Breiten Weg verwandelt, die Wilhelm-Pieck- in die Ernst-Reuter-Allee. Jeden Tag verändern Bauarbeiter das Gesicht der Stadt. Ein Vierteljahr nicht in einem Stadtteil gewesen zu sein kann heißen, ihn nicht wiederzuerkennen. Freude und Fremdheitsgefühle kommen auf. Haben Magdeburger zunächst noch um den umfangreichen Baumbestand und die vielen Grünflächen in der Stadt gerungen, wird heute kaum noch wahrgenommen, wenn ein Baum fällt. Das Fahren in der Stadt (außer bei Umleitung wegen Bauarbeiten) ist angenehm, kaum noch Schlaglöcher; ausgebaute Straßen, Unter- und Überführungen garantieren freie Fahrt. Dafür verschwindet manches alte Kopfsteinpfiaster. Die Vielfalt der Krankenkassen wird zunächst nicht wahrgenommen. An die Chipkarte nach dem Überweisungsschein gewöhnt man sich schnell, auch daran, daß man über Krankheit besser nicht spricht. Das Anspruchsdenken nimmt zu - auch mit steigenden Zu-zahlungen. Außerdem entrichten Magedburger wie alle Bundesbürger ihren Solidaritätszuschlag. Ganze Wohnungen werden neu möbliert, umfangreiche Technik wird in Magdeburger Haushalten angeschafft. Dachböden und Keller werden entsorgt. Unbekannte Früchte und Gemüse ebenso wie Videos, Beate-Uhse-Artikel und Klamotten ausprobiert. Bücher werden zunächst weniger gelesen, Theater weniger besucht, Freunde manchmal ganz vergessen. Zunächst - das ändert sich mit der Gewöhnung an das Neue, mit dem Vergleichen von Vergangenheit und Gegenwdrt, mit der Herausbildung neuer bzw. dem Wiederentdecken alter Werte.. Die Auseinandersetzung vor allem der Medien mit der DDR, mit SED-Geschichte und Stasivergangenheit überschreitet irgendwann die Schmerzgrenze und führt zu Verdrängung und Abwehr. Der Magdeburger ist wie alle DDR-Bürger angekommen im bundesdeutschen Alltag. Für den braucht er nun seine ganze Kraft. 132 Verhältnisse und Verhalten So wie unser Verhalten bestimmt ist durch die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse, die Lebensbedingungen, verändern sich diese Verhältnisse durch unser Wirken, unser Verhalten zu ihnen, unsere Auseinandersetzung mit ihnen. 1989 läutet in Magdeburg eine andere Zeitrechnung ein. Der real existierende Sozialismus ist gescheitert. Die mit ihm entstandenen Strukturen und Verhältnisse - die sozialistischen Lebensbedingungen - brechen ebenso zusammen wie das ideelle Gefüge, das Werte und Normensystem - die Lebensweise. Dieser Zusammenbruch passiert nicht von heute auf morgen, nicht mit einer „sauberen" Bruchstelle, nicht in der einfachen Vorstellung, daß etwas durch etwas anderes (etwas Schlechtes durch etwas Gutes) ersetzt wird. Auch wenn 1990 formal die Einheit Deutschlands vollzogen ist, kann von einem einheitlichen Deutschland kaum die Rede sein. Die Verhältnisse in den neuen Bundesländern sind nach wie vor andere als in den alten. Dieses Anderssein manifestiert sich u. a. In höherer Arbeitslosigkeit, geringerem Verdienst, längeren Arbeitszeiten, Ausgrenzung bestimmter Personen, Nichtanerkennung von Berufsabschlüssen, Bevorzugung von Aitbundesdeutschen bei Stellenbesetzungen, bei der Vergabe von Krediten, beim Kauf von Grund und Boden und und und. Die Folgen dieser Tatsachen sind kaum kurz und knapp in ihrer Vielfalt zu beschreiben. Sie bringen Verhaltensweisen mit sich wie Unverständnis und Ablehnung, Angst und Ausgrenzung, Unsicherheit und Konkurrenzverhalfen, Wut und Gewalt. Die Bundesrepublik Deutschland bringt für die DDR-Bürger außerdem Verhältnisse, die sie als bereits der Vergangenheit zugehörig erlebt haben, z. B. den § 218, bzw. die Abschaffung der Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper; ungleiche Erbschaftsrechte nichtehelicher Kinder im Verhältnis zu ehelichen Kindern; das Trennungsjahr bei Scheidungen. Im Erleben vieler Menschen werden diese Einschränkungen als Repression, als Gängelung wahrgenommen. Unverständnis und Ablehnung sind auch hier die Folge. Außerdem ist das wechselseitige Wissen der Neu- und Alt-Bundesbürger über die DDR und über die alte BRD begrenzt, geprägt von 133