Die Kirchen spielen im Alltagtagsleben der Stadt keine herausragende Rolle, obwohl sie das Stadtbild beherrschen. Die überwiegende Mehrheit der Magdeburger ist konfessionslos. Die „Volksstimme", einzige Tageszeitung, wird von den meisten Magdeburgern gelesen. Lebensmittel sind „Waren des täglichen Bedarfs". Werbung ist aufgrund des Versorgungsgrades, der eher deckenden als Überflußcharakter hat, nicht nötig. Werbung gibt es überhaupt kaum, weder in den Medien noch im Stadtbild. Lediglich das Konterfei des Staatsratsvorsitzenden ist in fast allen öffentlichen Räumen, und dazu gehören auch die Restauranis und Cafes, zu sehen. Die Verdienstspanne zwischen den verschiedenen Berufsgruppen ist gering. „Die gezahlten Löhne und Gehälter sind nirgendwo eine exakte Quittung für die Leistung. Es gibt nur geringe Möglichkeifen, über Arbeitsleistung und -einkommen die eigene Lebensqualität selbst zu bestimmen. In der Konsumtion (Wohnung, Nahrung, Kleidung usw.) sind alle auf einen relativ einheitlichen Grundbedarf auf niedrigem Niveau hercbgedrückt. Hochwertige Konsumgüter sind für viele unerschwinglich oder werden zugeteilt. Dienstleistungen (Bildung, Information, Gesundheit, Sport, Erholung, Reisen, Unterhaltung, Kunst usw.) sind kaum käuflich zu erwerben. " M Arbeits- und Obdachlosigkeit sowie Analphabetentum gibt es für den Einzelnen wahrnehmbar nicht. Die Magdeburger sind eingebunden in eine gesellschaftliche Realität, die das Leben ihrer Mitglieder umfassend, „von der Wiege bis zur Bahre", plant und deren Organisationsformen.auf Einbindung ausgerichtet sind. Die gesetzten Rahmenbedingungen ermöglichen einerseits persönliche Entwicklung u. a. auf Grund eines hohen Maßes an sozialer Sicherheit, andererseits grenzen sie sie auf Grund vorgegebener politischer Ausrichtung ein. Persönliche und gesellschaftliche Unzufriedenheit sind mehr oder weniger stark ausgeprägt. Die Mehrheit hat sich arrangiert, eingerichtet, geht ihren Weg in dieser gesellschaftlichen Realität. u Mühlberg, Dietrich: Gedanken zur kulturellen Entwicklung der DDR-Gesellschaft, 1989, 5.i ] 124 Die Kultur und die Gesundheit der Stadt und ihrer Bewohner sind von diesen Strukturen, von diesen Lebensbedingungen geprägt, in ihnen wird in Magdeburg gelebt, d. h. geliebt und gelitten, gefeiert und gelacht, gearbeitet und gespielt, gegessen und gewohnt, getrauert und gefreut, verändert und stagniert, entwickelt und verdrängt, geduckt und durchgesetzt. Das ändert sich mit der Öffnung der Mauer 1989 und dem folgenden Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten. Der Euphorie folgt eine große Verunsicherung. Es wird nach wie vor in Magdeburg geliebt und gelitten, gefeiert und gelacht, gearbeitet und .... Es ändert sich lediglich das „Wie", es ändern sich die Verhältnisse, die Lebensbedingungen. Sie bringen eine Um-, eine Neubewertung der eigenen Person, der gesellschaftlichen Realität, der kulturellen und gesundheitlichen Gewinne und Verluste mit sich. Die alten Organisationsstrukturen, die Lebensbedingungen brechen weg bzw. werden abgeschafft und durch neue ersetzt. Hierbei wird nicht nach der Sinnhaftigkéit des Austauschs bzw. der Veränderung gefragt. Was sich im bundesdeutschen Alltag bewährt hat - leider auch vieles, was längst überholt ist - wird den Neuen Bundesländern übergestülpt. Das ist auch in Magdeburg so. Dazu bricht die Stadt auf zu einer neuen Identität, wird Landeshauptstadt. Plötzlich liegt Magdeburg nicht mehr in Grenznähe, sondern mitten in Deutschland. Die großen Kombinate werden stillgelegt bzw. aufgeteilt - irgendjemand erfindet, für diesen Prozeß den Begriff der „dynamischen Atomisierung". Arbeitslosigkeit beginnt die Stadt zu beherrschen. Vor allem Frauen sind davon betroffen und werden zunehmend aus ganzen Tätigkeitsgruppen verdrängt. Laut Statistik haben co 22 Prozent der erwerbsfähigen Erwachsenen in Magdeburg keine Arbeit mehr. Rechnet man die in Umschulung oder AB-Maßnahmen Befindlichen, die Vorruheständier und Frühverrenteten dazu, ist nur etwa jeder zweite noch fest eigebunden in den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß und damit in das pulsierende Leben der Stadt. Die andere Häifte findet sich im wahrsten Sinne des Wortes am (Stadt-) Rand wieder. 125