Jarek Ostrčilík : Sabine in Brünn Die lange, eintönige Fahrt hat sie müde gemacht. Sie starrte verträumt in die Landschaft, welche der Schnellzug teilnahmslos hinter sich ließ, so wie es Sabine gerne mit Thomas tun würde. Letzten Endes war doch er der Grund, warum sie sich auf dieses Abenteuer einließ. In Wien an der Uni konnte sie an ihm nicht vorbei, zu sehr war hier alles mit ihm verbunden. Sie verfolgte das wirre Spiel der Regentropfen an der Fensterscheibe, deren vergebliche Anstrengung, an der glatten Oberfläche des fahrenden Waggons ihren Platz zu finden, Sabine irgendwie mit dem menschlichen Leben gleichzusetzen versuchte. Nach dem Studium dachte sie auch, sie hätte schon gefunden, wonach andere ihr Leben lang streben; damals waren sie kaum länger als ein Jahr lang mit Thomas zusammen, ihre Beziehung schien aber fester und beständiger zu sein als alles, was ihr bis dahin widerfahren ist. Er war schon seit dem vorangegangenen Studienjahr ein Assistent am Germanistik-Lehrstuhl gewesen, und Sabine sehnte sich nach nichts mehr, als mit ihrem Thomas eine gemeinsame Karriere aufzubauen. Sie ist tatsächlich an der Uni angestellt worden, führte ihr eigenes Seminar – so glücklich wie damals war sie noch nie. Sabine spielte schon mit Gedanken an eine Familie, doch mit der Zeit begann sich ihr Thomas langsam zu entfremden. Er schien sie immer weniger zu brauchen, bis ihr gemeinsamer Kontakt kaum noch über berufliches hinauszugehen vermochte. Sabine brachte dies der Verzweiflung nahe, sie konnte sich Thomas Verhalten nicht erklären, und machte sich selber dafür verantwortlich. Wie oft sie ihn darauf auch anzusprechen versuchte, er wich einer ehrlichen Antwort stets aus, sie würde sich alles ja nur einbilden, meinte er, doch aus jeder Geste und jedem Wort fror ihr wieder diese beängstigende Gleichgültigkeit entgegen. Schließlich ertappte sie sich eines Abends, wie sie tatsächlich einen Selbstmord erwägt, um Thomas aus seiner unerklärlichen Lethargie ihr gegenüber zu wecken. In diesem Moment besann sie sich aber wieder, kein Thomas der Welt wäre es doch wert, schon gar nicht einer, der ihr Ableben ohnehin kaum bemerkt hätte. Sie flüchtete sich nun in ihre Arbeit, welche sie krampfhaft ihrer Beziehung voranzustellen versuchte. Allerdings hatte Sabine nie die Hoffnung verloren, alles würde irgendwann wieder so werden, wie es früher gewesen war, und konfrontierte Thomas nach einiger Zeit wieder mit Fragen über die Sinnhaftigkeit ihres Zusammenseins. Thomas, der den Wandel ihres Verhaltens offenbar doch mitbekommen hatte, schien Sabine aber gleichzeitig etwas missverstanden zu haben – er meinte, er würde sie zwar schon längere Zeit nicht mehr lieben, doch wie es ihm scheint, gingen damit beide recht gut um. Bei der Erinnerung an seine Worte war Sabine den Tränen nahe. Aus ihren Gedanken riss sie ihr Gegenüber im Abteil, ein älterer Mann im Anzug, als er seinen Notebook zuklappte und begann, das Chaos an Papieren und Ordnern um sich herum mühsam in seine Aktentasche zu stopfen. Er erwiderte Sabines Blick mit einem entschuldigenden Lächeln und meinte leise: „Brinn“. Sie lächelte zurück und richtete ihren Blick wieder aus dem Fenster. Eine graue Landschaft von Lagerhallen und Industrieanlagen zog an ihr vorbei, zum Glück drängte sich in der Zwischenzeit aber eine blasse Sonne hinter den Wolken hervor, und nahm ihnen zumindest einen Teil ihrer Trostlosigkeit. Der Zug begann langsam abzubremsen, und Sabine hatte genug Zeit, die ersten Eindrücke aufzunehmen. Über der Stadt ragte eine gotische Kirche gleich einem Gebet in den Himmel empor, und mit etwas Abstand, wohl um dem edlen Gotteshaus Respekt zu zollen, thronte ebenso majestätisch eine stolze Burg, zweifellos die Spielberg. Sabine kannte beide Gebäude schon von Fotos, und konnte es nicht erwarten, sie und die ganze Stadt näher kennenzulernen. Inzwischen ist der Zug im Bahnhof zum Stillstand gekommen, und ihr Begleiter hat sich mit einem kaum verständlichen Deutsch und einem charmanten Lächeln verabschiedet. Sabine blieb aber noch kurz sitzen, vielleicht um noch einmal tief Luft zu holen. Mit viel Gepäck beladen stieg sie etwas unbeholfen aus dem Zug und sah sich um. „Hoffentlich schauts auf der Brünner Uni nicht wie am Brünner Hauptbahnof aus,“ sagte sie leise zu sich selber und sichtlich erheitert warf sie sich in die Menschenmenge, welche in die Unterführung am Ende des Bahnsteiges strömte. Auf diese Weise gelang sie schließlich vor das Bahnhofsgebäude, wo sie ihre „Kontaktperson“ treffen sollte, eine Kollegin aus Deutschland, welche ebenso an der Germanistik unterrichtete und Sabine eine Art Fremdenführer werden sollte. Sie schaffte es kaum, ihrem Rücken zuliebe das schwere Gepäck auf dem Boden abzustellen, da lachte ihr schon eine helle Stimme entgegen: „Sabine?“ Noch im selben Moment schüttelte eine sympatische junge Frau Sabines Hand, welche sich als Ivonne zu erkennen gab. Die beiden standen allerdings schon einige Wochen in regem Briefverkehr, und so gab es nur wenige Themen Sabines neuen Job betreffend, welche sie nicht per E-Mail bereits zumindest angesprochen hätten, und so erzählte ihr Ivonne Details aus dem Privatleben ihrer neuen Kollegen. Sabine kannte die Akteure Ivonnes Annekdoten zwar noch nicht persönlich, aber wenigstens schien die Fahrt zum Lektorenhaus viel kürzer. Die Gelassenheit ihrer Begleiterin wirkte auf Sabine richtig erfrischend, und sie begann sich auf ihre Zeit in Brünn aus ganzem Herzen zu freuen.