Jedem Kind seinen eigenen Laptop DIE ZEIT Wie der Computerguru Nicholas Negroponte Bildung in den letzten Winkel der Welt bringen will Nicholas Negroponte, 63, ist Professor am MIT (Massachusetts Institute of Technology) in Cambridge/USA. Er gründete das legendäre Media Lab und finanzierte das Technologiemagazin »Wired«. Sein Buch »Total Digital« war ein Bestseller, der in 40 Sprachen übersetzt wurde. Seit ein paar Jahren gehört sein ganzes Engagement dem Projekt One Laptop per Child (OLPC), das Kinder der Dritten Welt mit eigens entwickelten Computern zum Lernen führen will. DIE ZEIT: Professor Negroponte, nach Jahren als Hochschullehrer wollen Sie mit diesem neuen Produkt Kinder bilden. Warum? Nicholas Negroponte: Ganz einfach, wenn man die Grundschulerziehung vermurkst, verbringt man den Rest der Zeit damit, es wiedergutzumachen. Entfacht man indes in der Grundschule die Leidenschaft fürs Lernen, ermuntert man die Kinder, mehr zu lernen. Im Gegensatz dazu wird den meisten Kindern heute die Kreativität ausgetrieben und die Liebe zum Lernen gleich mit. Wir denken, dass wir das ändern können. ZEIT: Und Sie glauben, Sie können es mit diesem kleinen Ding ändern, das wie ein Fisher-Price-Spielzeug aussieht? Wann ist die Idee entstanden, mit widerstandsfähigen Laptops Kindern etwas beizubringen und das auch noch in der Dritten Welt? Negroponte: Wir haben das ein Leben lang gemacht, schon vor dem Media Lab. Meine Kollegen und ich haben uns stets mit der Frage »Wie lernen Kinder?« befasst. In den siebziger Jahren haben wir uns für Computerprogramme für Kinder engagiert, um zu zeigen, dass Kinder, die lernen, Computerprogramme zu schreiben, in Wahrheit das Lernen lernen. ZEIT: Wie das? Negroponte: Wenn man einen Algorithmus schreiben will, um so etwas wie einen Kreis zu zeichnen, muss man die Idee des Kreises wirklich verstanden haben. Wichtiger noch: Wenn man das Programm für das Zeichnen eines Kreises schreibt, haut das meistens beim ersten Mal nicht hin. Und wenn man das erkennt, »debuggt« man das Programm, man befreit es von Fehlern. Wir haben in den Siebzigern herausgefunden, dass Kinder diese Art des Vorgehens auf ihr eigenes Denken angewandt haben. In den achtziger Jahren haben wir dann schon Computer in Grundschulen und Vorschulen im Senegal, in Kolumbien und Pakistan gebracht. Das waren Standardcomputer, und es waren Entwicklungsländer. In den Neunzigern haben wir uns dann gefragt, wie wir Computer in die entferntesten Ecken der Welt zu geringem Preis bringen könnten. Jetzt, im neuen Jahrtausend, haben wir die Lösung – den 100-Dollar-Laptop. Leider sind aus 100 Dollar 188 Dollar geworden, weil einige Komponenten teurer sind als geplant. ZEIT: Wie können Sie einen Laptop so billig machen? Negroponte: Es hat sich herausgestellt, dass viele Sachen im Preis gefallen sind, aber der Laptop, Ihr Laptop, ist so teuer wie vor 20 Jahren. Die natürliche Tendenz für Elektronik ist, billiger zu werden. Es ist also ganz normal, dass die Produzenten immer mehr Optionen und Features aufsatteln, um den Preis hoch zu halten. Für die Kinder lassen wir beispielsweise den ganzen Büro-Schnickschnack weg. ZEIT: Sie wollen mit dem kleinen Laptop Kinder in der Dritten Welt stärken. Wie soll das mit Computern gehen? Wer ein A tippt, muss doch erst lernen, was ein A ist, oder nicht? Negroponte: Er lernt es, wenn er es tippt. ZEIT: Aber er weiß nicht, was es ist, kann es nicht benennen… Negroponte: Das macht nichts. Sie lernen Lesen und Schreiben ganz allein. ZEIT: Tatsächlich? Warum haben wir dann ein Analphabetenproblem? Negroponte: Weil die Kinder bislang keine Gelegenheit hatten, es so zu lernen. Sie lernen ja auch ohne Lehrer das Sprechen. So können sie innerhalb von zwei Wochen mit einer englischen Tastatur chatten. Das Englisch ist nicht perfekt, aber es funktioniert. ZEIT: Die Laptops sollen in Schulen an die Kinder ausgehändigt werden. Heißt das, dass es Aufsicht und Lehre gibt? Negroponte: Nein. Die Schulen sind lediglich Distributionspunkte. ZEIT: Also sollen die Kinder den Laptop gar nicht zur Schule bringen? Negroponte: Doch, aber Schule in Entwicklungsländern ist kurz, manchmal nur stundenweise. ZEIT: …und oft auch nur unterm Baum und nicht im Schulhaus. Wo laden die Kinder dann ihren Computer auf, wenn eine Steckdose weit ist, und wie arbeiten sie mit dem kleinen Ding unter freiem Himmel? Negroponte: Das ist kein Problem, die Computer können per Hand aufgeladen werden, dafür wurden erst Kurbeln, später eine Art Jojo entwickelt. Und der Schirm kann bei Sonnenlicht gelesen werden. ZEIT: Kinder gehen ja nicht immer vorsichtig mit ihren Schulsachen um, Bildschirme sind sehr empfindlich… Negroponte: …darum werden die Bildschirme gummiert sein, um sie weniger anfällig zu machen. ZEIT: OLPC ist gemeinnützig, machen alle ihre Partner wie etwa die Chipfabrik AMD auch aus Menschenliebe mit? Negroponte: Nein, wir machen kein Geld, aber unsere Partner dürfen schon verdienen. Wir garantieren ihnen zumindest, dass sie kein Geld verlieren werden. Wir reden hier immerhin von zig Millionen Computern. ZEIT: Sie wollen demnächst mit der Auslieferung in Asien, Lateinamerika und Afrika beginnen. Mindestens eine Million Laptops pro Land ist Ihr Ziel. Wie soll das logistisch funktionieren? Negroponte: Man fängt ja nicht mit allen Ländern und Computern gleichzeitig an. Wir haben ein Fenster von zwölf Monaten. ZEIT: Wer zahlt? Negroponte: Geplant hatten wir, dass die Länder selbst zahlen. ZEIT: Warum hat das nicht funktioniert? Negroponte: Es gibt offenbar einen Unterschied zwischen dem Händedruck eines Regierungschefs und dem tatsächlichen Schreiben eines Schecks. ZEIT: Was machen Sie nun? Negroponte: Wir bauen zunächst auf Spender. In den USA und Kanada können sie für 400 Dollar zwei Rechner kaufen. Einen behalten sie, der andere geht als Spende an unser Projekt. ZEIT: Wenn alles klappt: Was passiert, bevor die Kinder die Laptops bekommen? Haben sie ein Vorausteam? Negroponte: Das Vorausteam sind Menschen der Region, die vorher in der Region geschult werden. Die Verteilung läuft folgendermaßen: 5.000 Laptops stecken in einem Container, 20 Container kommen pro Monat an. Fünf Lastautos laden je einen Container und 20 Leute auf. Laptops und Personal werden abgeladen und bleiben vier Wochen lang in dem jeweiligen Dorf oder der Siedlung und schließen jedem einzelnen Kind seinen Computer an. Die Kamera macht ein Bild von dem Kind für seinen Bildschirmschoner. So wird der Computer durch das Kind und die Seriennummer identifiziert. Wenn der Computer gestohlen wird, bevor er das Kind erreicht, ist er nutzlos, er lässt sich nicht anschalten. Sollte das Kind bestohlen werden, nachdem es seinen Computer bekommen hat, stellt sich dieser Computer nach zwei Tagen ab. ZEIT: Was passiert danach mit dem Personal? Negroponte: Nach einem Monat kehren die Instrukteure an ihre Basis zurück und ziehen mit dem nächsten Container mit 5.000 Laptops los. Wenn man richtig rechnet, können 500 Leute eine Million Laptops in zwölf Monaten an die Kinder bringen. ZEIT: 500 ist keine besonders große Zahl… Negroponte: …eine winzige Zahl. ZEIT: Wer zahlt für das Personal? Negroponte: Das ist Teil des Vertrags mit dem jeweiligen Land. ZEIT: Von der Technik zum Konzept. Was ist die Theorie? Negroponte: Die Theorie ist ganz einfach Learning by Doing. Es geht eigentlich um den Unterschied zwischen Lernen und Lehren. Das meiste, was Sie gelernt haben, haben Sie garantiert nicht im Klassenzimmer gelernt, Sie haben es allein gelernt. Lernen ist nahtlos, vor allem, wenn man laufen und reden lernt. ZEIT: Warum will ein berühmter MIT-Professor mit 63 die Kinder der ländlichen Dritten Welt mit Bildung per Laptop beglücken? Negroponte: Warum ich? Nun, ich habe mein Leben lang nichts anderes getan als zu unterrichten und zu lernen. Außerdem gibt es nicht sehr viele, die es gemeinnützig tun könnten. Ich muss kein Geld damit verdienen. Wenn ich ein Staatsoberhaupt treffe, ist die moralische Seite des Projekts völlig klar: Ich verkaufe nichts. Das macht es leichter für mich. Ich bin keinem Aktionär verpflichtet. Die Chance, etwas positiv zu verändern, ist überwältigend. Die Frage, warum ich es mache, kommt mir ein bisschen vor wie die, die dem Tausendfüßler gestellt wurde: Welchen Fuß setzt er zuerst auf? Nach der Frage konnte er nicht mehr laufen, er wusste nicht, wie. Interview: Christine Brinck DIE ZEIT, 11.10.2007 Nr. 42 42/2007