Wer krank ist, geht zum Arzt. Einen Facharzt sucht man nur mit Überweisung auf. Auch der Betriebsarzt und das Krankenhaus praktizieren ambulant. Die Impfpflicht wird als Selbstverständlichkeit akzeptiert, über Krankheiten euch im Betrieb gesprochen, die Diagnosen sind kein Geheimnis. Freizeit, das heißt für Magdeburger raus ins Grüne, Seen und Naturschutzgebiete rund um die Stadt erwandern, baden an einem der vielen Seen in den Naherholungsgebieten am Stadtrand, Dauercamping, Gartenarbeit auf der eigenen Datsche22, Pressefest, Tele-mannmusikfesttage, Theater- oder Kabarettbesuch. Für letzteren bestellt man die Karten Monate im voraus, ebenso wenn man Plätze im Restaurant benötigt. Ein weißes Hemd wird nur zu besonderen Anlässen angezogen. Die Versorgung fordert den Einfallsreichtum der Magdeburger: Obst und Gemüse werden im Garten angebaut und für den Winter eingemacht, Bananen kauft man am besten bei einem Ausflug nach Berlin, wenn es etwas Besonderes gibt, wird es gekauft, nicht wenn man es benötigt. Bücher, vor allem Bücher bestimmter Autoren -auch und gerade DDR-Autoren - sind Bückware". Im Urlaub fahren die Magdeburger raus aus der Stadt. Heißbegehrt ist ein FDGB-Urlaubsplatz an der Ostsee oder in Oberhof, vergeben durch den FDGB. Das sozialistische Ausland, die Tschechoslowakei, Polen, Bulgarien, Rumänien oder die Sowjetunion, besonders Ungarn sind beliebte Urlaubsziele. FKK24 und Zelten gehören nicht nur zum Urlaub, sondern auch zum normalen Sommerailtag. An den Seen in der und um die Stadt werden Nacktbadestrände und Dauercampingplätze rege genutzt, Der Magdeburger lebt und nutzt die ihm gebotenen Möglichkeiten und Rahmenbedingungen. Das ändert sich nicht mit der Wende. Er paßt sein Verhalten lediglich den veränderten Möglichkeiten und 32 eingedeutschter Begriff aus dem Russischen für Wochenendgrundstück oder Schrebergarten 23 DDR-Begriff für Produkte, die es auf Grund des Mangels nur unter dem Ladentisch durch Beziehungen bzw. Schmiergeld gab 24 Freikörperkultur 130 & Bedingungen an: Arbeit, plötzlich Mangelware, ist heiß begehrt; die meisten Frauen wollen berufstätig sein und nicht zurück an den Herd, das eigene Ausbiidungsprofil wird hinterfragt, Bewerbungen schreiben, Werbung für sich selbst machen, das ist ungewohnt und man ist ungeübt. Plötzlich konkurriert man mit dem Nachbarn, dem Freund, dem Bruder - jeder mit jedem. Etiiche Magdeburger zieht es zur besser bezahlten Arbeit 100 km weiter gen Westen. Nun bringt das Auto die Magdeburger ins Unternehmen. Flexiblere Arbeitszeiten werden gern genutzt. Nicht sprachlos, aber machtlos sieht man zu, wie die großen Schwermaschinenbaubetriebe aufgelöst, zerstückelt, privatisiert werden. Gesellschaftliche Tätigkeit und Betrieb sind nicht mehr miteinander verbunden, dafür arbeitet der einzelne oft weit über seine Leistungsgrenze hinaus. Und mit dem Feierabend hört die „Arbeit" nicht auf. Der Magdeburger lernt, die Steuererklärung auszufüllen, eine Krankenkasse auszuwählen, sich mit dem Vermieter auseinanderzusetzen, Bewerbungen für sich oder die Kinder zu schreiben, Preise in den verschiedensten Geschäften zu vergleichen, sich über Schulformen und Entwicklungsmöglichkeiten zu informieren, einen neuen Beruf oder bestimmte Zusatzqualifikationen zu erwerben, Versicherungsvertretern zu begegnen und und und. Da bleibt wenig Zeit für die Familie, noch weniger für Kinder. So werden auch immer weniger geboren. Wenn überhaupt, gebären Frauen später. Die Ausbildung ist plötzlich, wie das Geld, nur noch die Hälfte wert. Manchmal nicht mal die. Man lernt sich zu verkaufen, Werbung für die eigene Person, das eigene Können zu machen, den schönen Schein zu wahren, die Fassade zu tünchen. Der Magdeburger paßt sich an und setzt sich auseinander, da, wo er meint, daß es für ihn Sinn macht. Und das ist so verschieden wie die Menschen selbst. 60 Prozent aller Magdeburger Eitern melden ihre Kinder in Gymnasien an. Kein Lehrerkollektiv bleibt wie es war, an jeder Schule lehrt ein neues Team. Direktor kann fast jeder werden, der es nicht vorher schon war. Die Gunst der Stunde nutzt auch mancher weniger Talentierte. Kinderkrippen und -gärten benennt man in KITAS um, die Karl-Marx-Straße wird per Stadtratsbeschiuß wieder in den 131