Jakub: Die Zeit Am 23. September ging Pandilosz durch die hellen Straßen Brünns, die Česká Straße entlang Richtung Veveří. Die Fronten der Gebäude starrten ihn ausdruckslos an und Pandilosz erwiderte deren Blicke, seine Miene gefroren in einer unbeweglichen Grimasse, die er während seiner Studienzeit ganze drei Jahre lang Tag für Tag vor dem Spiegel gründlich geübt hatte, und im Laufe der Jahren zur völligen Vollkommenheit gebracht hatte. Wäre er in diesem Augenblick für eine Weile angehalten und wäre in demselben Moment jemand an seiner unbeweglichen Gestalt vorbeigegangen, hätte ihn der zufällige Passant mit einer Statue verwechselt, nur mit dem Unterschied, dass die Statuen meistens wesentlich beweglicher im Gesicht sind als Pandilosz zu derjenigen Zeit. Doch es war nicht Pandilosz Art, vergeblich das Tempo seines Ganges zu vermindern. Genau gegen neun Uhr kam er zu dem uns bereits gut bekannten Gebäude G, betrat die Eingangstür, seine Ohren empfangen den Gruß des Portiers, wobei sein Mund die gleichen Worte formulierte, das Gehirn blieb die ganze Zeit ausgeschaltet, alles verlief automatisch, als ob sich Pandilosz die ganze Kapazität seines Hirns für höhere Zwecke ersparen wollte. Pandilosz ging die Treppe leise herunter, so leise, dass eine Katze, die sich in die Flur im Kellergeschoss des Gebäudes G eingeschlichen hatte und die gerade die Augen für eine Weile zugemacht hatte, vor Erschreckung fast einen Herzinfarkt erlitten hat. Zu ihrer Glück ist dies aber nicht passiert; es gab weit und breit keinen Menschen in Sicht, die dem armen Tierlein Hilfe geleistet hätten, und Pandilosz gehörte nicht zu der Art der Menschen, die die Nummer eines Tiearztes in ihrem Handy gespeichert haben. Pandilosz schenkte der Katze ein Geschenk in der Form eines leicht amüsierten Blickes, das das Tier aber kaum zu schätzen wusste, und ging rasch über den Fakultätshof ins Gebäude J. Als er die Eingangstür öffnete, hörte er ein halblautes Schimpfen über den wieder Mal nicht funktionierenden Fahrstuhl. Pandilosz erkannte die Stimme. Eigentlich auch wenn er die Stimme nicht erkannt hätte, an der ganzen Fakultät gab es sowieso nur eine einzige Person, ausgenommen den Studenten, die Ausdrücke dieser Art zum Ausdruck bringen wusste, ohne sofort rot zu werden. Doktor Schneider aus der Anstalt für allgemeine Sprachwissenschaft, denn er war gerade jene Person, die für ihre sehr außerordentliche Ausdrucksweise bekannt war, begrüßte Pandilosz, erhielt die gleiche gesellschaftliche Formel als Antwort und begann dann, Schulter an Schulter mit Pandilosz die Treppe bis ins vierte Stockwerk hochzusteigen, wo die Germanisten ihren Standort hatten. Pandilosz schwieg, hätte er angefangen zu reden, hätte ihn Schneider sofort gefragt, ob er nicht zufällig krank geworden sei; es war gerade der junge Sprachwissenschaftler, der die Stille gebrochen hat und dem Pandilosz gleich eine Frage gestellt hat. „Humbert, hast du schon die neue österreichische Lektorin gesehen, die bei euch gerade angetreten ist? Was sagst du zu ihr? Sieht ganz gut aus, sogar besser als viele Studentinnen. Übrigens die studierenden Miezen ärgern mich schon länger. Sie schwänzen die Seminare, sind bei den Prüfungen hohl und dazu sind sie nicht einmal hübsch. Warum müssen wir Sprachwissenschaftler so ein Pech haben und ihr Germanisten immer ein Schwein?“ Pandilosz zögerte mit seiner Antwort nicht lang. Den Schneider mochte er gewissermaßen, auch wenn er den Begriff „mögen“ längst aus seinem Wörterbuch gestrichen hatte. Doch die Art, auf die Schneider seine hubere Sprüche sagte, war ihm irgendwiesympatisch. Für Pandilosz war Schneider die einzige Person, mit der er über zehn Minuten lang reden könnte, ohne in dem Kopf die brutalsten Weisen eines Mordes immer wieder abspielen zu müssen. Pandilosz sah sogar seinem Gewissen in einer schwachen Weile ein, dass er sogar in der Lage wäre, ein Viertel Stunde in der Gesellschaft Schneiders zu verbringen. Länger aber nicht, er wusste, dass er nicht mehr der jüngste ist und dass er sein seelisches Gleichgewicht zu bewahren hat. Doch alle diesen Erwägungen hinderten ihn nicht daran, dem Schneider zu antworten. „Die habe ich noch nicht gesehn‘. Frau Doktorin Nesselová hat mir schon von ihr erzählt, aber ich weiß gar nichts von ihr.“ „Humbert, du bist schlimmer als ein Mönch. Die normalen Mönche sind wenigstens immer geladen, und scharf auf die Frauen, aber du lebst so, als ob das einzige Femininum, das dein Bett je besucht hat, die Deutsche Grammatik von Helbig gewesen wäre.“ „Ich hatte schon auch die Dependenzsyntax im Bett, und es war nicht einfach, sie zu bewältigen.“ Schneider brach im Lachen aus. „Humbert, du weißt Witze zu machen. Schade nur, dass du sie so geizig dosierst. Glaubst du nicht, es wäre an der Zeit, uns mehr als drei Gags pro Jahr zu gönnen?“ „Glaub‘ ich nicht. Übrigens, dieser war der zweite heuer, den letzten bekommt ihr unter den Weihnachtsbaum geschenkt.“ „Wenn die Lektorin ansehlich sein wird, könntest du mir sie unter den Weihnachtsbaum schenken. Und wenn es früher wäre, wäre ich dir auch nicht böse.“ „Andreas, denkst du an etwas anderes als an Frauen?“ „Klar, an Mädchen, Weiber, Frauenzimmer, Hasen, Bienen, Miezen… Und auch an die Linguistik, wenn ich nichts Besseres zum Vergnügen habe.“ Pandilosz deutete mit der Hand. „Wir sind schon da, wen suchst du eigentlich?“ „Den Professor Fleischhacker, er schuldet mir noch ein Buch von Sgall.“ „Der sollte oben in seinem Büro sein.“ „Dann geh‘ ich hin. Kéz és lábtorést, du alter Magyar!“ Pandilosz nickte kurz, warf einen kurzen Blick hinter den die Treppe hinaufsteigenden Schneider und öffnete dann die Tür zu seinem Büro. Er schloss sie gleich, legte seine Aktentasche auf den Tisch und zog eine Flasche Pepsi heraus, Kaffee trank er nicht. Er gönnte sich einen tiefen Schluck und setze sich zum Tische. Er öffnete eine ältere, bereits vor Alter gelb verfärbte Mappe und drehte einige Blätter um. Das rauhe Papier berührte seine Fingerspitzen, Pandilosz zog noch ein dünnes Büchlein aus seiner Tasche und schlug eine Seite auf. Vor ihm lag gerade ein Abdruck des Gedichts von Nikolaus Lenau – Der Räuber aus Bakony, und eine dünne Sammlung der ungarischen Volkspoesie des neunzehnten Jahrhunderts. Pandilosz verglich gerne die Motive in der deutschsprachigen und in der ugrofinnischen Poesie, und auch Nikolaus Lenau war seinem Herzen sehr nahe, übrigens stammte der Dichter auch aus der ungarischen Puszta, wo auch die Mutter Pandilosz‘ herstammte. Pandilosz las, es waren über anderthalb Stunden verlaufen, eine blonde Locke fiel ihm ins bleiche Gesicht und er hob langsam seine Hand, um sie von der Stirn wegzustreichen. An jenem Tag hatte er viel Zeit, es erwartete ihn nur eine einzige Vorlesung, die erst um 15 Uhr anfangen sollte. Plötzlich hörte er ein leises Klopfen an der Tür. Pandilosz ignorierte es, es herrschte eine zwar ungeschriebene, aber desto strenger gehaltene Regel, dass ihn niemand in seinem Arbeitszimmer stören dürfe. Wie die Strafe für das Brechen dieser Regel aussieht, wusste aber keiner – bisher ist ein Verstoß gegen sie nie vorgefallen. Das Klopfen setzte immer weiter fort, es war ein leises, höfliches, aber doch beharrliches Klopfen, das jedem, der es vernahm, deutlich sagte: ich warte hier, ich will dich sprechen, und du solltest sehr viel Zeit haben, wenn du mich aufgeben sehen willst, weil ich in den nächsten Stunden gar nicht vorhabe, damit aufzuhören. Dies sagte das Pochen auch dem Pandilosz, aber auf so einen Gegner ist der Klopfende noch nie gestoßen, denn normale Menschen mögen zwar Geduld haben, aber Pandilosz hatte mehr als diese, er hatte Vorsätze, und die Härte von Pandilosz‘ Vorsätzen ließe sich nicht einmal mit einem Diamant vergleichen, und hätte man diesen Vergleich doch gezogen, müsste der Edelstein seine Spitzenposition in der Skala der Härte der Minerale weinend an den Gegner abgeben. Nach einigen Minuten hörte der unbekannte Eindringliche auf. Pandilosz hat es übrigens kaum gemerkt, er war verbohrt in seine Materialien und keine Kernwaffenexplosion hätte ihn aus seiner Konzentration reißen können. Doch es gab auf der ganzen Welt nur eine einzige Macht, die wenn nicht stärker, dann wenigstens genauso stark wie Pandilosz war, und zwar die Natur und ihre Gesetze, die sie dem menschlichen Körper gegeben hatte. Nach fast vier Stunden ununterbrochenen Lesens verlies Pandilosz sein Arbeitszimmer aus einem Grund, der nicht prosaischer hätte sein können. Der allmächtige Humbert Pandilosz musste den Lenau kurz verlassen. Als er die Tür hinter sich schloss, hörte er von der Seite, wo sich das Zimmer der ausländischen Lektoren befand, ein kratzendes Geräusch und ein halblautes Kichern. Er schaute nicht in die Richtung, doch dann folgten den vorigen Geräuschen schnelle, leichte Schritte, von denen jeder in seinen Ohren eine Spur hinterließ. Die Schritte hielten plötzlich an, Pandilosz spürte die Anwesenheit einer anderen Person in seiner Nähe und schließlich entschied er sich, sich den Unbekannten anzusehen. Doch bevor er dies tun konnte, sprach ihn der Unbekannte an. „Guten Tag, ich nehme an, Sie sind Professor Pandilosz.“ Die Stimme klang rauh, aber höher, als sie Pandilosz erwartet hatte. Sie gehörte einer jungen, etwa fünfundzwanzig Jahre alten Frau, deren Augen auf das Gesicht Pandilosz gerichtet waren, wie der mürrische Blick des Professors gleich festgestellt hatte. Eine weitere Sache, die er sofort merkte, war, dass die Frau etwa von der gleichen Größe wie er war, und dass sie, ebenso wie er, ganz schwarz angezogen war. Pandilosz reagierte auf die Frage mit leisem „Stimmt, liebes Fräulein“, und einem perfekt gemeisterten Lächeln, das er speziell für solche Situationen gelernt hatte. Er wusste auch, wie er in einem solchen Fall zu reagieren hatte. Er hat auch seiner Pflicht gestanden. „Und ich nehme an, Sie sind die neue Lektorin aus Wien. Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?“ Die Lektorin lächelte auch, aber Pandilosz entkam nicht die verbitterte Miene, die dem Lächeln vorausging. Sie antwortete dann. „Fräulein Schmitt, es freut mich sehr, Sie kennenzulernen.“ „Bitte nennen Sie mich Sabine.“ „Ich würde lieber bei Fräulein Schmitt bleiben.“ „Haben Sie Angst, eine Frau vertraulich anzusprechen?“ Pandilosz schaute sie scharfer an, aber sie erwiderte seinen Blick mit herausfordernder Frechheit, die er sofort bemerkte. „Ich habe keine Angst, vor nichts und niemandem.“ „Jeder fürchtet irgendetwas, so behaupten es wenigstens die Psychologen.“ „Dann sollten Sie nicht so viel Trivialliteratur lesen und statt dessen lieber zu den Fachpublikationen greifen.“ „Ich glaube, dass ich alt genug bin, um meine Lektüre selbst auswählen zu können.“ Der lustig klingende, aber frech untergemalte Ton ihrer Stimme bewegte Pandilosz dazu, sich die ganze Gestalt der jungen Österreicherin anzuschauen. Er überlief das schmale, eckige Gesicht, das von längeren blonden Haaren, so untypischen für Österreicherinnen, umgeben war, das edle, nach vorne gestreckte Kinn und die fein geschnittenen Züge der Backenknochen. Irgendetwas in den Zügen der Lektorin erinnerte Pandilosz plötzlich an Noémi, für einen Augenblick wurde sie zu der älteren Schwester seiner Geliebten, und in diesem Augenblick war Pandilosz sogar willig, nicht die Realität zu sehen – die schweren, breiten Hüften, die dicken Knie, den nach vorne gestreckten Busen, die rauhe, schweinrosafarbene Haut und alle anderen Züge der trübseligen Gestalt, die üblicherweise als „ansehnliche Frau“ bezeichnet wird. Pandilosz roch auch das Eau de Toilette der Lektorin, das ihn mit seinem billigen Duft an eine Nutte erinnerte, er sah die hängende Haut an den Oberarmen, die aus den kurzen Ärmeln des viel zu engen T-Shirts herausguckte und als er angewidert seinen Blick auf die Beine der Lektorin richtete, sah er kleine Fleckchen an der Haut, die vom Rasieren zurückgeblieben waren. Doch es gab noch etwas an der Lektorin, etwas, was er nicht beschreiben konnte, was ihn jedoch bei allem Ekel, den er für diese Greisin empfand, aufregte und worin er die Reste der verwelkten kindlichen Schönheit erkennen konnte. Für eine einzige Sekunde konnte er sich sogar vorstellen, dass sie zu seiner Liebhaberin werden könnte. Die Entartung dieser Vorstellung traf aber gleichzeitig in seinem Gemüt ein und verursachte ein Gefühl von Abscheu. Woher nehmen solche Wesen das Recht, diese Welt zu verpesten? Und wieso gibt es so viele Männer, denen so eine eklige Erscheinung attraktiv und reizend vorkommt? Pandilosz wusste, dass er fliehen muss. Obwohl sein Inneres brannte, nicht einmal ein Team der Mikrobiologen mit den schärfsten Mikroskopen hätte eine Änderung seines Gesichtsausdrucks entdeckt. Seine Stimme war nur ein wenig heiser, als er erwiderte: „Da haben Sie Recht. Ich glaube, Sie sind wirklich alt genug. Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe in wenigen Minuten eine Vorlesung. Es war nett, Sie kennenzulernen.“ Die Lektorin war ein wenig verdutzt, doch ihre Laune interessierte Pandilosz nicht. Wie im Traum drehte er sich um und ging zu seinem Arbeitszimmer. Im Nacken spürte er den Blick der Lektorin, und ihm wurde klar, dass diese Frau ihm nicht egal sein wird, was ihn zu ärgern anfing. Es war nicht Neigung, sondern eine gewisse Art Neugier,was er zu ihr empfand, ein Gefühl, das in ihm bisher nur ein einziger Mensch hatte erwecken können. Pandilosz war ein wenig verlegen. Als endlich das Schloss hinter ihm mit lautem Klick klappte, wurde er erleichtert. In seinem Kopf drehten sich die Bilder von Noémi und der neuen Lektorin, und je näher er sie im Gedächtnis untersuchte, desto mehr Ähnlichkeiten konnte er entdecken. Muss denn die Noémi einmal auch so enden? Als eine traurige, riesige, trostlose Kreatur, die nichts mehr als Mitleid erwecken kann? Ist diese Entwicklung wirklich unabwendbar? Pandilosz quälte das Bild einer veralteten, erwachsenen Noémi. Auf einmal verstand er die Unumkehrbarkeit der Zeit. Ihm wurde klar, dass er nur noch etwa zwei Jahre hat, nur etwa sieben Hundert Tage, in denen die Noémi noch ihre kindliche Anmut behalten wird. Später wird sie zu einem Fräulein – ihn grausete es – und dann zu einer FRAU, und er, Pandilosz, kann nichts dagegen tun. Die Erfahrung seiner Machtlosigkeit erreichte ihn mit wahnsinniger Kraft. Pandilosz biss sich in die Lippen. Reiß dich zusammen, Mann, bisher hast du alle Gegner bezwungen, und jetzt steht vor dir nur ein weiterer, den du zu bezwingen hast – die Zeit. Die Zeit. DIE ZEIT. Die Uhr schlug drei. Die Zeit der Vorlesung.Pandilosz stieg auf, nahm seine Aktentasche und begab sich auf den Weg zum Raum G22. Sein Auftrag an jenem Tag war noch nicht erfüllt.