ERSTES BUCH I Ich komme um zehn Uhr vormittags im Hotel Savoy an. Ich war entschlossen, ein paar Tage oder eine Woche auszuruhen. In dieser Stadt leben meine Verwandten - meine Eltern waren russische Juden. Ich möchte Geldmittel bekommen, um meinen Weg nach dem Westen fortzusetzen. Ich kehre aus dreijähriger Kriegsgefangenschaft zurück, habe in einem sibirischen Lager gelebt und bin durch russische Dörfer und Städte gewandert, als Arbeiter, Taglöhner, Nachtwächter, Kofferträger und Bäckergehilfe. Ich trage eine russische Bluse, die mir jemand geschenkt hat, eine kurze Hose, die ich von einem verstorbenen Kameraden geerbt habe, und Stiefel, immer noch brauchbare, an deren Herkunft ich mich selbst nicht mehr erinnere. Zum erstenmal nach fünf Jahren stehe ich wieder an den Toren Europas. Europäischer als alle anderen Gasthöfe des Ostens scheint mir das Hotel Savoy mit seinen sieben Etagen, seinem goldenen Wappen und einem livrierten Portier. Es verspricht Wasser, Seife, englisches Klosett, Lift, Stubenmädchen in weißen Hauben, freundlich blinkende Nachtgeschirre wie köstliche Überraschungen in braungetäfelten Kästchen; elektrische Lampen, aus rosa und grünen Schirmen erblühend wie aus Kelchen; schrillende Klingeln, die einem Daumendruck gehorchen; und Betten, daunengepolsterte, schwellend und freudig bereit, den Körper aufzunehmen.!, Ich freue mich, wieder ein altes Leben abzustreifen wie so oft in diesen Jahren. Ich sehe den Soldaten, den Mörder, den fast Gemordeten, den Auferstandenen, den Gefesselten, den Wanderer. Ich ahne Morgendunst, höre den Trommelwirbel der marschierenden Kompanie, auf klirrende Fensterscheiben im höchsten Stockwerk; erblicke einen Mann in weißen Hemdsärmeln, die zuckenden Glieder der Soldaten, eine Waldlichtung, die vom Tau glänzt; ich stürze ins Gras vor »fiktivem Feind« und habe den brünstigen Wunsch, hier liegenzubleiben, ewig, im samtenen Gras, das die Nase streichelt. ii Ich höre die Stille des Krankensaals, die weiße Stille. Ich stehe an einem Sommermorgen auf, höre das Trillern gesunder Lerchen, schmecke den Morgenkakao mit Buttersemmel und den Duft von Jodoform in der »ersten Diät«. Ich lebe in einer weißen Welt aus Himmel und Schnee, Baracken bedecken die Erde wie gelber Aussatz. Ich schmecke den süßen letzten Zug aus einem aufgeklaubten Zigarettenstummel, lese die Inseratenseite einer heimatlichen, uralten Zeitung, aus der man vertraute Straßennamen wiederholen kann, den Gemischtwarenhändler erkennt, einen Portier, eine blonde Agnes, mit der man geschlafen hat. Ich höre den wonnigen Regen in durchwachter Nacht, die hurtig schmelzenden Eiszapfen in lächelnder Morgensonne, ich greife die mächtigen Brüste einer Frau, die man unterwegs getroffen, ins Moos gelegt hat, die weiße Pracht ihrer Schenkel. Ich schlafe den betäubenden Schlaf auf dem Heuboden, in der Scheune. Ich schreite über zerfurchte Acker und lausche dem dünnen Sang einer Balalaika. So vieles kann man in sich saugen und dennoch unverändert an Körper, Gang und Gehaben bleiben. Aus Millionen Gefäßen schlürfen, niemals satt sein, wie ein Regenbogen in allen Farben schillern, dennoch immer ein Regenbogen sein, von der gleichen Farbenskala. Im Hotel Savoy konnte ich mit einem Hemd anlangen und es verlassen als der Gebieter von zwanzig Koffern - und immer noch der Gabriel Dan sein. Vielleicht hat mich dieser Einfall so selbstbewußt gemacht, so stolz und herrisch, daß der Portier mich grüßt, mich, den armen Wanderer in der russischen Bluse, daß ein Boy geschäftig meiner harrt, obwohl ich gar kein Gepäck habe. Ein Lift nimmt mich auf, Spiegel zieren seine Wände, der Liftboy, ein älterer Mann, läßt das Drahtseil durch seine Fäuste gleiten, der Kasten hebt sich, ich schwebe - und es kommt mir vor, als würde ich so noch eine geraume Weile in die Höhe fliegen. Ich genieße das Schweben, berechne, wieviel Stufen ich mühsam erklimmen müßte, wenn ich nicht in diesem Prachtlift säße, und werfe Bitterkeit, Armut, Wanderung, Heimatlosigkeit, Hunger, Vergangenheit des Bettlers hinunter -tief, woher es mich, den Emporschwebenden, nimmermehr erreichen kann. Mein Zimmer - ich habe eines der billigsten bekommen - liegt im sechsten Stockwerk und trägt die Nummer 703. Die Zahl gefällt mir - ich bin zahlengläubig -, die Null in der Mitte ist wie eine Dame, von 12 einem altern und einem jungem Herrn flankiert. Auf dem Bett liegt eine gelbe Decke; gottlob, keine graue, die ans Militär erinnern könnte. Ich knipse ein paarmal das Licht an und aus, schlage die Tür des Nachtkästchens auf, die Matratze gibt dem Druck der Hand nach und federt empor, Wasser blinkt aus der Karaffe, das Fenster geht in Lichthöfe, in denen lustig bunte Wäsche flattert, Kinder schreien, Hühner lustwandeln. Ich wasche mich und schlüpfe langsam ins Bett, jede Sekunde koste ich aus. Ich öffne das Fenster, die Hühner schwatzen laut und lustig, es ist wie süße Schlafmusik. Ich schlafe ohne Traum den ganzen Tag. II Späte Sonne rötete die höchsten Fenster des gegenüberliegenden Hauses; die Wäsche, die Hühner, die Kinder waren aus dem Hofe verschwunden. Am Vormittag, als ich ankam, hatte es leise geregnet; weil es inzwischen heiter geworden war, schien es mir, als hätte ich nicht einen Tag, sondern drei geschlafen. Meine Müdigkeit war abgetan; mein Herz festlich gestimmt. Ich war neugierig auf die Stadt, das neue Leben. Mein Zimmer schien mir vertraut, als hätte ich schon lange darin gewohnt, bekannt die Glocke, der Druckknopf, der elektrische Taster, der grüne Lampenschirm, der Kleiderkasten, die Waschschüssel. Alles heimisch, wie in einer Stube, in der man eine Kindheit verbracht, alles beruhigend, Wärme verschüttend, wie nach einem lieben Wiedersehn. Neu war nur der Zettel an der Tür, auf dem zu lesen stand: »Nach zehn Uhr abends wird um Ruhe gebeten. Für abhanden gekommene Schmuckstücke keine Haftung. Tresor im Hause. Hochachtungsvoll Kaleguropulos, Hotelwirt« Der Name war fremd, ein griechischer Name, ich bekam Lust, ihn zu deklinieren: Kaleguropulos, Kaleguropulu, Kaleguropulo — eine leise Erinnerung an ungemütliche Schulstunden; einen Griechischlehrer, der aufstieg aus vergessenen Jahren in einem patinagrünen Jäckchen, 13 drängte ich zurück. Dann beschloß ich, durch die Stadt zu gehen, vielleicht einen Verwandten aufzusuchen, wenn Zeit dazu blieb, und zu genießen, wenn dieser Abend und diese Stadt Genuß bieten wollten. Ich gehe den Korridor entlang der Haupttreppe zu und freue mich über die schöne Quaderpflasterung des Hotelgangs, die rötlichen, sauberen Steine, das Echo meiner festen Schritte. Langsam steige ich die Treppe hinunter, aus unteren Stockwerken klingen Stimmen, hier oben ist alles still, alle Türen sind geschlossen, man geht wie durch ein altes Kloster, an den Zellen betender Mönche vorbei. Das fünfte Stockwerk sieht genauso wie das sechste aus, man kann sich leicht irren; dort oben und hier hängt eine Normaluhr gegenüber der Treppe, nur gehen die beiden Uhren nicht regelmäßig. Die im sechsten Stockwerk zeigt sieben Uhr und zehn Minuten, hier ist es sieben Uhr, und im vierten Stock sind es zehn Minuten weniger. Über den Quadersteinen des dritten Stockwerks liegen dunkelrote, grüngesäumte Teppiche, man hört seinen Schritt nicht mehr. Die Zimmernummern sind nicht an die Türen gemalt, sondern auf ovalen Porzellantäfelchen angebracht. Ein Mädchen kommt mit einem Staubwedel und einem Papierkorb, hier scheint man mehr auf Sauberkeit zu achten. Hier wohnen die Reichen, und Kaleguropulos, der Schlaue, läßt absichtlich die Uhren zurückgehn, weil die Reichen Zeit haben. Im Hochparterre standen zwei Flügel einer Tür weit offen. Es war ein großes Zimmer mit zwei Fenstern, zwei Betten, zwei Kasten, einem grünen Plüschsofa, einem braunen Kachelofen und einem Ständer für Gepäck. An der Tür war kein Zettel des Kaleguropulos zu sehen - vielleicht durften die Bewohner des Hochparterres nach zehn Uhr lärmen, ihnen haftete man vielleicht für »abhanden gekommene Schmuckstücke« - oder wußten sie bereits von den Tresors, oder sagte es ihnen Kaleguropulos persönlich? Aus einem benachbarten Zimmer rauschte eine Frau heraus, parfümiert und in einer grauen Federboa - das ist eine Dame, sage ich mir und gehe, han hinter ihr, die wenigen Stufen hinunter, ihre kleinen Lackstiefelchen fröhlich betrachtend. Die Dame hält sich eine Weile beim Portier auf, ich gelange mit ihr gleichzeitig zur Tür, der Portier grüßt, mir schmeichelt es, daß der Portier mich vielleicht für den Begleiter der reichen Dame hält. Ich beschloß, weil ich keine Richtung wußte, hinter der Dame einher-zugehn. M Sie bog aus dem engen Gäßchen, in dem das Hotel stand, rechts ab, da weitete sich der Marktplatz. Es mußte Markttag gewesen sein, Heu und Häcksel lagen verstreut auf dem Pflaster, man schloß gerade die Läden, es klirrten Schlüssel, und Ketten rasselten, Hausierer zogen heim mit kleinen Handwagen.-Frauen mit bunten Kopftüchern eilten mit vollen und vorsichtig vor den Leib gehaltenen Töpfen, berstenden Markttaschen am Arm, aus denen hölzerne Kochlöffel hervorschauten. Spärliche Laternen streuten silbernes Licht in die Dämmerung, auf dem Bürgersteig entwickelte sich .ein Korso, Männer in Uniform und Zivil wedelten mit schlanken Rohrstäbchen, und Wolken russischen Parfüms wallten auf und verschwanden wieder. Wagen kamen vom Bahnhof geholpert, mit hochgeschichtetem Gepäck, vermummten Reisenden. Das Pflaster war schlecht, wies Mulden und plötzliche Versenkungen auf, über schadhafte Stellen waren faulende Latten gelegt, die überraschend knarrten. Dennoch sah die Stadt am Abend freundlicher aus als am Tage. Am Vormittag war sie grau, Kohlendunst naher Fabriken wälzte sich über sie aus riesigen Schornsteinen, schmutzige Bettler krümmten sich an den Straßenecken, und Unrat und Mostkübel waren in engen Gäßchen gehäuft. Die Dunkelheit aber barg alles, Schmutz, Laster, Seuche und Armut, gütig, mütterlich, verzeihend, vertuschend. Häuser, die nur gebrechlich und schadhaft sind, scheinen im Dunkel gespenstisch und geheimnisvoll, von einer willkürlichen Architektur. Schiefe Giebel wachsen sanft in den Schatten, armseliges Licht winkt heimlich durch halberblindete Scheiben, zwei Schritte daneben brechen Ströme von Licht aus mannshohen Fenstern einer Konditorei, Spiegel widerstrahlen.Kristall und Lüster, Engel schweben, lieblich gebeugt, an der Deckenwölbung. Es ist die Konditorei der reichen Welt, die in dieser Fabrikstadt Geld erwirbt und ausgibt. Hierher ging die Dame, ich folgte ihr nicht, weil ich bedachte, daß mein Geld eine geraume Zeit würde reichen müssen, ehe ich fortreisen konnte. Ich schlenderte weiter, sah schwarze Gruppen behender Kaftanjuden, hörte lautes Gemurmel, Gruß und Gegengruß, zorniges Wort und lange Rede - Federn, Prozente, Hopfen, Stahl, Kohle, Zitronen flogen, von Lippen in die Luft geschleudert, in Ohren gezielt. Männer mit verdächtigem Blick und Kautschukkragen schienen Polizei. Ich griff nach meiner Brusttasche, wo der Paß lag, unwillkürlich, wie ich nach !5 der Mütze gegriffen hatte als Soldat, wenn ein Vorgesetzter in der Nähe war. Ich war Heimkehrer, meine Papiere waren in Ordnung, ich hatte nichts zu fürchten. Ich ging zu einem Schutzmann, fragte nach der Gibka, wo meine Verwandten wohnen, der reiche Onkel Phöbus Böhlaug. Der Schutzmann sprach Deutsch, viele Menschen sprachen hier Deutsch, deutsche Fabrikanten, Ingenieure und Kaufleute beherrschten Gesellschaft, Geschäft, Industrie dieser Stadt. Ich mußte zehn Minuten gehn und dachte an Phöbus Böhlaug, von dem mein Vater in der Leopoldstadt mit Neid und Haß gesprochen hatte, wenn er von vergeblichen Ratensammlungen müde und zerdrückt heimgekommen war. Den Namen Phöbus hatte jedes Familienmitglied mit Respekt genannt, es war, als hätte man wirklich vom Sonnengott gesprochen; nur mein Vater sprach immer von »Phöbus, dem Lump« -weil er angeblich mit der Mitgift der Mutter Geschäfte gemacht hatte. Mein Vater war immer zu feige gewesen, hatte nie seine Mitgift gefordert, hatte immer nur, jährlich um dieselbe Zeit, in der Fremdenliste nachgelesen, ob Phöbus Böhlaug im Hotel Imperial abgestiegen sei, und wenn er da war, ging mein Vater den Schwager in die Leopoldstadt einladen, zu einem Tee. Die Mutter trug ein schwarzes Kleid mit spärlich gewordenem Flitterbesatz, sie achtete den reichen Bruder, als wäre er etwas sehr Fremdes, Königliches, als hätte sie nicht beide ein Schoß geboren, ein Brüstepaar gesäugt. Der Onkel kam, brachte mir ein Buch, Lebzelte dufteten aus der dunklen Küche, in der mein Großvater wohnte, aus der er nur bei festlichen Gelegenheiten hervorkam, als wäre er gerade gar geworden, frisch gewaschen, mit einem weiß gestärkten Brustvorsatz, zwinkernd durch die viel zu schwache Brille, vorgeneigt, um den Sohn Phöbus zu sehn, den Stolz des Alters. Phöbus hat ein breites Lachen, ein quellendes Doppelkinn und rote Nackenwülste, er riecht nach Zigarren und manchmal nach Wein, und er gibt jedem einen Kuß auf beide Wangen. Er spricht viel, laut und fröhlich, aber wenn man ihn fragt, ob die Geschäfte gutgehen, quellen seine Augen hervor, er sinkt zusammen, jeden Augenblick kann er anfangen zu schlottern wie ein frierender Bettler, sein Doppelkinn verschwindet im Kragen: »Die Geschäfte gehn nicht mehr, in diesen Zeiten. Wie ich klein war, bekam ich einen Mohnbeugel für eine halbe Kopeke, zehn Kopeken kostet jetzt ein Brot, die Kinder - unberufen - werden groß und brauchen Geld, Alexander will jeden Tag Taschengeld.« 16 Der Vater zupfte an den Manschettenröllchen und stieß sie wieder am Tischrand zurück, lächelte, wenn ihn Phöbus ansprach, schwach und lauernd und wünschte seinem Schwager einen Herzschlag. Nach zwei Stunden stand Phöbus auf, drückte der Mutter ein Silberstück in die Hand, dem Großvater eines, und ein großes, glänzendes steckte er in meine Tasche. Der Vater begleitete ihn, weil es dunkel war, die Treppe hinunter, mit der Petroleumlampe in hocherhobener Hand, und die Mutter rief: »Nathan, gib acht auf den Schirm!« Der Vater gab acht auf den Schirm, und man hörte noch, da die Tür offenstand, das gesunde Reden Phöbus'. Zwei Tage später war Phöbus verreist, und der Vater verkündete: »Der Lump ist schon weggefahren.« »Hör auf, Nathan!« sagte die Mutter. Ich kam in die Gibka. Es ist eine vornehme Vorstadtstraße, mit weißen, niederen Häusern, neuen und verzierten. Ich sah erleuchtete Fenster im Hause Böhlaugs, aber die Tür war geschlossen. Ich überlegte eine Weile, ob ich so spät noch hinaufgehen sollte, es mußte schon zehn Uhr sein - da hörte ich Klavierspiel und ein Cello, eine weibliche Stimme, einen Schall von klatschenden Spielkarten. Ich dachte, daß es nicht anginge, in solchem Anzug, wie ich ihn trug, in die Gesellschaft zu kommen, von meinem ersten Auftreten hing alles ab - ich beschloß, den Besuch für morgen aufzuschieben, und kehrte ins Hotel zurück. Der vergebliche Weg hatte mich mißmutig gemacht, der Portier grüßte nicht mehr, als ich ins Hotel trat. Der Liftmensch beeilte sich nicht, als ich auf den Knopf drückte. Er kam langsam, in meinem Gesicht for-\ sehend. Es war ein fünfzigjähriger livrierter Mensch, ein alter Liftknabe; ich ärgerte mich, daß in diesem Hotel nicht kleine, rotwangige Knirpse den Fahrstuhl bedienten. Ich entsann mich, daß ich noch einen Blick in den siebenten Stock hatte werfen wollen, und schritt die Stiege hinauf. Oben war der Korridor sehr schmal, die Decke hing tiefer, aus einer Waschküche strömte grauer Dunst, und es roch nach feuchter Wäsche. Zwei, drei Türen mußten halb offenstehn, man hörte streitende Stimmen, eine Normaluhr war, wie ich vermutet hatte, nicht vorhanden. Ich wollte gerade die Stiege hinuntergehn, da hielt knarrend der Fahrstuhl, die Tür ging auf, der Liftmensch warf einen verwunderten Blick auf mich und ließ ein Mädchen aussteigen. Sie trug einen kleinen grauen Sporthut, wandte mir ein braunes Gesicht zu und große, graue, schwarz bewimperte Augen. Ich grüßte und schritt die Stiege hinunter. Etwas zwang mich, vom letzten Treppenabsatz wieder aufzublicken, da glaubte ich, die biergelben Augen des Liftboys vom Treppengeländer her auf mich gerichtet zu sehn. Ich schloß meine Tür ab, weil ich eine unbestimmte Furcht hatte, und begann, in einem alten Buch zu lesen. III Ich war nicht schläfrig. Eine Kirchturmglocke bettet regelmäßige Schläge in die weiche Nacht. Über mir höre ich Schritte, behutsame, sanfte, unaufhörliche, es müssen Frauenschritte sein - ging jene Kleine aus dem siebenten Stock so rastlos auf und ab? Was hatte sie? Ich sah hinauf zur Decke, weil mir plötzlich der Einfall kam, daß die Decke durchsichtig geworden war. Man sah vielleicht die zierlichen Fußsohlen des graugekleideten Mädchens. Ging sie barfuß oder in Pantoffeln? Oder in grauen Strümpfen aus Halbseide? Ich erinnerte mich, wie sehnsüchtig ich und viele Kameraden einen Urlaub erwartet hatten, der den Wunsch nach einem wildledernen Halbschuh erfüllen konnte. Gesunde Bauernmädchenbeine durfte man streicheln, breitsohlige Füße, mit abstehendem großem Zeh, die durch den Schlamm der Felder, durch den Lehm der Landstraße wanderten, Körper, für die die harten Schollen eines gefrorenen Herbstackers ein Liebesbett bildeten. Gesunde Oberschenkel. Minutenschnelle Liebe in der Dunkelheit vor einbrechendem Befehl. Ich entsann mich der ältlichen Lehrerin in einem Etappennest, der einzigen Frau jenes Orts, die vor Krieg und Überfall nicht geflüchtet war. Es war ein spitzes Mädchen, über dreißig, man nannte sie den »Drahtverhau«. Aber es gab nicht einen, der sie nicht umworben hätte. Denn weit und breit, im Umkreis von Kilometern, war sie die einzige Frau mit Halbschuhen und durchbrochenen Strümpfen. In diesem Riesenhotel Savoy mit den 864 Zimmern, ja in dieser ganzen Stadt wachten vielleicht nur zwei Menschen, ich und das Mädchen über mir. Man könnte ganz gut beieinander sein, ich, Gabriel, und ein kleines braunes Mädchen mit freundlichem Gesicht, großen, grauen, schwarz bewimperten Augen. Wie dünn mußten die Decken dieses Hauses sein, wenn die Gazellenschritte so deutlich zu hören waren; 18 selbst den Geruch ihres Leibes glaubte ich zu spüren. Ich beschloß nachzusehn, ob diese Schritte, wirklich dem Mädchen-gehörten. Im Korridor brannte ein dunkelrotes Glühlämpchen; Schuhe, Stiefel, Frauenhalbschuhe standen vor den Zimmertüren, alle ausdrucksvoll wie Menschengesichter. Im siebenten Stockwerk brannte überhaupt keine Lampe, schwaches Licht rann aus geblendeten Glasscheiben. Gelb und dünn floß ein Strahl durch eine Ritze, es ist Zimmer 800 - da muß der rastlose Spaziergänger wohnen. Ich kann durchs Schlüsselloch sehn - es ist das Mädchen. Sie schreitet in einem weißen Gewand - es ist ein Bademantel - auf und ab, bleibt eine Weile am Tisch stehn, sieht in ein Buch und beginnt ihre Wanderung von neuem. Ich bemühe mich, ihr Gesicht zu erhaschen - sehe nur die schwache Rundung eines Kinns, das Viertel eines Profils, wenn sie stehenbleibt, ein Büschel Haare, und sooft der Mantel bei einem weiten Schritt sich lüftet, einen Schimmer ihres braunen Fleisches. Irgendwoher kam ein mühsamer Husten, jemand spuckte in einen Kübel, es klatschte laut. Ich kehrte in mein Zimmer zurück. Als ich die Tür schloß, glaubte ich einen Schatten im Korridor zu sehen; ich riß die Tür weit auf, daß das Licht meines Zimmers einen Teil des Ganges erhellte. Aber es war niemand gewesen. Oben hörten die Schritte auf. Das Mädchen schlief schon wahrscheinlich. Ich legte mich angekleidet aufs Bett und zog die Gardinen vom Fenster weg. Sanftes Grau des beginnenden Tags legte sich weich auf die Gegenstände des Zimmers. Unerbittlichen Morgenanbruch verkündeten eine knallende Tür und der brutale Ruf einer Männerstimme in einer unverständlichen Sprache. Ein Zimmerkellner kam - er trug eine grüne Schusterschürze, und die aufgekrempelten Hemdsärmel ließen schwarz- und krausbehaarte muskelreiche Unterarme bis zum Ellbogen sehn. Zimmermädchen gab es offenbar nur in den drei ersten Stockwerken. Der Kaffee war besser, als man erwartet hätte, aber was nutzte das, wenn keine Mädchen da waren in weißen Hauben? Das war eine Enttäuschung, und ich dachte nach, ob denn keine Möglichkeit vorhanden wäre, in den dritten Stock zu übersiedeln. 19 X Die Tür des Fahrstuhls war offen, Stasia saß da. Ich verbarg mekie Freude nicht, wir wünschten einander guten Abend wie alte Bekannte. Ich empfand den unvermeidlichen Liftboy bitter, er tat, als wüßte er nicht, daß ich im sechsten Stock aussteigen mußte, fuhr uns beide in den siebenten; hier stieg Stasia aus, verschwand in ihrem Zimmer, während der Liftmann noch wartete, als müßte er hier Passagiere mitnehmen: Wozu wartet er mit gelben Hohnaugen? Ich gehe also langsam die Treppe hinab, lausche, ob der Fahrstuhl sich in Bewegung setzt; endlich, ich bin in der Mitte, höre ich des Fahrstuhls glucksendes Geräusch und kehre um. Auf der obersten Stiege schickt sich der Liftm'ensch gerade an hinunterzusteigen. Er hat den Fahrstuhl leer laufen lassen und geht mit langsamer Bosheit zu Fuß. Stasia hat wahrscheinlich mein Klopfen erwartet. Ich will mich entschuldigen. »Nein, nein«, sagt Stasia. »Ich hätte Sie schon früher eingeladen, aber ich hatte Angst vor Ignatz. Er ist der Gefährlichste im Hotel Savoy. Ich weiß auch, wie Sie heißen, Gabriel Dan, und kommen aus der Gefangenschaft — ich hielt Sie gestern für einen - Kollegen - Artisten —* sie zögert — vielleicht fürchtet sie, mich zu beleidigen? Ich war nicht beleidigt. »Nein«, sagte ich, »ich weiß nicht, was ich bin. Früher wollte ich Schriftsteller werden, aber ich ging in den Krieg, und ich glaube, daß es keinen Zweck hat zu schreiben. - Ich bin ein einsamer Mensch, und ich kann nicht für alle schreiben.« »Sie wohnen gerade über meinem Zimmer«, sagte ich, weil ich doch nichts Schöneres sagen kann. »Weshattrwandern Sie die ganze Nacht herum?« »Ich lerne Französisch, ich möchte nach Paris gehn, etwas tun, nicht tanzen. Ein Dummkopf hat mich nach Paris mitnehmen wojlen - seither denke ich daran hinzufahren.« I. Als kh^t-Stasia-hinausging, sagte uns Ignatz guten MoigMJBwBuuL im Korridor, so selbstverständlich, als wäre hier sein ständiger Posten und nirgends sonst in der Welt. »Santschin wird wohl sterben?« fragt Ignatz. In diesem Augenblick ist es mir, als hätte der Tod die Gestalt des alten Liftknaben angenommen und stünde nun hier und warte auf eine Seele. I, Das Hotel Savoy schien mir leer. Santschin war nicht mehr da. Zwei-' mal nur war ich in seinem Zimmer gewesen. Aber mir war, als hätte ich einen heben guten Freund verloren. Was wußte ich von Santschin? Er war ein Clown im Theater und zu Hause traurig, warm und grob, er erstickte im Wäschedunst, jahrelang hatte er den Duft schmutziger fremder Wasche geatmet - wenn nicht in diesem Hotel Savoy, so doch in andern. In allen Städten der Welt gibt es kleinere oder größere Savoys, und überall in den höchsten Stockwerken wohnen die Santschins und ersticken am Dunst fremder Wäsche. Das Hotel Savoy war noch voll besetzt - von allen 864 Zimmern stand nicht ein einziges leer, nur ein Mensch fehlte, der' einzige Wladimir Santschin. Ich saß unten im Fünf-Ühr-Saal. Der Doktor lächelte mir zu, als wollte er sagen: Siehst du, wie recht ich hatte, als ich Santschin den Tod prophezeite? Er lächelte, als wäre er die medizinische Wissenschaft und feierte nun seinen Triumph. Ich trank einen Wodka und sah Ignatz an - war er der Tod, oder war er nur ein alter Liftknabe? Was glotzte er mit seinen gelben Bieraugen? Nun-fühlte ich, wie Haß in mir aufstieg gegen das Hotel Savoy, in dem die einen lebten und die andern starben, in dem Ignatz Koffer pfändete und die Mädchen sich nackt ausziehen mußten vor»Fa|)rikanten und Häusermaklern. Ignatz war wie ein lebendiges Gesetz dieses Hauses, Tod und Liftknabe. Ich werde mich nicht durch Stasia verlocken lassen hierzubleiben, denke ich. Für drei Tage reicht meine Barschaft, weil ich durch Glanz' Hilfe Geld gewonnen habe. Dann wird .man mich, wenn ich verhungere, genauso begraben wie den armen Santschin, weit draußen auf dem Jenseits des Friedhofs, in einer lehmigen Regenwürmergrube. Jetzt kriechen die Würmer und Schlangen schon über Santschins Sarg, drei Tage noch, acht oder zehn, und das Holz wird verfaulen und der schwarze, alte Anzug, den ihm jemand geschenkt hat und der schon längst fadenscheinig war. Hier steht Ignatz mit seinen gelben Bieraugen und fährt hinauf und hinunter mit dem Fahrstuhl und hat aucTHsaütschin zum letztenmal hinuntergefahren. 1, Er freut sich über das Hotel Savoy. Zum erstenmal lebt Zwonimir in einem großen Hotel. Er wundert sich gar nicht über Ignatz, den alten Liftknaben. Ich erzähle Zwonimir, daß in anderen Hotels kleine, milchwangige Buben die Fahrstühle bedienen. Zwonimir meint, es wäre schon vernünftiger, wenn eine solche Amerikasache einem altern, erfahrenen Herrn überlassen wird. Übrigens sind ihm beide unheimlich, der Fahrstuhl und Ignatz. Er geht lieber zu Fuß. I. Zwonimir schlägt Ignatz. Es sind freundliche Schläge, und Ignatz kann nichts dagegen tun. Ich beobachte Ignatz,, wie er zusammenzuckt, wenn sich ihm Zwonimir nähert. Es ist eine Reflexbewegung, keine Angst. Zwonimir ist der größte und stärkste Mann im Hotel Savoy, er kann Ignatz bequem unter den Arm nehmen. Er scheint furchtbar und gewalttätig, er poltert gern, und in seiner Nähe ist alles still und scheu. Dem alten Militärarzt ist Zwonimir sympathisch. Der Doktor zahlt ihm geme ein paar Schnäpse am Nachmittag. »Solche Doktoren wie Sie kenne ich vom Militär«, sagt Zwonimir. »Sie können Lebendige totmachen, dafür bekommen Sie eine hohe Gage. Sie können die Menschen vom Boden wegamputieren. Sie sind ein großer Chirurg. Ich möchte Ihnen nicht einmal einen Tripper anvertrauen.« Aber der Doktor lacht. Er ist nicht beleidigt. »Ich möchte Sie aufhängen!« sagt Zwonimir einmal freundschaftlich und klopft dem Doktor auf die Schulter. Nie hat dem Doktor jemand auf die Schulter geklopft. »Ein herrliches Hotel«, sagt Zwonimir und fühlt nicht das Geheimnisvolle dieses Hauses, in dem fremde Menschen, nur durch papierdünne Wände und Decken geschieden, nebeneinander leben, essen, hungern. Er findet es selbstverständlich, daß die Mädchen ihre Koffer verpfänden, bis sie nackt der Frau Jetti Kupfer anheimfallen. Er ist ein gesunder Mensch. Ich beneide ihn. Bei uns in der Leopoldstadt gab es keine so gesunden Kerle. Er freut sich an den Gemeinheiten. Er hat keine Achtung vor den Frauen. Er kennt keine Bücher. Er liest keine Zeitung. Er weiß nicht, was in der Welt vorgeht. Aber er ist mein treuer Freund. Er teilt sein Geld mit mir, und er würde auch sein Leben mit mir teilen. Und ich täte es genauso. Er hat ein gutes Gedächtnis und weiß nicht nur die Namen der Menschen, sondern auch die Nummern ihrer Zimmer. Und wenn der Zimmerkellner sagt: 403 ist bei 41 gewesen, so weiß er, daß der Schauspieler Nowakowski bei Frau Goldenberg geschlafen hat. Er weiß auch vieles über Frau Goldenberg; es ist jene Dame, die ich am ersten Tage getroffen habe. »Hast du Geld genug?« frage ich. Aber Zwonimir zahlt nicht. Er ist dem Hotel Savoy verfallen. Ich erinnere mich an ein Wort des toten Santschin. Der hatte nur gesagt - es war ein Tag vor seinem Tode -, daß alle, die ber wohnten, dem Hotel Savoy verfallen waren. Niemand entging dem Hotel Savoy. Ich warnte Zwonimir, aber er glaubte nicht. Er war gesund bis zur Gottlosigkeit, und er kannte keine Macht außer semer eigenen. »Das Hotel Savoy ist mir verfallen, Bruder«, sagte er.