rer Spannungen! Unter den vielen Gründen, über diese »Zeit-lichkeit« selber wahnsinnig zu werden, der tiefste! Wenn ich nach einigen Jahren, jetzt, heute, zu dieser Stunde einen Anschlag auf der Straße läse: »Ausstellung der nachgelassenen Bilder des Malers Saverio S.«, ginge ich hin? Ich weiß es nicht! Vor mir auf dem Tisch, wo ich dies niederschreibe, liegt eine Zeitung. Ihr Feuilleton bringt einen italienischen Brief von Stefan Mondhaus. Dieser Brief wirft einen kurzen Blick auf die neuen Korporationsgesetze der Halbinsel, beschreibt eine Festaufführung in der Arena von Verona und schließt mit einem Lobgesang auf den neuentdeckten Cimabue, der nach einer abenteuerlichen Odyssee endlich in dem patriotischen Hafen eines heimischen Sammlers gelandet ist: »Sprechet nicht von >Stil<, >Dekor<, >Rhythmus<, rettet Euch nicht in abgeleierte Phrasen, sondern werft Euch in die Knie vor der zerschmetternden Frömmigkeit und Einheit eines Jahrhunderts, das zu verstehen wir nicht würdig sind.« Ich aber denke nicht an die göttliche Tafel des Cimabue. Ich schaue ein farblos-dunkles Männerbildnis, von dem ich nicht weiß, ob ich es einst wirklich gesehen habe. Dennoch könnte ich es bis in die Feinheiten der Technik deutlich beschreiben. Die Konturen des Kopfes - ich sehe sie das leidende Antlitz rasch fließend umkreisen- waren durch ein gelbliches, knöchernes Weiß leuchtend gemacht. Die Hoteltreppe Der Liftboy machte verzweifelte Augen, aber der Fahrstuhl war komplett. Viel lieber hätte er die junge Dame befördert als eine trockene Last von vier Engländern, die ernst des Emporschwe-bens harrten. Francine hielt den wichtigen Brief in der Hand, den sie, vom Speisesaal rückkehrend, empfangen und kaum noch durchflogen hatte. Sie wußte nicht, was in dem Briefe stand, keine Worte, keine Einzelheiten, aber sie wußte, daß er ihr Philipps Herz ungetrübt entgegenbrachte, und dies gerade in dem Augenblick, da sie die Sicherheit hatte, von Guido frei zu sein. Das junge Mädchen verwunderte sich, daß dieser rettende Augenblick, den sie während der letzten sieben Nächte so heiß herbeigebetet hatte, nun, da er ihr gewährt war, keine größere Empfindung, kein krampfhafteres Glück in ihr wecke. Vielleicht ist es dieser Verwunderung und dem Wunsche nach deutlicheren Gefühlen zuzuschreiben, daß Francine die Rückkunft des Fahrstuhles nicht abwartete, sondern sich der breiten, rot und dickbelegten Treppe zuwandte, die den riesigen Schacht des Prunkhotels in sanft ansteigenden Rechtecken hoheitsvoll um-zirkte. Eine Befreiung war zu feiern, wie man sie größer nicht denken kann. Noch heute - nachdem am Ende der Woche die Grenze der Ungewißheit fast erreicht war - schien jede Hoffnung verwirkt, und in Francines klarem und wohlgeordnetem Geiste drängten sich unerbittlich die Vorkehrungen, Lügen und widerlichen Folgen, die notwendig sein sollten. Sie hatte alles wohl überlegt. An Härte gegen sich selbst fehlte es ihr*nicht. Philipp? Nun, Philipps Rechte bedrückten sie am wenigsten. Hatte er denn Rechte an Sie? Rechte, durch welche Vorzüge und Leistungen erworben? Aber ihre Eltern belügen zu müssen, niederträchtige Aus- 129 reden und Hintergehungen zu erfinden, und'clies alles mit freier Stirn und gespielter Heiterkeit, wie hätte sie das fertigbringen sollen! Ihre Eltern waren sehr alt und von der ahnungslosen Sittenstrenge längst verschollener Zeitalter erfüllt. Nicht daß sie, Francine, gegen solche Sittenstrenge auch nur in einem Winkel ihres Herzens rebelliert hätte. Sie war durchaus einverstanden mit ihr, wie mit jeder Festlegung und Erschwerung des Lebens. Obgleich sie von solchen Dingen keine starre Meinung hatte, fand sie es doch entzückend von Papa, dem ehemalig kaiserlichköniglichen Minister, daß er die Gegenwart ignorierte, daß er immer am Geburtstage seines langverstorbenen, sagenhaften Monarchen am häuslichen Tische in feierlicher Kleidung erschien und - wenn auch der Anlaß mit keinem Wort erwähnt wurde - ein stilles Gedenkfest zelebrierte. Sie war viel zu jung, um wider die Gegenwart irgendwelche Erbitterungen aus verletztem Standeshochmut zu hegen, dennoch empfand sie einen Abscheu vor aller Verbilligung des Lebens und hatte sich so auf ihre Weise gegen die Zeit gestellt, indem sie ihr blondes Haar nicht kurzgeschnitten trug. Und doch, auch die konservative Länge ihres Haares hatte ihr keinen Schutz geboten... Nun aber war die Erlösung da! Das Kaum-mehr-Erhoffte hatte ihr Gott geschenkt. Allein so schnell verzog sich der braune Nebel, der sie sieben Tage lang umlastet hatte, so selbstverständlich blieb jetzt alles beim Alten, so rasch war aus ihrem Erlebnis ein widerwärtiger Traum geworden, und nicht einmal ein Traum, daß sie die Flinkheit ihres Vergessens wie eine Unzucht empfand. Francine stand am Fuße der Treppe. Sie sah, daß man in der Halle schon die Tische für die Abendmusik und den Tanz rückte. Es war höchste Zeit zur Flucht. Sie hob den Kopf und maß den Abstand, der sie von ihrem Zimmer im letzten Stockwerk trennte. Der kathedralenhohe Raum wuchs schwindelnd über ihr. Und in der Höhe des Abgrunds hing der gewaltige Kronenlüster mit seinen mattblitzenden, leisklirrenden Prismen und schien in einem geheimnisvollen Luftzug zu schwanken. Sie dachte an den Wallfahrtsort, wohin die Mutter sie einmal, 130 noch als Kind, mitgenommen hatte. Hundert und mehr Stufen führten zur hohen, felsumpanzerten Kirche. Und die Mutter war all die hundert Stufen in Leistung einer Buße, zerknirscht, auf den Knien emporgerutscht. Wie nichtig mochte die Sünde der armen, immer schweigsamen Mutter gewesen sein, für die sie also andächtig Buße tat. Die Zeiten haben sich verändert und den Glauben geschwächt. Sie, Francine, würde nicht die hundert Stufen zu einer hohen Kirche hinanknien, aber immerhin den bequemen Fahrstuhl verschmähen und die teppichrote Treppe dieses Prunkhotels - in ihrem besten Abendkleid allerdings, mit bloßen Schultern und Armen - bußfertig emporwandern. Langsam setzte sie den Fuß auf die erste Stufe. Der Weg, der vor ihr lag, kam ihr weit und beschwerlich vor wie eine einsame Bergbesteigung, denn in dieser Minute war in dem mächtigen Treppenraum des Hotels kein Mensch zu sehen, und ganz verlassen fühlte sich Francine in diesem Raum, den zu überwinden sie sich auferlegt hatte. Aber nicht allein den Raum zu überwinden galt es. Als Kind schon hatte sie gelernt, ohne Schwindel und Schwäche sich selber Rechenschaft zu legen. Sie hatte gelernt, daß alle Träumerei, die Flut undeutlicher Gefühle Sünde sei, und die Religion eine ständige Gewissenserforschung gebiete. Nun war mit einem Schlage die unübersehbare Verwirrung behoben. Im letzten Augenblick war das Unerwartete geschehen, Gott selber hatte sich erbarmt und Gnade vor Recht ergehen lassen. So war es denn ihre Pflicht, ehe sie Guido für ewig in den Abgrund warf, ehe alles für immer ungeschehen blieb, ja nun hatte sie die harte Pflicht, das" Gesicht des Mannes noch einmal zurückzurufen. Aber wie strenge sie auch die Brauen kräuselte und ihre Stirn in Falten legte, Guido hatte kein Gesicht! Francinü sah angestrengt auf die Stufen nieder, um sein Bild aus dem Teppich zu locken. Doch nichts anderes erblickte sie als ihre schmalen und schwachbeschuhten Füße, die - und das hatte etwas Rührendes - gleichmäßig vor ihr einhertraten. Jenes Menschen aber konnte sie in sich nicht habhaft werden. Nichts von 131 ihm war gegenwärtig, kein Zug, keirjWort, nur sein Flüstern während jenes gefährlichen langsamen Bostons, den sie leider mit ihm getanzt hatte. Dieses Flüstern hatte keinen Inhalt; keiner Schmeichelrede, keines Liebenswerbens entsann sie sich. Nichts anderes war es als »Flüstern«, wie Wind nichts anderes ist als Wind, und wie Wind hatte das Flüstern mit lustig-spitzer Zunge ihre Ohrmuschel geküßt. Francine machte eine neue Anstrengung, mehr von Guido zu bannen als jenes kitzelnde Flüstern. Aber - wenn sie auch vor Willensanspannung die Zähne zusammenbiß - nichts anderes vermochte sie zu beschwören als eine tadellose Gliederpuppe im Smoking, die dieser und jener sein konnte, alle, nur Philipp nicht, der etwas dicker und kleiner war als Guido oder dieser und jener hier im Hause. Durchaus lächerlich erschien die tadellose Gliederpuppe, wenn sie ohne Rock im schwarzseidenen, überscharf in die Taille geschnittenen Gilet dasaß. Überdies saß sie in ihrem, Francinens, eigenen Zimmer, das zum Unglück die Nummer 517 trug. Sie saß im ersten empörenden Morgengrauen am Toilettetisch und rieb sich mit Francinens Cold-Creme die weißovale und selbstüberzeugte Scheibe ein, die sie an Stelle eines Gesichtes trug. Francine konnte vom Bette her, in dem sie schamlos lag, der Gliederpuppe eitel-ausführliche Anstalten beobachten, als wäre das Ganze nichts als selbstverständlich. Aufrichtig fand sie es auch nicht grauenhaft und nicht zum Weinen, sondern nur gleichgültig. Dies also war die Liebe! Und warum sollte die Liebe etwas anderes sein? Ein kitzelndes Flüstern im Ohr? Ein verlegener Rausch! Ein Gesicht, das nur eine eitle Scheibe ist, vor die man alle möglichen Physiognomien schieben kann! Doch etwas anderes war in der Liebe noch enthalten, etwas sehr Ernstes und Unerbittliches, das nichts mit Smoking, Boston, Gliederpuppen, Flüsterwind, Cold-Creme und leeren Gesichtsscheiben zu tun hatte. In all diesen Tagen des unsicheren 132 Bangens hatte Francine nur eine wirkliche Schmach erlebt. Das war die Szene in der Apotheke. Fünfzehn Minuten lang hatte sie es nicht gewagt, in den Laden einzutreten. Sie setzte die Worte der fremden Sprache, die sie sprechen sollte, immer wieder zusammen und nahm sie verzweifelt immer wieder auseinander in ihrem Sinn. Vor allem aber hoffte sie, daß sie in dem Magazin einen weißbärtigen, uralten Apotheker vorfinden werde, einen gütigen Greis, dem sich anzuvertrauen kein Ding der Unmöglichkeit sein würde. Sie stand dann zwar vor keinem jungen, aber auch keineswegs vor einem alten Apotheker, sondern- wie die Schwäche in ihren Knien es zeigte - vor einem Mann in den ekelhaftesten Jahren. Kein Wort brachte sie vorerst heraus, wurde rot und röter, und diente den zynischen Augen des Drogisten zur Weide, der sich wohl hütete, ihre Verzweiflung und seinen Genuß abzukürzen. Nach einer Weile dröhnenden Schweigens platzte sie endlich mit dem ungehörigsten aller Worte heraus und war einer Ohnmacht nahe. Der Apotheker, entschlossen, den Reiz der Szene bis auf die Neige zu kosten, stellte mit der hochnäsigen Miene ärztlicher Sachlichkeit unverschämte Fragen, riet, warnte, und verlor sich immer tiefer in üppige Verfänglichkeiten. Als ihm nichts anderes mehr übrig blieb, verabfolgte er ein Fläschchen mit roten Pillen, deren Wirkung er jedoch grausam-lüstern in Zweifel zog, und reichte Francinen endlich die Adresse einer sicheren weisen Frau, wobei er zärtlich ihren Arm abtastete. Wenn sie eine Sünde begangen hatte, dort im Apothekerladen war sie gebüßt für alle Zeiten. Der Himmel selbst schien mit dieser Buße zufrieden zu sein, denn heute hatte sich das Präparat des widerlichen Menschen gegen seinen eigenen Zweifel als wirksam erwiesen. Nun mußte sich Francine nichts mehr vorwerfen. Guido war an tadelloser Smoking mit einem unvorstellbaren Gesicht über dem Kragen, er war ein fader, langsamer Boston, dessen gummiartige Melodie man ebenso schnell vergißt wie jenes raffinierte Flüstern. Gestern hatte sie dem Menschen seinen zweiten 133 ■ief uneröffnet zurückgesandt. Ein djitter und vierter Brief ird wohl noch kommen. Natürlich! Soviel ist sie wohl wert! 3er nach dem siebenten oder neunten vergeblichen Versuch xd der Herr seine schriftlichen Zudringlichkeiten unterlassen, ich Rückkehr der Eltern dürfte sie es kaum mehr nötig haben, ; Post zu beaufsichtigen. Während Francine über den teppichdumpfen Treppenabsatz s ersten Stockwerks hinschritt, war es beschlossene Sache, ß nun, nie und in alle Ewigkeit nicht, Guido gelebt hatte. Mit leichten und heiteren Beinen begann sie jetzt die neuen ifen zu ersteigen, während sich ihr Blick voll unbekannten Dhlwollens in Philipps Brief versenkte: »Meine geliebte Francine,« - las sie - »endlich ist der große irf gelungen. Ich habe für uns beide die schönste Zukunft ge-nmert. Mit Stolz kann ich sagen, daß ich nur meiner Tätigkeit d keiner Protektion den unerwarteten Erfolg verdanke. Das :w Yorker Haus schickt mich in leitender Stellung nach Genf, ) ich das europäische Zweigunternehmen errichten und füh-i soll. Wir werden, meine süße Geliebte, die erstenjahre unse-Ehe am Genfer See zu Füßen des Mont Blanc verleben. Ist das :ht herrlich? -« Das unbekannte Wohlwollen war weg. Der salbungsvolle nfall von Philipps Worten verfolgte die Schreitende. >Großer Wurf gelungen!« ...»Ich habe uns beiden eine löne Zukunft gezimmert!« ... »Tätigkeit!« ... »Unsere Ehe!« »Zu Füßen des Mont Blanc!« juido hatte kein Gesicht, aber Philipp hatte ein Gesicht, ganz d gar das Gesicht, welches sein Briefstil ihr aus Amerika her-srtrug. Scharf sah die Zornige es vor sich. Sie sah die blonden rchen einer werdenden Glatze im Winde spielen. Philipps ue Augen (das Schönste an ihm übrigens) reichten ihr gerade zum Mund. Ohne den Kopf zu bewegen, hatte sie manchmal ie Augen geküßt, aber nur aus Mitleid, weil sie so groß war i er so klein. Hatte ein Mann, dessen Augen ihr gerade bis n Mund reichten, der in Amerika Geschäfte machte und über se »Tätigkeit« pathetische Schriftrede führte, als wären's Rit- 134 tertaten, hatte solch ein Mann das Recht, ihrer so sicher zu sein?! Wer war er denn? Hatte er Papas feine und resignierte Miene bei seiner Werbung nicht verstanden? Francine konnte nicht weiterlesen und ertappte sich dabei, daß sie vor Ärger - als hätte sie sich selber gar nichts vorzuwerfen -zwei Stufen auf einmal nahm. Plötzlich schrak sie zusammen und verlangsamte ihre Bewegung. Ein großer, glänzend aufgerichteter Herr im Frack mit Umhang kam ihr entgegen, die Treppe hinab. Ehe sie den Blick gleichgültig zur Seite schweifen ließ, nahm sie ein hartes, knochiges Modegesicht wahr, wie sie's trotz allem liebte, und grau-leuchtende Schläfen. Der Herr seinerseits bereitete ein ausführliches und eindrucksvolles Vorübergehen vor. Der für Francine höchst unangenehme Augenblick der Begegnung schien ihr endlos. Sie konnte sich, während sie Glieder und Blicke einzog, als wären sie Atem, die merkwürdige Frage stellen, ob zwei Schiffe, die draußen auf einsamer See Bord an Bord aneinander vorüberstreichen, ein ähnlich peinvoll-benommenes Gefühl haben, wie sie jetzt. Der Herr war hinter ihr verschwunden! Sie spürte aber genau und hingebungsvoll, daß er stehn blieb, kehrt machte und ihr nachsah. Da verwandelte sich Francine und verlor alle Gedanken. Wie ein Pferd ging sie gleichmäßig im Gespann des Männerblicks, der sie kräftig von hinten zügelte. Sie senkte tief den Kopf, als schritte sie gegen den sanften Widerstand eines erfahren gelenkten Geschirrs vorwärts. Heimliche Scheuklappen blendeten rechts und links ihre Augen ab, die doch kein Schreckbild und nichts anderes hätten sehen können als den falschen Marmor der Hotelwände. Langsam setzte sie Bein vor Bein mit der vorsichtigen Zierlichkeit eines Maultiers. Sie ging mit ganz engen Gliedern. Ihre Knie rieben sich oft aneinander, als müßten sie den Schritt mahlen wie ein unsichtbares Getreide. Francine konnte es vor sich selbst nicht ableugnen, daß ihr der aufgezwungene Gleichtakt und die umwölkte Gedankenlosigkeit wohltaten, daß sie ihr den Weg erleichterten. Als des Herrn 135 Tritt unter ihr, von neuem hallend, sich entfernte, bedauerte sie es fast, ohne Fesseln und sich selber überlassen weitergehn zu müssen. Noch immer unendlich hoch hing der Kronleuchter von der Kuppel herab. Sie fühlte die Versuchung, müde wie sie war, nach dem Lift zu schellen und sich in den fünften Stock und in ihr Zimmer bringen zu lassen, dessen Ziffernsumme, wie sie es abergläubisch längst berechnet hatte, Dreizehn ergab. Aber sogleich stand sie von dieser feigen Verirrung ab. Es war nicht ihre Art, Entschlüsse so leicht aufzugeben, die kleine Selbstbestrafung und ihren Willen der Bequemlichkeit aufzuopfern, wenn sie ihn auch - aus welchen Gründen immer - einem Menschen aufgeopfert hatte, von dessen Gesicht sie nichts mehr zurückrufen konnte, als eine leere weiße Scheibe. Im Weitersteigen begann sie Philipps Brief neuerdings zu lesen. Ihr Unmut war verschwunden: nur daß sie die Seite, die sie geärgert hatte, überschlug. Da fiel ihr Blick auf einen Satz, der sie so stark ergriff, daß sie mitten auf der Treppe stehen blieb: »Ich verdiene Dich nicht, meine hohe königliche Francine! Du stehst über mir injedem Sinne als Leib und Blut, als Mensch und Geist. Was dürfte ich von Dir anderes verlangen, als daß Du mir erlaubst, Dir zu dienen und Dich zu verstehen, solange ich Leben habe. - Alles was Du tust, wird für mich ewig wohlgetan sein, und wäre es Schädigung, Verrat, ja Vernichtung meiner eigenen Person! Von Dir habe ich nichts zu fordern. Dir aber gebe ich die Macht über mein Leben und meinen Tod.« Francine küßte, ohne sich zu bewegen, Philipps gute Augen. Das erstemal küßte sie diese blauen Augen (als trennte sie beide das Meer nicht) mit stillem Überschwang. Wie hatte sie ihm vorhin unrecht getan! Oh, Philipp verstand mit wahrem Edelmut seine Stellung! Er war der Zarte und Feste, er war die einzig zuverlässige Seele, von der sie immer geliebt werden würde. In seiner wunderbaren Zärtlichkeit hatte er dort drüben alles empfunden. Er ahnte alles und maßte sich nichts an. Sie war überzeugt davon, daß er den Zwischenfall auf geheimnisvolle 136 Weise vorgespürt hatte und daß sein Brief die Antwort auf ihr Erlebnis sei. Wie märchenhafte Nerven besaß Philipp doch trotz seiner »Tätigkeit«! Er weiß alles, ohne etwas zu wissen, und sie wird es ewig verschweigen dürfen, ohne eine Lügnerin zu sein. Francine schluckte glücklich an ein wenig Tränen. Das erstemal seit so vielen Tagen löste sich die Lethargie von ihrer Stirn. Jetzt erst empfand sie mit ganzer Kraft die Fülle der Gnade, die ihr zuteil geworden. Sie sah mit offenen Augen, welchen Erniedrigungen und Häßlichkeiten sie entgangen war, in die sie sich fast schon gefunden hatte. Und Philipps Brief riß die feinsten Wurzeln ihrer Verwirrung aus der Wirklichkeit, sein starkes Gelöbnis erst löste die letzten Schatten Guidos von ihrem Schicksal. Jetzt lag die tadellose Gliederpuppe wahrhaft im tiefsten Abgrund und ein dichtes Grab wälzte sich über sie. Nichts war geschehn. Francine aber war frei. Francine war wieder Francine. Klopfenden Herzens sprang sie die nächsten Stufen empor. In einem wahren Rausch gehetzter Innigkeit entwarf sie jetzt nichts anderes als das Bild der Wohnung, die sie mit ihrem Verlobten bald beziehen würde. Im Fluge teilte sie die Zimmer ein und nahm aufWärme, Ruhe, Wohlbehagen ihres künftigen Gatten zärtlichen Bedacht. Sie kannte Genf nicht, aber es war klar, daß ihre Wohnung in keiner schlechteren Gegend liegen dürfe als am Quai Mont Blanc, mit allen Fenstern auf den See hinaus. Sie versuchte auch zu glauben, daß ihre Gleichgültigkeit gegen Kinder eine heilbare Eigenschaft sei, Philipps wegen. - Wie gut war alles abgelaufen! In ihrer Zukunft klaffte kein Riß mehr. Für den Beginn des nächsten Monats kündigte Philipp seine Rückkehr nach Europa an. Sie war fest entschlossen, ihm bis Hamburg entge-genzureisen und ihn niemals mehr zu verlassen. Sie hielt es nicht nur für Zufall, daß er sich heute vielleicht schon in New York eingeschifft hatte. Francine faltete mit heißen Händen den Brief zusammen. Da bemerkte sie, daß vor ihr auf der Treppe eine uneröffnete Depesche lag. Zugleich mit Philipps Schreiben war sie ihr im Augenblick der Schicksalswende übergeben worden. Sie hatte sie, ohne 137 »anze Zeit über festgehalten. Sofort wußte sie: er hatten sich eine Reise nach Sizilien gegönnt. ien Gesellschaft und des sorgenden Dienstes an ivar auf eigenen Wunsch zurückgeblieben. Al-ährung dieses Wunsches hatte harte Kämpfe >llte es auf keinen Fall dulden, daß sie frei und mg die Zeit hier verbringe. Erst den stillen gewissen kränkenden Anspielungen auf die Jtnisse und Sitten, auf die allgemeine Emanzi-ticines baldige Ehe war es gelungen, den Vater sein Interdikt zu bewegen. Empfindsamer ar Papas Lebenselement! Aber wie recht hatte nit seiner veralteten Angst! ete eine Nachricht aus Palermo. Sie riß das i war von Neapel datiert, woher ihr die Eltern schon morgen vor Mittag sie zur Heimreise ne aufgeschrien. In dieser Depesche erblickte lelsgeschenk. Sie spürte es körperlich, wie die leiten aufbrachen, sie zu entsetzen wie eine te das sekundliche Näherkommen des Ret-Gnade Gottes war vollkommen. Nur eine sie in diesem verfluchten Zimmer überste-: noch in dem verfluchten Bette schlafen! Mit iel sie in die Wirklichkeit zurück. Vor dem lde der Abreise wich der letzte Rest des raumbannes. :r packen!« iie zehnte Stufenreihe empor, stand sie oben. Aber sie hatte ihrem Herzen Und auch ihre Augen konnten jetzt die Li-Dinge nicht aufrechthalten. Alles schob sich Augenblick mußte sie stehn bleiben, ruhen, ir Zimmer fortsetzte, das letzte kleine Stück ihr jetzt so weit und mühsam erschien. 138 Hingegen hing der ungeheure Lüster in ihrer Augenhöhe, das mattblitzende, leisklirrende Märchengeschöpf, das Franci-nens Blick seit dem ersten Tage mit kindhaften Phantasien angezogen hatte. Er schwankte wirklich in einem leichten, zauberhaften Ausschlagswinkel oder beschrieb, wenn man schärfer hinsah, einen kleinen, kaum merklichen Flugkreis. Francine trat an das Geländer des Treppenabsatzes, denn sie fühlte plötzlich das Bedürfnis, diesem strahlenden Riesenvogel, der mit ausgebreiteten Schwingen über dem Abgrund schwebte, näher zu sein. Das Geländer, das den Korridor von der fürchterlichen Tiefe trennte, war nicht hoch. Francine konnte sich mit freiem Oberkörper weit vornüber beugen. Und sie sah jetzt - ihr Herz hatte sich wieder beruhigt - ohne jeden Schwindel hinab, sah, wie sich die Halle mit vielen verzeichneten Menschen füllte, und hörte das Stimmen der Instrumente. Gestern um dieselbe Stunde hatte sie denselben Blick in die Tiefe getan. Und da war ihr - gestern - ganz leise die Lockung ins Blut geschlichen: »Wie war' es, wenn ich mich jetzt noch weiter vorbeuge und das Gleichgewicht verliere...« Sogleich aber hatte sie scharf diese Versuchung von sich gewiesen. Es war die Tiefe, der Abgrund, der leere Raum und seine Anziehungskraft auf die Seele, die sie wohl kannte, nicht aber der Wunsch, ihrem Leben ein Ende zu machen. Dessen war sie sich so klar bewußt, daß sie noch eine Weile lang trotzig dem Abgrund die Stirne geboten hatte, ehe sie das Geländer verließ, ... gestern... Und gestern war doch ein Grund da zum Verzweifeln. Heute aber und jetzt war doch nur Grund da zur Freude und zu Dank-geh^ten. Francine suchte hastig die Dankbarkeit in sich, sie suchte das Erlösungs- und Glücksgefühl, das wenige Minuten vorher noch bei Philipps Geständnis in ihr gepulst hatte. Aber sie fand nur eine große Öde, die ihr in den Ohren rauschte, wie gottloses Wasser. Immer scheußlicher wuchs das Tönen dieser Öde in ihrem Gehör. Aber es machte nicht bewußtlos, 139