Die Begegnung Sie wartete auf mich bereits, als ich pünktlich um zehn Uhr vormitags vor sie trat, lachte mich streng an, mit dem unabdenkbaren qualmenden Stengel, der zum heiteren Himmel emporragte, ihr Make-up war ebenso blass wie immer zuvor und ihr braun gemalter Mund öffnete sich nur langsam, als ob sie Angst vor mir gehabt hätte. Ich sah sie an, und mein Blick erhielt mehr als nur ein wenig Nostalgie, denn schließlich waren wir acht Jahre lang fest zusammen verbunden, niemand konnte sich uns getrennt vorstellen können. Doch wie auch immer unsere Verbinbung stark gewesen ist, vor etwa fünf Monaten sind wir auseinander gegangen und erst heute kam es dazu, wozu es aber sowieso früher oder später kommen musste, nämlich zu unserer Begegnug, die wir beide gewiss gescheut hatten, aber gleichzeitig als unvermeidbar empfunden haben. Ich war noch nicht stark genug, sich von ihr zu lösen, und sie war noch nicht willig, mich losreißen zu lassen. Ich wollte etwas sagen, aber der Frosch in meinem Hals hat bestimmt eine genetische Mutation durchgemacht und hat sich plötzlich wenigstens dreimal vergrössert. Diese genetischen Experimente sollten umgehend strengstens verboten werden. Ich sagte also nichts, hing mit meinen Lippen an ihr, wartend, auf welche Weise das schwere Schweigen gebrochen wird. Doch die Zeit lief und meine Gedanken haben sich in die Vergangenheit begeben, als sie den ersten Satz ausgesprochen hat. „Wir haben uns lange nicht gesehen, Junge,“ sagte sie und ihre Stimme klang so bekannt, dass ich für eine Weile den Eindruck hatte, ich sei zurück in die Vergangenheit versetzt worden. „Da hast du Recht, Alte,“ nickte ich und war froh, dass der Kontakt zwischen uns aufgenommen wurde. „Was machst du denn so zurzeit und wo bist du jetzt?“ fragte sie. „Du brauchst dich nicht zu verstellen, du weißt genauso gut wie ich, dass ich seit September an der philosophischen Fakultät in Brünn studiere, ich hab´ es dir millionen Mal erzählt, dass dies mein Ziel ist, mein Wunsch, der sich erfüllt hat. Gib dich nicht jetzt für dumm aus, es ist dir nicht nötig.“ Vielleicht war das nur ein Schein, aber ich könnte fast schwören, dass sie für einen Augenblick gegrinst hat. „Genau, Junge. Wie ich immer gesagt habe, Schluss mit lustig, jetzt wird´s albern. Beschreib´ mir, wie du die Uni findest und ob du mich vermisst.“ Ich atmete tief durch. Auf solchen Neugier war ich nicht gewöhnt. Die ganzen acht Jahre unserer gegenseitigen Beziehung hat sie sich für mich keinerlei interessiert, un jetzt sollte es auf Anhieb anders sein? Trotzdem hat mir mein kathegorischer Imperativ befohlen, antworten zu versuchen. Eigentlich wäre es ganz einfach gewesen, sie mit ein paar klischeehaften Antworten zu befriediegen, dann Abschied nehmen und somit alle Fesseln, die mich zu ihr noch gebunden haben, letzendlich zu zerreißen. Aber zugleich erhob sich in mir eine Welle der wilden Sehnsucht, sich jemandem mit allen den Eindrücken anzuvertrauen, mit denen mein Kopf bereits so überfüllt war, dass es mkr schien, dass er im nächsten Moment entwei springen muss, es sei denn, ich finde einen Menschen, der mich verhört und wenigstens ein Stückchen Verständnis zeigen wird. Die Vernunft befahl mir, sich an den üblichen Äußerungen und Formulierungen zu halten, jedoch das Herz forderte seine Ergießung, und zwar so rasch wie möglich. Ich wusste, dass meine Gesprächspartnerin gar nichts für mich empfindet und dass alles, was ich ihr erzählen werde, auf taube Ohren stoßen wird, doch trotz allem konnte ich den Zwang des Herzens nicht ertragen. Ich entschied mich, ihr die Wahrheit zu erzählen, auch trotz der Risiko, dass ich nicht verstanden oder begriffen werde. Mein Hals war ganz trocken und es kratzte mich in ihm, als ich angefangen habe zu erzählen. „Wie du weißt,“ sagte ich heiser, „die Umgebung an der philosophischen Fakultät war für mich nicht unbekannt, nicht einmal anfangs des Studiums. Aber obwohl ich ganz viele Erfahrungen mit dem Leben an der Fakultät hatte, konnte ich beim Betreten des Gebäudes das unbequeme, ängstliche Gefühl nicht überwinden. Mein Gemüt erfüllten zwei U: Ungeduld und Unsicherheit. Ungeduld deswegen, weil ich mich schon auf das Studium gefreeut habe, ich habe in ihm eine Gelegenheit gesehen, sich durchzusetzen, beweisen, dass ich es drauf habe, an der Uni zu studieren, mindestens mir selbst, falls keinem anderen mehr. Der Grund meiner Unsicherheit war aber die Tatsache, dass ich nicht gewusst habe, OB ich es wirklich drauf habe, oder ob ich die Erwartungen vieler, auch deine, enntäuschen werde. Und dazu war es für mich, trotz allen vorigen Erfahrungen, eine ganz neue Welt, eine Welt, in die ich nicht gehört habe, in der ich keinen eigenen Platz hatte, eine Welt, die ihre eigene Existenz führt, in die ich plötzlich geriet und mit der ich mich schnellstmöglich bekannt machen musste und von der ich auch akzeptiert werden musste. Als wir noch zusammen waren, wusste ich, wo ich hingehöre, ich hatte meine Position erobert, ich war ein Teil von dir. Jetzt war die alte Gewissheit weg, ich stand wieder auf der Auftaktslinie und musste wieder den Kampf um die eigene Durchsetzung neu bestreiten, ohne Gewähr, dass es mir je gelingen wird. Ich könnte prahlen, es habe mir nicht so viel ausgemacht, aber das wär´ erstunken und erlogen. Nein, Bangigkeit und Engheit waren meine treue Begleiter in den ersten Tagen an der Universität. Erst nachdem ich festgestellt hatte, dass ich die Chance habe, sich in diesem Millieu zu integrieren, und dass diese Durchsetzung nur von mir und meinem Willen abhängt, sind sie gewissermaßen vrschwunden. Aber völlig weg sind sie noch lange nicht, aber ich kann mit ihnen bereits gut leben.“ Meine Hörerin nickte langsam mit ihrem Kopf, was zwar so viel wie gar nichts bedeutete, aber in dem Moment habe ich mir die winzige Bewegung als Äußerung des Verständnisses gesehen und war ihr dankbar, dass sie mich auf diese Weise zu stützen versucht. Doch als sie das Gespräch erneut aufgenommen hat, hab ich begriffen, wie ich mich mit der Erklärung der Geste geirrt habe. „Wunder, wunderschön. Du redest fast wie ein schwuler Poet. Aber sofern ich mich erinnern kann, hast du dich bei mir ständig anders verhalten, warst hartnäckig, ungeduldig, hast keine Regeln beachtet, du hast gemacht, was du wolltest,hast auf alle Hinweise und Vorschriften gepfiffen, hast mich gehänselt und sich so geäußert, als ob du keine Ehrfurcht vor den Autoritäten gehabt hättest. Und jetzt spielst du hier den anständigen, braven Studenten. Das soll ich dir glauben?“ Ihre Entsetzung hat mich amüsiert. Diese Seite ihrer Persönlichkeit habe ich nicht gekannt. Sie wirkte stets so kühl, gelassen, als ob sie nichts angegangen hätte. Erst jetzt, mit dem fünf Monate langen Abstand, war ich in der Lage, sie mit ganz anderen Augen zu sehen. Das, was ihr während unseres Zusammenlebens meiner damaligen Ansicht nah mangelte, nämlich Gefühle, waren nur ganz geschickt verborgen hinter der Maske, die sie nach Außen trug. Und vielleicht aus dem Grund, dass ich festgestellt habe, dass meine Schilderung von ihrer Seite mit bestimmten Empfindungen empfängt wird, entschloss ich mich, weiter zu erzählen. Bevor ich es aber geschafft habe, den Mund zu öffnen, kam weitere Frage seits meiner Gesellschafterin. „Ist es nur Schein, oder hat dich bereits die an der Uni verbrachte Zeit dermaßen verändert, dass du sogar deine Äußerungsweise völlig geändert hast?“ Diese Bemerkung hat mich zunächst beleidigt, aber nach kurzer Erwägung musste ich ihr zustimmen. Denn tatsächlich ist es so: die Universität, dieser Übergang ins Unbekannte, der neue gesellschaftliche Umgang, sowas lässt keinen Menschen unverändert bleiben. Und zur vollkommenen Verschmelzung mit der akademischen Umgebung ist es unvermeidbar und dringendst erforderlich, sich diesen Fakt einzuräumen und sich damit versöhnen, dass die Persönlichkeit jedes Einzelnen große Umwandlungen durchmacht. Und genau das musste ich in diesem Moment einsehen und habe es der mich betrachtenden Partnerin auch eingeräumt. „Und tut es dir Leid?“ fragte sie im spöttischen Ton. „Teils ja, teils nein. Ich habe mit einem ähnlichen Verlauf gerechnet, aber so eine große Veränderung hat auch mich überrascht. Dabei merke ich, dass sich nicht meine Weltansicht geändert hat, sondern eher die Weise der Wahrnehmung des Geschehens um mich herum und vor allem die Art der Formulierung meiner Äußerungen. Manche nennen das „Erwachsen werden“, ich würde eher den Ausdruck „Anpassung an die Erwartungen“ wählen. So ist es so, meine Liebe. „Was würdest Du mir über die anderen Studenten sagen. Du warst immer so ein Eizelgänger, ist so eine Rolle an der Uni überhaupt möglich?“ „Es hilft einem sogar sehr, wenn man sich daran gewöhnt, sich nur auf die eigenen Kräfte zu verlassen und einen gewissen Abstand zu den Komillitonen zu haben. Ich kenne dort keinen, deswegen muss ich äußerst vorsichtig im Zugang zu meinen Studiumkollegen sein. Doch bisher habe ich den Eindruck, dass sie nicht gegen mich feindlich eingestellt sind, aber viel Gemeinsames habe ich mit ihnen kaum.“ „Sprichst du jetzt von den Studenten, oder von den Lehrern?“ „Von den Studenten, natürlich, von den Lehrern kann ich zwar auch nicht besonders viel sagen, aber diejenigen, die ich bisher kennengelernt habe, haben mich im positivsten Sinne überrascht. Ich meine, das schwierigste beim Übergang an einen neuen Studienplatz ist das, sich an die Pädagogen und auf die unbekannte Unterrichtsweise. Aber die Pädagogen zeigen viel Verständnis und viel mehr Bereitwilligkeit, als du je zu mir gezeigt hast. Hier bin ich´s, hier kann´s ich sein, rufe ich mit dem Klassiker.“ „So schlimm war es doch bei mir nicht.“ „Doch, es war. Erst jetzt kann ich mich nur meinen gewünschten Bereichen widmen, endlich kann habe ich ein gewisses Ziel vor den Augen, und das werde ich um jeden Preis verfolgen, koste es, was es wolle.“ Als ich das gesagt hatte, spürte ich plötzlich, dass ich sie in großer Maße demütigt habe. Ihre Stimme klang auf einmal stumpf, als sie mir direkt in die Augen geschaut hat und fragte: „Und bereust du nicht, dass es zwischen uns vorbei ist?“ Ich stand auf und sah sie ernsthaft an. Meine Stimme zitterte für keinen Augenblick, als ich deutlich und langsam sagte: „Nein, meine Liebe. Es gab sowohl schöne als auch schlimme Momente, aber insgesamt war es für mich eine Erleichterung, als ich mich von dir gelöst habe. Zwar sind die acht Jahre unserer Beziehung nicht aus dem Gedächtnis zu löschen, und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich mir das wünschen würde, aber es ist vorüber. Ich bin zufrieden. Sei es auch!“ Mit diesen Worten drehte ich mich um und ging langsam fort. Im Nacken spürte ich den Blick der hellen Fenster, in denen sich die Sonne widerspiegelte, ich hörte das typische Geräusch aus den langen Gängen des Gebäude, im Hirn wirbelte die Gewissheit, dass ich mich endlich von ihr getrennt habe und nun mehr nur an die Uni gehöre. Ich drehte mich nochmal um und warf noch einen letzten Blick auf sie. Dort stand sie-die Anstalt, an der ich acht lange Jahre verbracht habe, und die ich jetzt für eine neue gewechselt habe. Dann ging ich weg. In anderthalb Stunden hatte ich eine Vorlesung über die deutsche Literatur. Ich freute mich drauf…