Alžběta Peštová: „Das Haus als ‚Zitadelle der Sitte‘? Familie in der deutsch-mährischen Literatur um 1900“ Protokoll von Agnes Hilger Alžběta Peštová behandelt in ihrem Vortrag Texte der deutsch-mährischen Literatur, die sich auf einen Verfall einer ‚traditionellen‘ Familie beziehen. Zu Beginn gibt sie einen kurzen soziologischen Abriss der Entwicklung der Familie. Von der mittelalterlichen Sippe habe sie sich über das frühneuzeitliche Haus mit Gesinde und die bürgerliche Kleinfamilie am Ende des 19. Jahrhunderts zu den heute offeneren Familienformen entwickelt. Anschließend stellt Peštová zwei im 19. Jahrhundert populäre Familienkonzepte vor, die sich in der realistischen und naturalistischen Literatur niedergeschlagen haben. Das erste dieser Konzepte entstammt Wilhelm Heinrich Riehls Schrift Die Familie. Ausgangspunkt sei dort die Revolution von 1848, die die Autorität des Staates zerstört habe. Die einzig verbleibende, bestehende und mögliche Autorität sei damit diejenige der Familie. In ihrer Ordnung trage die Familie dann wiederum zu einer (Neu-)Ordnung des Staates bei. Riehl kritisiert eine Auflösung der traditionellen Familie durch die modernen Arbeitsverhältnisse. Zentrale Begriffe sind dabei die „Entwurzelung“, „Entfremdung“ und „Anonymisierung“ der Familie. Dazu gehört auch Riehls Kritik an der ‚Familienlosigkeit‘ des vierten Standes, in dem uneheliche Beziehungen mit unehelichen Kindern keine Seltenhit waren. Erklärt wird diese ‚Familienlosigkeit‘ im vierten Stand mit dem Fehlen des Hauses, als Lebensmittelpunkt und Garant der Ordnung. Um der Ausbreitung solcher Zustände entgegenzuwirken, verlangt Riehl eine strenge Hierarchisierung, die bei der starken Autorität des Vaters beginnt, der sich die Frau unterzuordnen hat. Die Frau ist in Riehls Familienordnung für Erziehung und Haushaltspflege verantwortlich. Eine darüberhinausgehende Tätigkeit der Frau ist für Riehl „sittliche Fäulnis“. Die Familie wird zu einer pragmatisch geordneten Gemeinschaft, die mit militärischen Zügen zusammengehalten wird. Bei seinen Ausführungen betont Riehl eine hinter seinen Ideen stehende ‚Natürlichkeit‘ und macht laut Peštová seine Thesen damit unhinterfragbar. Populär wird sein Konzept unter anderem durch das beliebte illustrierte Familienblatt Die Gartenlaube. Dort übernimmt man das Bewusstsein einer ‚Familienkrise‘, die u. a. durch die beginnende Frauenemanzipation verursacht werde. In einzelnen Beispielen wird das Konzept Rhiels von einem strengen Vater und der häuslichen Mutter illustriert, bekommt aber einen emotionaleren Unterton. Das zweite Familienkonzept, das Peštová präsentiert, stammt aus dem etwas weniger populären Werk Das Mutterrecht von Johann Jakob Bachofen. Bachofen geht geschichtlich vor und beschreibt die matriarchalisch organisierten Familien in früheren Gesellschaften und ihre Entwicklung zum Patriarchat. Da die Wertung des Matriarchats teilweise positiv ausfällt, war das Werk lange umstritten. Tatsächlich aber ist es von dem Gedanken geprägt, dass nur durch das Patriarchat der gesellschaftliche Fortschritt möglich ist, erklärt Peštová. Der Gedanke wird untermauert von der Idee, dass das Muttertum körperlich, triebhaft, natürlich und ursprünglich sei, während das Vatertum als das Prinzip des Kulturellen, Zivilisierten und Geistigen erscheint. Die Gemeinsamkeit der Familienkonzepte bei Rhiel und Bachofen liegt, so Peštová in ihrer Motivation durch die Emanzipationsbewegung, bzw. die Frauenfrage. Die Frauenbewegung wird unterschieden in die bürgerliche und proletarische. Die bürgerliche Frauenbewegung hat ihren Anfang im Revolutionsjahr 1848. 1865 wird dann der „Allgemeine deutsche Frauenverein“ gegründet. Zentrale Forderung der bürgerlichen Frauenbewegung sind das Recht auf Bildung und Arbeit, z. B. in Form der Zulassung zu den Universitäten. Im 19. Jahrhundert gab es zwar wegen der Armut immer mehr Frauenarbeit, doch war sie immer noch verpönt. Entsprechend niederschmetternd war die Kritik an der Frauenbewegung in den Medien. Emanzipierte Frauen wurden dort als „Mannweib“ bezeichnet. Die proletarische Frauenbewegung unterscheidet sich davon grundlegend in der Forderung eines Rechtes auf Arbeit. Diese Bewegung entstand erst, als die Zahl der arbeitenden Frauen schon sehr hoch war. Diese Frauen unterlagen aber einer physischen Überlastung, sie hatten meistens keine Ausbildung und wurden deshalb schlechter bezahlt als die Männer. Folglich forderten sie nicht das Recht auf Arbeit, sondern ein Recht auf Ausbildung und eine generelle Verbesserung der Arbeits- und Lohnbedingungen. Im Gegensatz zur bürgerlichen Frauenbewegung gibt es damit keinen Kampf der Geschlechter. Ziel ist es vielmehr, das Überleben aller Familienmitglieder sicherzustellen. Mit dem Fehlen des Geschlechterkampfes hat die proletarische Frauenbewegung weniger, bzw. ein anderes Konfliktpotential und ist weniger attraktiv für eine Literarisierung. Selbst im Naturalismus, der sich die Darstellung der desaströsen Verhältnisse in der Arbeiterschicht auf die Fahnen schreibt, werden meist bürgerliche Familienzustände beschrieben. Auch die neuere Literaturwissenschaft befasse sich, so Peštová, fast ausschließlich mit den prominenten naturalistischen Texten, die die proletarische Frauenbewegung nicht thematisieren. Im Fokus der moderneren Forschung stehe der Geschlechterdiskurs. In der mährisch-deutschen Literatur gebe es allerdings, trotz allgemeiner Leugnung eines österreichischen Naturalismus, Texte, die im Arbeitermilieu situiert sind. Dazu gehört Franz Schamanns Theaterstück Liebe, in dem die Situation einer mutterdominierten Familie fatale Folgen hat. Peštová zählt einige typisch naturalistische Themen auf, die sich dort finden: Alkoholismus, Gewalt, Prostitution, Arbeitermilieu und Armut. In der vaterlosen Familie bestätige sich auf ironische Weise Rhiels Familienbild. Gleichzeitig werde die Geschlechterordnung gewissermaßen umgedreht. Die weiblichen Familienmitglieder gehen außer Haus auf die Arbeit, während der Sohn Albert in seiner Schustertätigkeit ans Haus gebunden ist. Der zweite Text, der sich auf Rhiels Familienkonzept bezieht, ist Philipp Langmanns Korporal Stöhr. Die Konstellation sowie die Rolle der Mutter sind dort ähnlich. Wie in Hauptmanns Vor Sonnenaufgang kommt die Handlung durch eine Katalysatorfigur ins Rollen: Der Sohn Lukas kehrt nach dem Tod seines Vaters vom Militär zurück und findet eine sozial verlotterte Familie vor. Ursachen für die fatale Situation sind die Schwäche der Mutter, die nur an ihr eigenes Wohl denkt und damit nicht der Mutter bei Rhiel entspricht und der Tod des Familienvaters, der die Eigenschaften des propagierten, traditionellen moralischen Vaters innehatte und dem sein Sohn Lukas sehr ähnlichsieht. Lukas versucht nun, die Ordnung der Familie mit militärischer Strenge (wie bei Rhiel) herzustellen, scheitert aber. In Helene Hirschs Ein Auserwählter stehen die Figuren in einer Mutter-SohnKonstellation. Der Vater ist nur durch ein Bild im Haus präsent und steht für eine nicht mehr existente Ordnung. Eugen Schicks Feierabend handelt von einer Arbeiterin am Brünner Dom. Auf dem Heimweg von der Arbeit begegnet sie ihrem Mann, der ihr den Lohn entlockt, um sich zu betrinken. Er steht für eine Generation von Vätern, die, statt ihre Verantwortung wahrzunehmen, ihren Alkoholismus pflegen. Am Ende des Stücks bringt sich die Protagonistin um, indem sie sich bei der Arbeit von einer Leiter stürzt. Konstitutiv für alle vorgestellten Texte ist, so Peštová, das Ausscheiden der Vaterfigur wegen eines speziellen psychischen Zustandes oder dessen Abwesenheit. Im Vordergrund stehen damit die Mütter als Ernährer und Erzieher. Der Unterschied zur bürgerlichen Idee ist dabei aber, dass diese Rolle keine freiwillige Entscheidung und damit keine verwirklichte Emanzipation ist. Die Innovation oder Besonderheit der Texte sieht Peštová darin, dass sie sich diesem sozialen Problem stellen. In keinem der Texte findet sich eine funktionierende Vater- Mutter-Kind-Familie.