habt doch ein Versprechen und ein Ehrenwort? Wozu die Befürchtungen? _ _ _ Dabei muss man sich klar machen, dass das kleine Stückchen tschechischen Landes heute übervölkerter ist als die deutschen Lande. Nicht nur übervölkert, von Menschen überflutet, die in den letzten Monaten existenziell betroffen waren. Ich weiß nicht – und denke, niemand weiß es – wie viel Arbeitslose uns aus der ehemaligen Armee erwarten, wie viele Staatsbedienstete entlassen werden, wie viele Tschechen aus der Slowakei zurückkommen. Ganz sicher wird ihre Zahl nicht gering sein. Diese Menschen werden natürlich einen Lebensunterhalt suchen. Und allein die Tatsache, dass kaum alle bei uns im Land etwas finden, verursacht eine Art Emigration. Jeder Tscheche, der emigriert, hinterlässt ein Stück freigewordenes Land. Jede verpflanzte Blume hinterlässt etwas Humus für eine neue. Werden wir emigrieren, dünnen wir aus. Werden wir ausdünnen, haben wir weniger Kraft. Und wenn wir weniger Kraft haben, sind wir als Nation weniger widerstandsfähig. Auf ausgewaschenem Boden wachsen mickrige Blumen. _ _ _ So, meine ich, müssen wir das betrachten. Wir sind eine Nation. Und müssen es bleiben. Jeder, der weggeht, nimmt ein Stück Scholle und etwas Wurzelwerk mit sich. Aber solange wir zusammenbleiben, wächst uns allein aus unserer Zahl Kraft zu – auch ein Bewusstsein von Nähe und Recht. Die Lücken zwischen uns müssen sich füllen – das ist ein physikalisches Gesetz: es gibt keinen luftleeren Raum. Du gehst weg – und an Deine Stelle setzt sich ein anderer. Also bleibe, halte stand und geh nicht. Wache über deinen Platz und verteidige ihn! Přítomnost, 12.4.1939