Frauen lesen anders Von Ruth Klüger ■ Bücher wirken anders auf Frauen als auf Männer. Dies sollte kein heikles Thema sein. Doch fürchten Frauenrechtlerinnen, dass eine solche Behauptung den weiblichen Geschmack und die weibliche Denk- 6 fähigkeit in Frage stellt, und ihre Gegner fürchten einen weiteren Angriff auf den literarischen Kanon. Und doch: Längst haben wir gelernt, dass das Wort, der Text, der Roman oder das Gedicht kein Ding an sich ist, dessen werkimmanenter Sinn sich den ver- 10 trauensvoll Lesenden bedingungslos erschließt und immer gleich bleibt. Jeder und jede von uns liest anders, wie kein Leben mit einem anderen identisch ist und sich jedermanns und jeder Frau Weltverständnis von jedem anderen unterscheidet. (...) is Dazu ein Beispiel aus der bildenden Kunst. Fast jede große Kunstgalerie hat ein Gemälde aufzuweisen, das den „Raub der Sabinerinnen" darstellt. Und bei jeder Führung wie auch in den Katalogen heißt es, man möge die Komposition bewundern, den Farbkontrast äo würdigen. Nur: Wir blicken auf einen Gewaltakt, von muskulösen Männern an halb nackten Frauen verübt, unwilligen Menschen, die von Stärkeren verschleppt werden. Ich höre zu, ich schaue hin, und ich frage mich betreten: Warum sagt niemand etwas zum >5 Inhalt? Ich weiß auch die Antwort: Weil der Raub und die Vergewaltigung zur mythisch-historischen Vorlage gehören und nur dazu da sind, damit der Maler sein Können demonstriere. Als Frauen stehen wir vor diesem Prunk und dieser ■o Pracht, wo unseresgleichen zu Gegenständen erniedrigt wird, und verdrängen unsere Beklemmung um unser Kunstverständnis nicht zu kompromittieren. Manchmal sind die Opfer so gemalt, dass sie ihre Erniedrigung zu genießen scheinen, eine Übertünchung, 5 die die Sache noch verschlimmert. Nun will ich das Gemälde beileibe nicht aus der Galerie entfernen und möchte auch weiterhin über seine technischen Vollkommenheiten belehrt werden; nur möchte ich außerdem die Inhaltsfrage steilen. Denn es liegt doch auf der Hand, dass Männer und Frauen ein solches Sujet unterschiedlich betrachten, und wir hegen gerechte Zweifel, wenn die Experten uns versichern, dass das Gemälde mit erotischen Machtansprüchen nur minimal zu tun habe. 45 Ahnlich verhält es sich mit der Darstellung von Gewaltakten und deren Rezeption in der Literatur, Der Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 1992, George Tabori, sagte in seiner Dankrede, die schönsten Liebesgeschichten, die. er kenne, seien „Othello" und 5o „Woyzeck". Der einflussreichste deutsche Kritiker, Marcel Reich-Ranicki, hat einmal im Fernsehen seine Vorliebe für die „Liebesgeschichte" „Kabale und Liebe" kundgetan. Wer will abstreiten, dass es sich bei allen dreien der genannten Dramen um Meisterwerke 55 der Litera tu r handelt ? Wie d c nn anders, wenn Sh a kes-peare, Büchner und Schiller die Autoren sind? Aber die schönsten Liebesgeschichten? So würde eine Frau sie auf Anhieb kaum nennen. Wird doch in jeder von ihnen die Geliebte vom Geliebten umgebracht, und 60 zwar auf recht brutale Weise, erdrosselt von Othello, erstochen von Woyzeck, vergiftet bei Schiller. Wenn ich sagen wollte, die schönsten Liebesgeschichten, die ich kenne, seien Kleists Penthesilea, wo die Titelheldin ihren geliebten Achilles zerfleischt, als Er- 65 satz für den Liebesakt, und Hebbels Judith, in der die Titelheldin dem Holofernes nach dem Liebesakt den Kopf abschlägt: Würde ein männlicher Leser nicht mit Recht meine Bezeichnung dieser Faszinosa als schöne Liebesgeschichten mit Beunruhigung aufneh- 70 men? Was geht hier vor? Die Verherrlichung oder Verharmlosung der Gewalt gegen Frauen in der Literatur beginnt früh, zum Beispiel mit dem „Heideröslein". Man sollte meinen, dass sich die symbolische Dar- 75 Stellung einer brutalen Vergewaltigung, vertont oder unvertont, nicht zum Schulunterricht eigne und schon gar nicht auf eine Stufe mit wirklichen Liebesliedern gesetzt werden solle. Denn Goethe hin, Schubert her, die letzte Strophe ist eine nur leicht ver- ao brämte Terrorszene: „Doch der wilde Knabe brach / 's Röslein auf der Heiden.,/ Röslein wehrte sich und stach / Half ihm doch kein Weh und Ach / Musst' es eben leiden." Die Verharmlosung entsteht dadurch, dass der Vergewaltiger, also ein ausgewachsener, zu- 85 mindest geschlechtsreifer Mann, als „wilder Knabe" einherkommt, dass die Tat symbolisch an einer Blume ausgeführt wird, obwohl deutlich Kraftmeier und schwächeres Mädchen gemeint sind, und dass im hingeträllerten Refrain „Röslein, Röslein, Röslein rot / so Röslein auf der Heiden" der Terror verplätschert. Das Lied ist verlogen, weil es ein Verbrechen als unvermeidlich und obendrein wie eine Liebesszene darstellt. Heike Sander hat in ihrem umstrittenen Dokumentarfilm „(Be)Freier und Befreite" einen Män- 95 nerchor eingesetzt, der das „Heideröslein", kommen- . tarlos und unmissverständlich, im Kontext der Massenvergewaltigungen des Zweiten Weltkriegs singt. Damit ein Mädchen oder eine Frau ein solches Lied hübsch findet, muss sie mehr von ihrem mensch- 100 liehen Selbstbewusstsein verdrängen, als sich lohnt, von ihren erotischen Bedürfnissen ganz zu schweigen. (...) Wir, die gelernt haben, wie Männer zu lesen, unterdrücken das Unbehagen, denn wir wissen nicht recht, los wohin damit. Eigentlich wollen wir sagen: „Wir sind nicht so, und es geht auch anders." In Wirklichkeit sagen wir oft: „Wir fühlen uns in die Helden ein, also sind wir wie sie" - und wissen doch, wir sind's nicht. Vor allem lernen wir, die Verachtung, mit der weibli- 110 che Gestalten in der Literatur oft gebrandmarkt sind (es fängt mit solchen Redewendungen an wie „ein hübsches Ding"), nicht als solche zu kritisieren. Und das halte ich für einen Fehler, denn die Auseinandersetzung mit Irritationen ist heilsamer als das passive us LIinnehmen. Aber handelt große Literatur nicht vom allgemein Menschlichen, an dem beide Geschlechter teilhaben? Ist das nicht gerade der Grund, warum Leserinnen . mit Faust und Hamlet mitdenken können? Als ich 120 Schillers „An die Freude" als Zehnjährige las, fühlte ich mich ausgeschlossen gerade von den Versen, bei denen sich alle miteingeschlossen fühlen sollen. Da hieß es zunächst: „Alle Menschen werden Brüder." Eigentlich, so dachte ich, sollte es „Geschwister" ■25 heißen, wenn auch Frauen gemeint sind. Doch.ent-. schuldigte ich den Dichter: Auf „Geschwister" findet sich nicht so leicht ein Reimwort. „Geschwister" ist unpoetisch, also gut „Brüder". Doch dann las ich: Wem der große Wurf gelungen 130 Eines Freundes Freund zu sein, Wer ein holdes Weib errungen Mische seinen Jubel ein. ■ Ich dachte, zur Not könnte es mir ja in ferner Zukunft gelingen, ein holdes Weib zu werden, wiewohl 135 mir diese Aussicht als nicht eindeutig erstrebenswert erschien. Da ich naturgemäß nie in der Lage sein würde, ein solches, nämlich ein holdes Weib, zu erringen, würde ich bestenfalls einen Mann zum Jubeln veranlassen, doch selber mitzujubeln schien mir der mo Dichter zu versagen, und das in seiner menschheits- 3 B '.(fl "3 -C ..o tu u Ml 3 "■C *r* 1-^ -u '£. u o 2 u —1 T3 u í o H 3 OJ < ď Im 1 B -S ■■a > s OJ u C 3 u 3 '2 3 1 OJ U" to .y. (D -d y t» 'S3 tň '5 * ■ tň 1 -tí LH 'Š B -d -o ti -u a -a OJ ž .ä =1 Z M s O. Mi ■n 4 -5 ^ V. m B ť • «í -■ s ■ -g rt q u a c ,. ■e .s Pi . OJ M ■ <« M .j. | 'ä & .— ■ *-i TZÍ 'Š $ -u ß 'S U Q T3 Ö n h^ i? 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