Stefan Wolle Die versumte Revolte: Die DDR und das Jahr 1968 I. Der ungeteilte Himmel Es war fçr uns immer schmerzlich zu sehen, wie die Mauer unser Vaterland teilte, meinte der Redakteur einer groen Tageszeitung des Springer-Verlages. Tatschlich hatte man von der Kantine im obersten Stockwerk des Verlagshauses einen weiten Blick çber das Terrain der ehemaligen Sperranlagen. Als der Kollege zu ausschweifenden topographischen Erklrungen auszuholen drohte, unterbrach ich ihn: Ich kenne die Gegend einigermaen. Ich bin hier zur Schule gegangen. Ich zeigte ihm durch die Scheibe der hoch gelegenen Kaffeestube den unaufflligen Schulbau aus der wilhelminischen Zeit. Das fremdvertraute Gebude schien von hier aus zum Greifen nah und gleichzeitig unendlich weit fort. An Wintertagen konnte man von dort in der ersten Unterrichtsstunde die Meldungen auf dem Nachrichtenbalken lesen, der damals auf dem Springerhochhaus montiert war. Gelegentlich schimpfte der Staatsbçrgerkundelehrer auf den Lçgenbalken, und die Schçler grinsten sich eins. Allerdings schien diese Form der Nachrichtençbermittlung schon damals irgendwie unzeitgem. Als ob es im Osten keine Radioapparate und Fernseher gegeben htte. Als Ostern 1968 die Krawalle rund um das Springerhaus tobten, konnte man die Polizeisirenen und Sprechchre hren. Viele von uns platzten damals vor Neid, nicht dabei sein zu knnen. Einen Steinwurf weit tobte die Revolte, doch dazwischen lag die Mauer und niemand durfte es dort wagen, auf wen auch immer mit Steinen zu schmeien. Doch in den Kaffeehusern und Buchhandlungen im Stadtzentrum von Ost-Berlin traf man gleichaltrige junge Leute aus dem Westen, die mit leuchtenden Augen von ihrem Aufbegehren gegen das Establishment erzhlten. Sie waren wie kleine Kinder, die aufgeregt von ihren Spielen im Buddelkasten berichteten. Wenn sie von Bullenschweinen, gar von der repressiven Toleranz des scheiliberalen Systems oder vom Konsumterror sprachen, wirkte das damals schon wunderlich naiv. Von dem System in der DDR hielten sie genau wie wir nicht sonderlich viel. Doch erklrten sie uns: Historisch gesehen seid ihr schon einen Schritt weiter. Ihr mçsst nur die Demokratie einfçhren. Dann haben die Rechten auch bei uns verspielt. Ich wei noch, dass ich es damals versprochen habe. Im Stillen dachte ich: Eines Tages werden wir euch die Show stehlen. Die eigentliche Schlacht wird im Osten geschlagen werden in Prag, Budapest, Warschau und eben bei uns. Das schien bis in die Morgenstunden des 21. August 1968 auch noch mglich. Beim Blick vom Springerhochhaus auf das alte Schulgebude erinnerte ich mich daran, dass auch damals in ganz hnlicher Weise der Westen zum Greifen nah und gleichzeitig unendlich weit fort war. Die Mauer war nicht allein ein monstrses Bauwerk. Sie war die eiserne Klammer, die das SED-System zusammenhielt, eine gigantische Projektionsfolie der beiderseitigen legitimationsstiftenden Bedrohungsngste. Nur eines war die Mauer nicht: eine wirkungsvolle Sperre, die den freien Flug der Gedanken behinderte. Niemals gelang es den Machthabern der DDR, eine geistige Quarantne çber ihr Land zu verhngen. Entgegen anderslautenden Meinungen war der Himmel çber Berlin niemals geteilt. II. Reform und Stagnation Die Jahre zwischen dem Mauerbau und dem Ende des Prager Frçhlings waren in der DDR von einer seltsamen Ambivalenz. Am Anfang stand die wirtschaftliche, politische und moralische Katastrophe. Mit dem Mauerbau vom 13. August 1961 und den ersten Todesopfern an dieser Grenze erreichte das Ansehen des SED-Regimes in Deutschland und der Welt einen neuen Tiefpunkt. Dennoch resultierte gerade aus der offenbaren Brutalitt der Mauer bei westlichen Politikern die Erkenntnis, dass die Spaltung Deutschlands nicht durch eine Politik der Konfrontation zu beseitigen, sondern nur durch allmhliche Vernderungen in ihren Folgen zu mildern sei. So wurden die Todesschçsse an der Mauer zum Ausgangspunkt einer Politik der Wandlungen, an deren Ende der Untergang des SED-Systems stehen sollte. 37 Aus Politik und Zeitgeschichte B 2223/2001 Ein hnlicher Vorgang vollzog sich im Inneren der DDR. Nur mit Gewalt war es mglich gewesen, die Menschen am Weglaufen aus dem Arbeiterund-Bauern-Staat zu hindern. Die DDR wurde durch den Mauerbau zu jener geschlossenen Gesellschaft, die sie bis 1989 geblieben ist. Nach einer Phase verschrfter Repression begann das SED-Regime, seinen Untertanen Angebote zu machen. Im November 1961 erreichte die zweite Welle der Entstalinisierung auch die DDR. In Moskau regierte Nikita Sergejewitsch Chruschtschow. Die Schritte auf dem Weg in den Kommunismus hatte der XXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 genau festgelegt. Innerhalb von 20 Jahren wollte man den Kommunismus errichten. Der Traum, ,100 Jahre zu leben, ohne zu altern`, wird Wirklichkeit, erfuhr der erstaunte Leser auch auf der Titelseite des Zentralorgans der SED1 . All dies sollte bereits 1980 Realitt wer- den. In der DDR, Ungarn und der Tschechoslowakei gaben die Parteizentralen nun grçnes Licht fçr Studiengruppen von Wirtschaftsfachleuten, die Plne fçr umfassende Wirtschaftsreformen auszuarbeiten begannen. Die Betriebe sollten mehr Selbststndigkeit und Eigenverantwortung bei der Planung erhalten, die Preise flexibler und realistischer werden, neueste Technik sollte schnell in die Produktion çberfçhrt werden. NÚSPEL hie das Zauberwort. Dahinter verbarg sich das Neue konomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, welches der VI. Parteitag der SED verabschiedete. Am konsequentesten ging in der C SSR eine Arbeitsgruppe ans Reformwerk. Anfangs hatte diese Gruppe gute Kontakte zu den fçhrenden Wirtschaftsleuten in der DDR. Doch als aus der Wirtschaftsreform eine Reform der Machtstrukturen zu werden drohte, trat der konservative Flçgel der Parteifçhrung auf die Bremse. Durch das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 wurde die Beat-Musik verboten, Kçnstler und Schriftsteller an den Pranger gestellt, Filme und Theaterstçcke verboten. Dabei ging es in weit grerem Mae, als die Úffentlichkeit damals ahnte, um die Wirtschaftsreformen, die nun nur verlangsamt weitergefçhrt werden konnten. Dennoch setzte sich die allgemeine Reformhektik fort, die viel durcheinander wirbelte: Eine Hochschulreform und eine Akademiereform rollte çber die Institutionen hinweg. III. Der Jugend gehrt die Zukunft Immerhin waren Kritik und neue Ideen gefragt. Das System brauchte die Mitarbeit oder wenigstens die Loyalitt eines greren Teils der Bevlkerung, und es bot Karrierechancen, Sinnerfçllung, materielle Vorzçge und soziale Sicherheit. 1963 erlie die Partei ein Jugendkommuniqu, ein Jahre spter folgte ein Jugendgesetz, das den politischen Anspruch in Paragraphen fassen sollte2 . Die SED-Fçhrung wollte sich nicht allein auf die agitatorische Wirkung solcher Proklamationen verlassen. Das Ministerium fçr Staatssicherheit (MfS) erlie 1966 eine umfangreiche Dienstanweisung Zur politisch-operativen Bekmpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundttigkeit unter jugendlichen Personenkreisen in der DDR3 . Diese von Mielke unterzeichnete Dienstanweisung wurde bis 1969 immer wieder durch weitere Befehle und Weisungen ergnzt4 . Es war ohne Zweifel ein Grundsatzdokument, das die offiziellen Dokumente der Jugendpolitik ergnzte. Denn die Entwicklung der jungen Generation bereitete der SED-Fçhrung groes Kopfzerbrechen. Der Gegner, heit es in einer umfassenden Analyse der MfS-Bezirksverwaltung Berlin, unternimmt verstrkte Anstrengungen . . ., mittels einer breiten Skala von Mglichkeiten der politisch-ideologischen Diversion Einfluss auf die Jugendlichen in der Hauptstadt der DDR zu gewinnen.5 Ein besonders trçbes Bild zeichnete der StasiBericht von der Berliner Humboldt-Universitt: Unter den Studenten der Humboldt-Universitt 1 Neues Deutschland vom 20.10.1961. 2 Gesetz çber die Teilnahme der Jugend der Deutschen Demokratischen Republik am Kampf um den umfassenden Aufbau des Sozialismus und die allseitige Frderung ihrer Initiative bei der Leitung der Volkswirtschaft und des Staates, in Beruf und Schule, bei Kultur und Sport vom 4.5.1964, in: Staatliche Dokumente zur sozialistischen Jugendpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik (Auswahl), Berlin (DDR) 1971, S. 15 ff. 3 MfS, ZAN, Dienstanweisung 4/66 vom 15.5.1966, 26 Bl. 4 Vgl. MfS, ZAN, Befehl 11/66 vom 15.5.1966; 1. Durchfçhrungsbestimmung zum Befehl 11/66 zur Verhinderung der Gefhrdung der ffentlichen Ordnung durch Verbreitung dekadenter Einflçsse unter jugendlichen Personenkreisen, insbesondere in Vorbereitung auf den 20. Jahrestag der DDR vom 8.8.1969, 5 Bl. 5 MfS, Verwaltung Gro-Berlin, A 1142/5, Stadtarchiv Berlin, Bericht 7/65 vom 30. 4. 1965 çber einige negative Erscheinungen und Vorkommnisse in der Hauptstadt der DDR, die auf Einflçsse der politisch-ideologischen Diversion des Gegners zurçckzufçhren sind, 29 Bl. 38Aus Politik und Zeitgeschichte B 2223/2001 hat sich das Wirken Havemanns und die ungençgende Einflussnahme der Parteiorganisation gegen seine schdlichen Theorien teilweise nachteilig auf die Bewusstseinsbildung ausgewirkt. . . . Es ist aber bekannt, dass viele Studenten mit ihrer wahren Meinung zurçckhalten. Whrend sie in den Seminaren eine richtige Position beziehen, vertreten sie in den Gesprchen untereinander eine andere, vielfach entgegengesetzte Meinung.6 Der Bazillus der Aufsssigkeit machte sich unter den DDR-Studenten breit. Die habituellen Gesten und Symbole des Protestes kamen tatschlich aus dem Westen. Anette Simon meint in ihrem Versuch, das Generationsgefçhl in Ost und West zu vergleichen: Die Achtundsechziger der DDR sind genau wie ihre Schwestern und Brçder im Westen geprgt von der Musik dieser Zeit und dem Lebensgefçhl, das sie transportierte. Auch die antiautoritren Gedanken und Haltungen schwappten in jeder Weise çber die Grenze.7 IV. Der Westen Die Welt der kommunistischen Propaganda war in der ersten Hlfte der sechziger Jahre noch suberlich in Gut und Bse geteilt. In der Sprache der Agitation ausgedrçckt, gab es zwischen der faschistischen Diktatur und der scheindemokratischen Spielart des staatsmonopolistischen Imperialismus nur einen taktischen Unterschied. Die politische Macht lag in den Hnden des gleichen Monopolkapitals, das Hitler in den Sattel gehoben hatte. Immerhin wurde eingerumt, dass die westdeutsche Arbeiterklasse teilweise der Sozialdemagogie erlegen sei und die Befreiung des Proletariats auf sich warten liee. Eine theoretische Reflexion çber den Wandel der westlichen Gesellschaft fand jedoch nicht statt. So geriet die SEDPropaganda seit Mitte der sechziger Jahre in eine tief greifende Erklrungsnot angesichts der aufbrechenden bundesdeutschen Gesellschaft: Es war nicht die Arbeiterklasse, und schon gar nicht die in der Illegalitt kmpfende KPD, die an der Spitze der Bewegung stand, sondern Kçnstler, Intellektuelle und Studenten. Natçrlich beherrschte die SED seit Jahr und Tag die dialektische Kunst der Doppelstrategie. Wenn die Ostermarschierer gegen Wiederbewaffnung und Atomtod durch Westdeutschland zogen, konnten sie der Schçtzenhilfe der Ostpropaganda gewiss sein, obwohl Pazifismus in der DDR als Staatsverbrechen verfolgt wurde. Wenn es gegen die Notstandgesetze ging, konnte sich die SED-Propaganda trefflich çber die Aushhlung demokratischer Rechte erregen, obwohl doch jeder wusste, dass solche Rechte in der DDR niemals existiert hatten. Auch der Antiamerikanismus der Vietnamkriegsgegner, die Kampagnen gegen den Springer-Konzern und die Enthçllungen çber die Nazivergangenheit fçhrender westdeutscher Politiker passten gut ins Propagandakonzept der SED. Sie unterstçtzten die Friedensund Anti-Springer-Komitees durch finanzielle Mittel, gaben ihnen propagandistische Schçtzenhilfe und versuchten sie durch linientreue Funktionre und Stasi-Agenten an die Leine kommunistischer Parteidisziplin zu legen8 . Der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 war fçr die DDR ein Beweis fçr den potenziell faschistischen Charakter des westdeutschen Staates. In der Presse konnte man pltzlich viel çber den Kampf der fortschrittlichen Westberliner Arbeiter und Studenten gegen die Notstandsdiktatur lesen. Die politischen Kontakte zwischen dem SDS und der FDJ wurden nun intensiviert. Im Auftrag des Bundesvorstandes des SDS reiste Wolfgang Lef vre gemeinsam mit anderen Funktionren des Verbandes im Jahre 1967 mehrmals nach Ost-Berlin, um dort mit Vertretern des Zentralrates der FDJ zu verhandeln. Sie erhielten dort Dokumente çber die faschistische Vergangenheit von Westberliner Polizeiangehrigen und Fotos çber die Vorgnge am 2.6.1967. Diese Unterstçtzung wurde von den Studentenvertretern als auerordentlich wertvoll eingeschtzt, da vorgesehen ist, mit diesen Dokumenten den Nachweis zu fçhren, dass das Vorgehen der Westberliner Polizei gegen die Studentendemonstrationen eine organisierte Notstandsçbung war.9 Auerdem çbergaben die DDR-Vertreter Material çber die Mitarbeit von Bundestagsabgeordneten bei der Vorbereitung der Notstandsgesetze10 . Die Frage, 6 Ebd., Bl. 22. 7 Anette Simon/Jan Faktor, Fremd im eigenen Land?, Gieen 2000, S. 9. 8 Vgl. Hubertus Knabe, Hetzer, Flscher, Meinungsmacher. Die Anti-Springer-Kampagne: Wie SED und MfS die WestBerliner Studentenbewegung manipulierte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Mrz 2001. 9 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO/BArch) J IV/2/202, Schreiben Albert Nordens an Walter Ulbricht vom 21. 6. 1967 u. Information çber Gesprche mit dem Konventsprsidenten der Dahlemer Universitt in Westberlin, Wolfgang Lef vre (SDS-Bundesvorstandsmitglied) sowie weiteren Westberliner Studentenfunktionren im Zentralrat der FDJ und in Westberlin am 20.6.1967, 6 Bl., Zitat Bl. 1; vgl. Bernd Rabehl, Feindblick. Der SDS im Fadenkreuz des Kalten Krieges, Berlin 2000. 10 Ebd., Bl. 2. 39 Aus Politik und Zeitgeschichte B 2223/2001 aus welchen Quellen die Dokumente und Fotos stammten, wurde nicht gestellt. Auch sonst plauderten die Gste aus dem Westen recht offenherzig çber die Strategie und Taktik ihres revolutionren Kampfes. Dabei schtzten sie realistisch ein, dass es von seiten des DGB und der Arbeiterjugendorganisationen noch sehr wenig Unterstçtzung gbe11 . Die FDJ-Vertreter versprachen daraufhin, im verstrkten Mae auf die Arbeiterjugendorganisationen in Westberlin Einfluss zu nehmen. Das soll z. B. çber direkte Gesprche mit Westberliner Falkenfunktionren geschehen12 . Allerdings wurde auch an der DDR und der Sowjetunion Kritik geçbt. Man htte sich von den sozialistischen Staaten mehr Unterstçtzung im Kampf gegen Israel gewçnscht. In diesem Zusammenhang wird die Haltung Chinas begrçt, das zum richtigen Zeitpunkt eine Wasserstoffbombe zçndete13 . Bei einem weiteren Gesprch fand Lef vre auch fçr die DDR anerkennende Worte. Angesichts der Tendenz einiger sozialistischer Staaten, mit imperialistischen Regierungen zu verhandeln, sei der SDS . . . erfreut çber die konsequente Politik der DDR, die eine solche ,Liberalisierung` nicht mitmacht. Vom 25. bis 28. Juli 1967 fand ein vom Zentralrat der FDJ organisiertes gemeinsames Seminar von Funktionren des SDS und der FDJ statt, das sowohl Gemeinsamkeiten wie auch unçberbrçckbare Gegenstze deutlich machte14 . So willkommen der Kampf gegen die US-amerikanische Aggression in Vietnam, die Notstandsgesetzgebung in der BRD und die Kettung Westberlins an Westdeutschland war, so sehr waren die Formen des Protestes wie deren theoretische Begrçndung der SED ein Dorn im Auge. In ihrem terminologischen Raster konnte die APO nicht anders als linksradikal eingestuft werden. Linksradikalismus aber war laut Lenin die Kinderkrankheit des Kommunismus, mithin ideologische Abweichung, Hresie, Gedankenverbrechen. Ein objektives Kriterium fçr die Beurteilung einer ideologischen Richtung und ihrer theoretischen Strke stellt ihre philosophische Grundlage dar, schrieb 1974 der DDR-Historiker Siegfried Prokop in der ersten und einzigen Darstellung der BRD-Studentenbewegung, die in der DDR erschienen ist. Im Unterschied zum MarxismusLeninismus besitzt der kleinbçrgerliche Revolutionarismus keine einheitliche philosophische Grundlage. So unterschiedlich die einzelnen Richtungen auch sind, beruhen sie doch ,alle auf einem eklektischen Sammelsurium entgegengesetzter ideologischer Leitstze` . . . Der kleinbçrgerliche Revolutionarismus ist also pseudorevolutionr. Er gehrt nicht zur Theorie der Arbeiterklasse, sondern steht ihr feindlich gegençber.15 Im eigenen Machtbereich fuhr die SED das gesamte Instrumentarium der Repression gegen solche Tendenzen auf. Mit Sicherheit çberschtzte die SED-Fçhrung die Resonanz linksradikaler Ideen im eigenen Machtbereich. Nichts fçrchtete sie mehr als das Wirken geheimer Konventikel, zentralistisch gefçhrter Verschwrergruppen und avantgardistischer Berufsrevolutionre. In der Tat versuchte die kommunistische Fçhrung Chinas damals, durch Ideologieexport in aller Welt Einfluss zu gewinnen. Die deutschsprachigen Sendungen der Stimme der Weltrevolution aus Tirana waren im Kurzwellenbereich in Mitteleuropa gut zu empfangen. Die SED-Fçhrung nahm solche Einflussversuche ernst. Entsprechend nervs reagierte die Staatssicherheit auf unkontrollierte Aktivitten der chinesischen Botschaft in der DDR. Das MfS registrierte, dass DDR-Bçrger dort chinesische Druckerzeugnisse und MaoAbzeichen abholten16 : Aufgrund der vorliegenden Hinweise kann eingeschtzt werden, dass besonders Jugendliche, vor allem Oberschçler und Lehrlinge von Betriebs-Berufsschulen, Verbindungen zur chinesischen Botschaft aufnahmen.17 V. Die SED und der Bazillus der Revolte Geradezu hysterisch reagierte die DDR-Obrigkeit auf unkontrollierte Begegnungen junger Leute, speziell von Studenten aus Ost und West. So berichtet das MfS im April 1966, wie sich aus einer Zufallsbekanntschaft ein regelmiger Diskussionszirkel von Assistenten der Freien Universitt und der Humboldt-Universitt entwickelte18 . 11 Ebd., Bl. 2. 12 Ebd., Bl. 2. 13 Ebd., Bl. 6. 14 Vgl. SAPMO/BArch, IVA 2/2028/106, Information çber das Seminar von Zentralrat der FDJ und SDS am 25.-28. Juli in Berlin, 11 Bl. 15 Siegfried Prokop, Studenten im Aufbruch. Zur studentischen Opposition in der BRD, Berlin (DDR) 1974, S. 121. 16 MfS, Verwaltung Gro-Berlin, A 1141/3, Stadtarchiv Berlin, Bericht 63/67 vom 12. 10. 1967 çber Vorkommnisse, die im Zusammenhang mit der chinesischen Botschaft stehen, 5 Bl., Zitat Bl. 1. 17 Ebd., Bl. 1. 18 MfS, Verwaltung Gro-Berlin, A 1141/1, Stadtarchiv Berlin, Bericht 15/66 vom 23. 4. 1966 çber Treffen von Perso40Aus Politik und Zeitgeschichte B 2223/2001 Besondere Sorge bereitete es dem MfS, dass viele DDR-Teilnehmer des Gesprchskreises SED-Mitglieder waren. Der Verfasser des Berichts betont deswegen noch einmal ausdrçcklich: Es muss eingeschtzt werden, dass es sich hier keinesfalls um das Vorhaben handelt, durch eine gute Diskussion Westberliner Personen positiv zu beeinflussen, sondern um private Gesprche, bei denen man die Mglichkeit ausnutzen will, sich çber den Westen zu informieren. . . . Da die beteiligten Westberliner offensichtlich die Linie verfolgen, durch provokatorische Fragen unsere Personen ideologisch negativ zu beeinflussen und die von uns Beteiligten konzeptionslos an diesen Treffen teilnehmen, besteht die Gefahr der Schaffung einer ideologisch negativen Basis fçr weitere Diskussionen in der Humboldt-Universitt.19 Eine ungewhnlich detaillierte Analyse der Bezirksverwaltung des MfS beschftigte sich im Januar 1967 mit der politisch-ideologischen Zersetzung und der ungençgenden gesellschaftspolitischen Erziehung an der Humboldt-Universitt20 . Die Einschtzungen tragen teilweise einen alarmierenden Charakter. Auf persnliche Weisung von Mielke wurde die Weiterleitung des Berichtes an die Parteifçhrung gestoppt. Wie es in einem beigefçgten Zettel heit, wçrde darçber nach der Kreisdelegiertenkonferenz der SED entschieden werden. Offenbar griff der Bericht zu tief in die Obliegenheiten der Staatspartei ein. Er diagnostizierte bei einem Teil der Studenten eine dekadente moralisch-ethische Einstellung. Dies signalisierte in der Sprache der Stasi den Einfluss der neuen antiautoritren Lebenskultur des Westens. uerlich bezog sich diese Rubrizierung auf lange Haare, die grçnen Parkas und verwaschenen Jeans der amerikanischen Hippies. VI. Utopie und Macht Die kommunistische Herrschaft wurde seit 1917 vom mahnenden Schatten der eigenen Utopie begleitet. In der DDR wurde sie vor allem durch zwei Personen prsentiert, die trotz des Altersunterschieds oft als Dioskuren gesehen wurden: Professor Robert Havemann und Wolf Biermann. Einzelne Zeilen aus Biermanns Liedern und Gedichten wurden geradezu sprichwrtlich. Das Lied Du, lass Dich nicht verhrten/In dieser harten Zeit wurde so etwas wie die heimliche Nationalhymne der anderen DDR21 . Biermann hat bis in die achtziger Jahre immer wieder betont, dass er Marxist und Revolutionr sei und die DDR trotz allem fçr den besseren deutschen Staat halte. Die Achtundsechziger im Osten nahmen genauso wie im Westen den Vietnamkrieg und die Grausamkeiten der Welt wahr, interessierten sich aber politisch natçrlicherweise am meisten fçr das eigene Gesellschaftssystem . . . Es ging nicht um die Wiedererschaffung kapitalistischer Verhltnisse schon wegen der fundamentalen Kritik der gleichaltrigen Westlinken an diesen Verhltnissen nicht. Wir bewunderten diese Linken mit naiver Glubigkeit, unsere Solidaritt gehrte ihnen.22 Die Kirchengeschichte bietet das gegebene Reservoir fçr die Geschichte des kommunistischen Ketzertums. Am deutlichsten war dies whrend des Prager Frçhlings im Jahre 1968. Der Prediger Jan Hus wurde regelrecht zur Leitfigur der Reformer in ihrem Kampf gegen die kommunistische Orthodoxie. In dem bhmischen Kirchenreformer und dessen Flammentod sah die tschechoslowakische Freiheitsbewegung eine symbolische Identifikati- onsfigur. Die SED-Propaganda versetzte insbesondere Herbert Marcuse, den geistigen Vater der antiautoritren Revolte, in den Rang eines Oberketzers. 1969 erschien im Ost-Berliner Akademie-Verlag ein ungewhnlich ausfçhrliches Buch çber den Philo- sophen23 . Der Autor, Robert Steigerwald, war Mitglied der neu gegrçndeten DKP und leitete das Frankfurter Institut fçr Marxistische Studien. Steigerwald sparte nicht mit Polemik und verleumdete Marcuse als US-amerikanischen Geheimdienst- Agenten24 . Doch entgegen den in der DDR sonst çblichen Gepflogenheiten wurden die in den Augen der SED-Obrigkeit verwerflichen Theorien ausfçhrlich referiert und zitiert. Die çbliche Praxis der Auseinandersetzung mit der bçrgerlichen Ideologie war durch die hohe dialektische Kunst geprgt, die feindlichen Argumente zwar zu entnen der Philosophischen Fakultt der Humboldt-Universitt Berlin mit Studenten der Freien Universitt von Westberlin, 3 Bl. 19 Ebd., Bl. 3. 20 MfS, Verwaltung Gro-Berlin, A 1141/3, Stadtarchiv Berlin, Information 57/67 vom 19. 1. 1967 çber Erscheinungen der politisch-ideologischen Zersetzung und der ungençgenden gesellschaftspolitischen Erziehung an der Humboldt-Universitt Berlin, 29 Bl. 21 Wolf Biermann, Alle Lieder, Kln 1991, S. 177 f. 22 A. Simon/J. Faktor (Anm. 7), S. 11. 23 Vgl. Robert Steigerwald, Herbert Marcuses dritter Weg, Berlin (DDR) 1969; eine Lizenzausgabe erschien parallel im Klner DKP-Verlag Pahl-Rugenstein. 24 Vgl. ebd., S. 219 ff. 41 Aus Politik und Zeitgeschichte B 2223/2001 larven, es aber dem Leser unmglich zu machen, deren sachlichen Gehalt aus der Darstellung gewissermaen herauszufiltern. Das Buch von Steigerwald wurde bald schon auf hhere Weisung aus dem Verkehr gezogen. Stattdessen erschienen im Akademie-Verlag in Ost-Berlin zwei Heftchen der Reihe Zur Kritik der bçrgerlichen Philosophie, die Marcuses Kritik am Sowjetkommunismus in einen Nebel von Phrasen hçllten25 . Die Schriften von Marcuse und anderen Theoretikern des linken Antiautoritarismus waren in der DDR Giftschrankliteratur hchsten toxischen Grades. In Bibliotheken war die Lektçre nur aufgrund eines Zertifikats in speziellen Leseslen mglich. Bereits das Bemçhen um eine solche Sondergenehmigung war fçr die SED-Obrigkeit ein Verdachtsmoment. In einem Stasi-Bericht çber einen Studenten der Humboldt-Universitt wird u. a. ausgefçhrt, er wre bemçht, Schriften von Marcuse und Fischer zu erhalten. Aufgrund dieser und anderer Denunziationen wurde er im Herbst 1968 von der Universitt relegiert. Die Utopie einer klassenlosen und herrschaftsfreien Gesellschaft war fçr die autoritre Zwangsanstalt DDR ein gefhrlicher Sprengsatz. Die SED-Fçhrung reagierte mit Verboten, Restriktionen und Disziplinierungen. Das Schlagwort vom Dritten Weg wurde in der DDR zum Totschlagargument gegen jede Form der Kritik. Wer einen dritten Weg zwischen real existierendem Sozialismus und Kapitalismus gehen wollte, nutzte objektiv der Konterrevolution. Wer einen Wandel durch bernahme einzelner Elemente des freien Marktes forderte, redete der imperialistischen Konvergenztheorie das Wort, wer fçr eine Anpassung der Ideologie an die Realitten pldierte, machte sich des Revisionismus schuldig. VII. Sozialismus mit menschlichem Antlitz Der Gedanke eines Dritten Weges wurde Anfang 1968 in der Tschechoslowakei von der abstrakten Idee zum realen politischen Experiment. Am 5. Januar 1968 whlte das Zentralkomitee der KPC Alexander Dubcek zum neuen Parteichef. Leonid Breschnjew hatte bereits im Vorfeld fçr den Personalwechsel grçnes Licht gegeben, und auch protokollarisch wurden innerhalb des Warschauer Paktes zunchst die çblichen Formen gewahrt. Doch was in der C SSR als Reform von oben begann, stie bald schon auf eine ungeahnte Resonanz in der Bevlkerung. Endlich wurde im Lande frei gesprochen: çber den Mangel an Freiheit und Demokratie, den Terror der Stalinzeit, die Bevormundung durch die Sowjetunion, die Wirtschaftsmisere im Lande, die Unfhigkeit der kommunistischen Funktionre, die Spannungen zwischen Tschechen und Slowa- ken. Sptestens im Mrz schrillten in Ost-Berlin alle Alarmglocken. In einer internen Information an die Leiter der Abteilungen im ZK der SED vom 12. Mrz 1968 hie es: Man muss offen sagen, dass der imperialistische Gegner seine Anstrengungen verstrkt, um çber alle mglichen Kanle und Verbindungen Einfluss auf die Aktivierung der antisozialistischen, bçrgerlichen Krfte in der C SSR zu nehmen und selbst zu organisieren. Wie weit die geistige bereinstimmung zwischen den Losungen dieser kleinbçrgerlichen, antisozialistischen Krfte innerhalb der C SSR mit der Ideologie des Imperialismus geht, zeigt insbesondere die von Schriftstellern und Kçnstlern vertretene Losung, die C SSR in eine ,offene Gesellschaft` zu verwandeln.26 Drei Tage spter heit es in einem Bericht des MfS fçr die Parteifçhrung: In den Bezirken der DDR wird gegenwrtig zu den Vorgngen in Warschau und in der C SSR unter allen Bevlkerungsschichten diskutiert. Besonders die Meinungsuerungen çber die Erscheinungen in der C SSR sind vom Umfang und der Intensitt her im Ansteigen begriffen.27 Seit Mitte Mrz 1968 verdichten sich die Berichte des MfS an die Parteifçhrung. In den kommenden Monaten wurde fast tglich çber die Diskussionen der Bevlkerung berichtet. Im Mrz 1968 kam es auch zum ersten ffentlichen Angriff der SED gegen die tschechoslowakische Bruderpartei. Whrend einer Konferenz zum Thema Die philosophische Lehre von Karl Marx und ihre aktuelle Bedeutung griff Kurt Hager den Reformkommunisten Josef SmrkovskyÂ28 an. 25 Vgl. Nelli Motroschilowa/Jurij Samoschkin, Marcuses Utopie der Antigesellschaft, Berlin (DDR) 1971; Gertraud Korf, Ausbruch aus dem ,Gehuse der Hrigkeit`? Kritik der Kulturtheorien Max Webers und Herbert Marcuses, Berlin (DDR) 1971. 26 MfS, Bçro des Ministers, ZAN, Schreiben vom 12. 3. 1968 an Ltr. Der Abt. des ZK, Bl. 13. 27 MfS, ZAIG, Z 1564, Einzel-Information 301/68 vom 15. 3. 1968 çber die Reaktion der Bevlkerung der DDR çber die Vorkommnisse in der C SSR und in der VR Polen, 8 Bl. u. 1 Bl. Anl., Zitat Bl. 1. 28 Bei Smrkovsky handelte es sich um einen Kommunisten, der in der Okkupationszeit den Widerstand gegen die Deut42Aus Politik und Zeitgeschichte B 2223/2001 Die Springerpresse, meinte Hager, berufe sich in ihrer Kampagne gegen unsere sozialistische Verfassung . . . auf die Ereignisse in der C SSR. . . Sie geben in aller Ausfçhrlichkeit die Angriffe von Journalisten und Schriftstellern auf die fçhrende Rolle der Partei wieder29 . VIII. Der Prager Frçhling und die DDR Das Modell eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz hatte streng genommen mit den an China oder Kuba orientierten Vorstellungen der radikalen Westlinken wenig zu tun. In der Tat knçpften die ideologischen Vorstellungen der Reformkommunisten eher an traditionelle sozialdemokratische Denkmuster an. In diesem einen Punkt traf die Hetze der SED wohl den Kern der Sache. In den Augen vieler DDR-Bçrger waren dies aber nur ideologische Haarspaltereien. Im Frçhling 1968 trafen in der DDR zwei Strmungen des Zeitgeistes aufeinander, die aus unterschiedlichen Richtungen kamen und die historisch in unterschiedliche Richtungen wiesen, dennoch aber eine kaum zu trennende Einheit bildeten. Viele Menschen wçnschten sich mehr Freizçgigkeit und Wohlstand. Ihre Sympathien mit dem neuen Mann in Prag waren nicht das Ergebnis ideologiekritischer Debatten, sondern resultierten aus einer neugewonnenen Hoffnung auf positive Vernderung. Natçrlich gab es in der DDR junge Leute, die nchtelang çber Marx und Marcuse stritten. Doch fçr die meisten Ostdeutschen ging es zunchst um ein wenig mehr Luft zum Atmen, ein bisschen mehr Farbe im realsozialistischen Alltag. Dies schien das sozialistische Bruderland nun wenigstens ansatzweise zu bieten. Obwohl Reisen in die C SSR immer noch aufwendige Formalitten erforderten und nur wenige tschechische Kronen umgetauscht werden konnten, wurde Prag in jenem Sommer zum Mekka der DDR-Bevlke- rung. Jeder holte sich im Nachbarland, was er gerne mochte. Dort konnte man die begehrten Schallplatten mit Beat-Musik und Jazz kaufen. In den Kinos liefen in Originalfassung die neuesten Filme aus den USA. An den Kiosken gab es westliche Zeitungen und Zeitschriften. In Prag und anderswo konnte man ohne amtliche Formalitten ein Zimmer mieten oder in einem Studentenheim unterkommen, was in der DDR undenkbar gewesen wre. Man konnte auf der Strae sitzen, ohne von erziehungswçtigen Volkspolizisten behelligt zu werden. Die Theater, Konzerte und Kunstausstellungen in der tschechoslowakischen Hauptstadt waren legendr. Die DDR-Behrden erreichten mit ihren finanziellen Restriktionen genau das Gegenteil der erstrebten Wirkung. Da sich die Reisenden kein Hotel leisten konnten, waren sie auf die Kontakte zu Gastgebern angewiesen kamen daher viel enger mit der Lebenswirklichkeit des Gastlandes in Berçhrung als normale Touristen. Von den politischen Bedrohungen war in jenem Sommer nicht viel zu spçren. Die tschechoslowakischen Freunde lachten, wenn sie gefragt wurden, wo sich die Konterrevolution versteckt hielte. Kaum jemand glaubte, dass sich das Rad der Geschichte noch einmal zurçckdrehen liee. Wenn der Zug diesseits der Grenze in Bad Schandau oder Zinnwald hielt, wussten die Leute, dass sie wieder zu Hause waren. Voller bsartiger Gehssigkeit filzten die DDR-Zllner die Heimkehrer aus der C SSR. Sie beschlagnahmten Schallplatten, deutschsprachige Druckschriften und Bilder jeglicher Art. Das betraf nicht nur westliche Publikationen und antiquarische Bçcher, sondern insbesondere die deutschsprachigen Informationen der Nachrichtenagentur C TK und die Prager Volkszeitung. Auch die Sicherheitsorgane registrierten die verstrkte Einfuhr von tschechoslowakischen, sterreichischen und westdeutschen Zeitungen und Zeitschriften30 . In einem Bericht an Erich Honecker wurde sogar behauptet, tschechoslowakische Studenten wçrden das Prager Volksblatt an DDR-Bçrger verteilen. Wer sich unterstand, gegençber den Zollorganen darauf zu verweisen, dass es sich um offizielle Verlautbarungen der kommunistischen Bruderpartei handele, konnte sich auf lngere Kontrollen einstellen. Whrend der çberwiegende Teil der Bçrger die formlose Einziehung deutschsprachiger Literatur . . . anerkennt, fçhren in Einzelfllen andere DDR-Bçrger lngere Diskussionen dazu.31 Zwei Studenten der Universitt Rostock wehrten sich schen geleitet hatte, unter Stalin zu lebenslanger Haft verurteilt worden war und als entschiedener Vertreter eines humanistischen Sozialismus 1968 zum Prsidenten der Nationalversammlung gewhlt worden war 29 Neues Deutschland vom 27.3.1969. 30 MdI, Informationsgruppe Stab des MdI, 5. Informationsbericht vom 5.8.1968, Anlage: Information an E. Honecker vom 6. 8. 1968 çber Stimmungen unter unserer Grenzbevlkerung an der Grenze zur C SSR. 31 MdI, Kopie eines Schreibens Borning (Abt. Sicherheitsfragen des ZK der SED) an Hrnig (Abteilung Wissenschaft des ZK der SED) vom 16.7.1968. 43 Aus Politik und Zeitgeschichte B 2223/2001 im Grenzzollamt Zinnwald gegen die willkçrliche Einziehung der Druckschriften und meinten: Fçr sie sei es notwendig, dass sie zur freien Meinungsbildung die Zeitungen der C SSR und Westdeutschlands bentigen. Einer der beiden, der sich zudem als Mitglied der SED offenbarte, meinte sogar: Er bekenne sich zu dem ,revolutionren` Verhalten der Studenten in der C SSR, . . . Durch das Verhalten der Prager Studenten . . . sei der gesamte Prozess der Demokratisierung ins Rollen gekommen.32 Ein zusammenfassender Bericht çber den Vorfall wurde parallel an das Politbçromitglied Albert Norden gegeben33 . Offenbar war der Apparat auf das hchste alarmiert. Der Leiter der Zollverwaltung der DDR verfertigte einige Tage spter einen ausfçhrlichen Bericht an die Abteilung Sicherheit im ZK der SED34 . Fçnf Tendenzen bereiteten den Organen der DDR groe Sorgen: die zunehmende Zahl von Treffen zwischen DDR-Bçrgern und Westdeutschen bzw. Westberlinern, die teilweise zuflligen Charakter trugen, teilweise geplant waren; die steigende Zahl von Versuchen, çber die Tschechoslowakei in den Westen zu fliehen; drittens die Ausstellung von Internationalen Studentenausweisen durch den Internationalen Studentenbund, der seinen Sitz in Prag hatte; viertens die Teilnahme an Beat-Veranstaltungen und schlielich die Einfuhr von Druckerzeugnissen. Ein Jugendlicher meinte angesichts der Beschlagnahmung seiner Zeitschriften: Was kann man in der DDR çberhaupt fçr Zeitungen lesen. Bei Euch ist wohl nur das ,Neue Deutschland` erwçnscht. Das ,ND` nehmen wir zum Arschabwischen. Der Bçrger wurde laut MfS-Bericht der Polizei çbergeben35 . Von nun an wurden wchentlich solche Berichte verfertigt, die eine steigende Zahl von derartigen Vorkommnissen registrierten. Die SED-Fçhrung versuchte, die Reisen ins Nachbarland wenigstens zu reduzieren. Ich habe mich çber die Lage in der Touristik mit der Tschechoslowakei informiert, schrieb Albert Norden an Walter Ulbricht. Tatschlich sieht es so aus, dass im Monat Juni von uns 244 000 Touristen in die C SSR fuhren und 214 000 von der C SSR in die DDR kamen. In der ersten Juli-Hlfte sind von uns 154 000 Bçrger in die C SSR gefahren und von dort 90 000 zu uns gekommen. Es stellte sich heraus, dass von unseren Touristenagenturen eine sehr breite Werbung gemacht wurde, weil man mittels der Touristik in die C SSR einen Teil unserer Verschuldung gegençber Prag abbaut. Natçrlich knnen diese Gesichtspunkte angesichts der jetzigen politischen Situation nicht mehr gelten, und ich habe Anweisung gegeben, dass die Werbung fçr Touristen nach der Tschechoslowakei und von dort per sofort eingestellt wird.36 Auch das Tschechoslowakische Kulturzentrum am Bahnhof Friedrichstrae war den ideologischen Tugendwchtern der SED ein Dorn im Auge. Dies hatte eine lngere Vorgeschichte. Die Filmabende, Kunstausstellungen und Schriftstellerlesungen missfielen den Kulturbehrden der DDR bereits seit einigen Jahren, zumal dort auch DDR-Kçnstler wie Wolf Biermann aufgetreten waren. Im Frçhjahr 1968 aber wurde das C SSR-Kulturzentrum zu einem der offenen Fenster in der geschlossenen Gesellschaft der DDR, durch die wenigstens ein leiser Luftzug wehte. Auch lag dort seit dem 8. Mai 1968 zum rger der DDR-Obrigkeit die Prager Volkszeitung mit dem neuen Aktionsprogramm der KPC aus und konnte von den Besuchern mitgenommen wer- den37 . In dem bisher recht farblosen Blatt der deutschsprachigen Minderheit der Tschechoslowakei konnte das DDR-Publikum seit dem Januar 1968 erstaunliche Dinge lesen. Auf Kurt Hagers uerungen whrend der Karl-Marx-Konferenz erfolgte eine ironisch formulierte Einladung, nach Prag zu kommen, um sich an Ort und Stelle çber die Vorgnge zu informieren38 . Dies war nicht der Stil, in dem in der DDR mit Mitgliedern des Politbçros gesprochen wurde. In der Nummer vom 31. Mai 1968 erfolgte sogar ein Abdruck des Liedes Drei Kugeln auf Rudi Dutschke von Wolf Biermann39 . Dieses Heft erreichte die 900 Abonnenten in der DDR nicht mehr. Die Auslieferung des Blattes wurde vom Postzeitungsvertrieb untersagt. Die einzige Bezugsquelle war nun das Kulturzentrum in der Friedrichstrae, wo die32 Ebd. 33 MdI, Kopie eines Schreibens Borning (Abt. Sicherheitsfragen des ZK der SED) an Prof. Albert Norden (Politbçro) vom 16.7.1968. 34 Zollchefinspektor Stauch (Ltr. Zollverwaltung der Deutschen Demokratischen Republik) an Abt. fçr Sicherheitsfragen des ZK der SED, Wocheninformation zu Feststellungen im grenzçberschreitenden Verkehr çber die Staatsgrenze Sçd vom 18.7.1969, Berichtszeitraum: 8.7.14.7.1968, 7 Bl. 35 Ebd., Bl. 4. 36 SAPMO-BArch, IPA, DY 30, NL 2/31, Nachlass Walter Ulbricht, Schreiben Albert Nordens an Walter Ulbricht vom 26.7.1968, 2 Bl., Zitat Bl. 1. 37 MfS, ZAIG, Z 1493, Einzel-Information 511/68 vom 9. 5. 1968 çber die Verbreitung des Aktionsprogramms der KPE im Haus der Tschechoslowakischen Kultur in Berlin, Friedrichstrae, 2 Bl. 38 Prager Volkszeitung vom 29.3.1968. 39 Prager Volkszeitung vom 31.5.1968. 44Aus Politik und Zeitgeschichte B 2223/2001 Volkszeitung trotz mehrfacher Interventionen des Auenministeriums der DDR weiter auslag. Der Einfluss der antiautoritren Revolte auf die DDR war eher kulturell als direkt ideologisch oder gar politisch im engeren Sinne. Zeugnisse eines direkten Nachahmungseffektes sind in den Akten eher selten. Dennoch ist deutlich, dass manche DDR-Studenten, von der westlichen Protestkultur beeindruckt, hnliche Aktionen auch bei sich zu Hause beginnen wollten. In einem Informationsbericht des MfS vom Mai 1968 wird von einer so genannten Demokratisierungswelle unter den Jura-Studenten der Humboldt-Universitt gesprochen40 . Dann wird die Meinung zitiert: Wir knnen ja auch unsere Meinung durch Protestdemonstrationen mit Schildern und Plakaten usw. zum Ausdruck bringen.41 Weiter heit es in dem Bericht: Man verweist in den Diskussionen auf die Studenten-Demonstrationen in der C SSR, Westdeutschland, Polen und Frankreich. Laut MfS-Bericht waren DDR-Studenten der Meinung, dass man sich auch bei uns Rechte und Freiheiten erkmpfen sollte. Durch die Ereignisse in der C SSR hegen sie groe Hoffnungen. Sie sehen fçr sich in der Bildung einer unabhngigen Jugendorganisation eine Mglichkeit, ihre Ziele, die sie auch marxistisch nennen, zu verwirklichen. Alle auftretenden bzw. aufgetretenen Mngel an der Universitt liegen nach ihrer Meinung im System unseres Staates begrçndet42 . Anlass zur Klage gab es im Studentenalltag genug. Ein Student vertrat laut Stasi-Bericht die Meinung, er wçrde sofort gegen das schlechte MensaEssen demonstrieren43 . In den Stasi-Zentralen erinnerte man sich zu diesem Zeitpunkt gewiss daran, dass die Protestbewegung der Prager Studenten im Oktober 1967 mit einer Kerzendemonstration gegen die Stromausflle in einem Studentenwohnheim begonnen hatte. Differenziertere Gedanken machten sich Mitglieder der Evangelischen Studentengemeinde in Berlin, wo in Diskussionsveranstaltungen auch Gastredner aus der Tschechoslowakei auftraten44 . Krawalle, wie sie von den Studenten in der VR Polen organisiert wurden, seien an der HumboldtUniversitt nicht mglich, da einerseits hierfçr nicht die geeignete Situation vorhanden sei und andererseits ein derartiges Vorgehen sofort eine Konfrontation mit der Staatsmacht zur Folge htte. Man mçsse deshalb den Weg gehen, wie er in der C SSR beschritten wurde. Dabei dçrfe man nicht sofort voll gegen die SED auftreten, sondern muss mit der Partei gehen und ihr eine Fehlerdiskussion aufzwingen, die zu Auseinandersetzungen in der Parteifçhrung fçhren wçrde.45 Auch Steigerwald sieht in seinem Buch çber Marcuse den Zusammenhang zwischen der westlichen Studentenrebellion und dem Prager Frçhling: Die Auseinandersetzungen mit der Rechtsabweichung im internationalen Kommunismus, die vor allem durch die Ereignisse in der C SSR vorangetrieben werden muss, wird auch zum verstrkten Kampf gegen antisowjetische Auffassungen in linksliberalen und linksbçrgerlichen Kreisen fçhren mçssen, die auf der Grundlage abstrakter Freiheitslosungen reaktiviert werden. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass die Ansichten eines linksbçrgerlichen ,dritten` Weges zwischen Bourgeoisie und Proletariat strkere Belebung erfah- ren.46 IX. Die Ideale starben langsam Als in den frçhen Morgenstunden des 21. August 1968 die Nachrichtensprecher des DDR-Rundfunks die verlogene Erklrung der WarschauerPakt-Staaten çber den Einmarsch ihrer Truppen in die C SSR verlasen, empfanden das viele Menschen als einen fçrchterlichen Schlag. Die moralische Emprung war ungeheuer gro. Es gab zahlreiche Proteste, individuelle Verweigerungen und hilflose Gesten des Widerstandes47 . Es begannen ideologische Klrungsprozesse. Viele junge Leute liefen verfçhrt von den Ehrlichkeitsphrasen ihrer Jungpionierzeit ins offene Messer der Staatssicherheit. Die einen zerstrten unwiederbringlich ihre berufliche Laufbahn, andere lernten die Taktik der Anpassung ohne Selbstaufgabe, Dritte wurden zu Zynikern und Karrieristen. Wieder gab es unendlich viele jener bsen seelischen 40 MfS, Verwaltung Gro-Berlin, A 1140/1, Stadtarchiv Berlin, Einzel-Information 29/68 vom 25.5.1968, 3 Bl. 41 Ebd., Bl. 1. 42 MfS (Anm. 40), Bl. 2. 43 Ebd., Bl. 2. 44 MfS, Verwaltung Gro-Berlin, A 1140/2, Stadtarchiv Berlin, Einzel-Information 48/68 vom 24.7.1968, 3 Bl. 45 Ebd., Bl. 1. 46 R. Steigerwald (Anm. 23), S. 9. 47 Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Wer sich nicht in Gefahr begibt . . .. Protestaktionen gegen die Intervention in Prag und die Folgen von 1968 fçr die DDR-Opposition, in: KlausDietmar Henke/Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand und Opposition in der DDR, Kln u. a. 1999, S. 257 ff. 45 Aus Politik und Zeitgeschichte B 2223/2001 Wunden, die nicht zugehn wollten unter dem Dreckverband, wie es Wolf Biermann 1976 in einem Lied ausdrçckte48 . Die Erinnerungen an den Prager Frçhling waren in den folgenden 21 Jahren streng tabuisiert. Die wenigen in der DDR erhltlichen Darstellungen der Geschichte der Tschechoslowakei handelten das Jahr 1968 mit einigen hlzernen Floskeln ab. Mit den Mglichkeiten der Information çber die internationale Studentenrevolte sah es nicht viel besser aus. Immerhin ffneten einige Romane und Filme winzige Fensterchen und wurden entsprechend intensiv wahrgenommen. ber den Pariser Mai konnte man in dem 1972 in der DDR verffentlichten Roman Hinter Glas von Robert Merle einiges nachlesen. ber die Revolte der Studenten von Berkeley handelte der Film Blutige Erdbeeren, der auch in der DDR Mitte der siebziger Jahre zum Kultfilm wurde. Die Musik und die Bilder hatten eine suggestive Anziehungskraft. Es ist bis heute erstaunlich, dass es die Kulturbehrden wagten, dem Kinopublikum der DDR solche Kost zu verabreichen. Als es am 7. Oktober 1977 zu den Krawallen auf dem Alexanderplatz kam, setzten sich die Jugendlichen aufs Straenpflaster, hoben die gespreizten Finger zum Siegeszeichen und sangen Give peace a chance! Die sozialistischen Ideale starben sehr langsam. Die Westachtundsechziger trumten von der Revolution und haben eine gesellschaftliche Reform bewirkt. Die Ostachtundsechziger dagegen wollten den Sozialismus reformieren und haben damit spter eine Revolution ausgelst, die bei aller Gewaltlosigkeit in ihren Folgen an Radikalitt der Konsquenzen kaum zu çberbieten ist. Wenn die Rebellen der APO heute in hohen Staatsmtern sitzen, zeigt dies vor allem die Lebenskraft einer Gesellschaft, die sich im Widerspruch erneuert. Im Osten dagegen wurde jeder schpferische Impuls erstickt. Ein wirklicher Generationswechsel fand nicht statt. Die einen verkamen auf dem langen Marsch durch die Institutionen und nderten nichts als sich selbst. Sie wurden zu Greisen, ehe sie ihre Kindheit beendet hatten. Die anderen verkrochen sich in den windstillen Ecken, die es in der DDR durchaus gab, und versumten es dabei, erwachsen zu werden. Man hat den demokratischen Aufbruch des Herbstes 1989 die Revolution der Vierzigjhrigen genannt. Viele hatten sich den rebellischen Geist der sechziger Jahre bewahrt, jene Mischung aus Aufsssigkeit und Weltverbesserung. Doch als die Massen endlich auf die Strae gingen, wollten sie von den sozialistischen Idealen nichts mehr hren. Die Idee einer herrschaftsfreien und klassenlosen Gesellschaft zerfiel. Die versumte Revolte von 1968 lie sich nicht nachholen. 48 Wolf Biermann, Und als wir ans Ufer kamen, in: ders. (Anm. 21), S. 280. 46Aus Politik und Zeitgeschichte B 2223/2001