ging hin, nahm sein eigenes seidenes Lavendeltaschentuch aus seiner Rocktasche und wischte Kringeleins gelbes kleines Gesicht ab, er nahm ihm auch behutsam den Kneifer von der dünnen Nase, und Kringelein hatte dabei eine erleichterte Sekunde lang das Gefühl, daß er schon tot sei, alles vorüber, und daß Gaigerns warme große Hand ihm gleich die Augen zudrücken werde. Indessen ging Gaigern wieder von seinem Bett fort und machte Otternschlag Platz. Otternschlag nahm aus einem kleinen schwarzen Etui eine Spritze, zauberte irgendwoher eine glitzernde Ampulle, der er taschenspielerhaft schnell die Spitze abbrach, er steckte den Daumen durch den Ring der Spritze, die er ohne hinzusehen und mit außergewöhnlicher Geschicklichkeit mit einer Hand füllte, während er schon mit der anderen Kringeleins Arm aus dem Pyjamaärmel hervorholte und mit Sublimat abwusch. »Was ist das?« fragte Kringelein, obwohl er die gütige Medizin vom Krankenhaus her kannte. »Etwas Gutes. Ein süßer Bonbon -«, antwortete Otternschlag singend wie eine wunderliche Kinderfrau, während er Kringeleins dünnes Fleisch zwischen zwei Finger nahm und den Einstich unter die Haut jagte. Gaigern blickte herüber. »Wie gut, daß Sie das gleich bei der Hand haben -«, sagte er. Otternschlag hob die Spritze gegen das Licht, gerade vor sein unsehendes Glasauge. »Ja-, erwiderte er. »Es ist mein Reisekoffer. Immer gepackt, ver-steh'n Se. In Bereitschaft sein - das ist es natürlich, wie Shakespeare so hübsch sagt. Bereit zur Abreise - in jeder Minute bereit, versteh'n Se? Das ist der große Witz von diesem kleinen Gepäckstück.« Er wusch indessen die Spritze, legte sie in das Etui und ließ es zuschnappen. Gaigern nahm das kleine schwarze Ding vom Tisch und wog es in der Hand, er hatte ein verwundertes und etwas begriffsstutziges Gesicht dabei. Wieso denn? dachte er. 250 »Geht's schon besser?« fragte Doktor Ottemschlag zum ett hin. »Ja«, antwortete Kringelein, der die Augen ge-hlossen hatte und auf einer Wolke saß, mit der er in rahen, leichten Kreisen davonfuhr, während er und sein chmerz sich auflösten und selber etwas Wolkiges und -eisendes wurden. »Na, seh'n Se«, hörte er noch den Dok-or sagen, während ihm alles gleichgültig wurde und auch :e Todesangst von ihm wegging wie ein schwarzes ier . . . »So«, sagte Otternschlag und legte nach einer Weile Krin-eleins Hand auf die seidene Steppdecke zurück. »Vorläufig at er Ruhe.« Gaigern, der inzwischen Kringeleins neue 'eidungsstücke verwahrt hatte, trat an das Messingbett nd sah die kurzen, flachen Atemzüge hinter dem helllauen Pyjama. »Vorläufig?« fragte er flüsternd. »Ist das nicht - geschieht nichts? Ist es nicht - gefährlich?« »Nein. Unser Freund muß noch zappeln. Er wird noch ine Menge solcher Tänze erleben, bevor er in Ruhe gelas-~n wird. Das Herz - seh'n Se - das Herz ist noch da, das ebt noch, das klopft noch, das will noch. Eine Maschine, "ie wenig benutzt worden ist, das Herz von Herrn Kringe-in. Rundherum ist vieles kaputt, aber das Herz besteht auf einem Recht. Da muß das Marionettchen noch eine Weile pringen an seinem letzten Faden - Zigarette?« »Danke«, sagte Gaigern geistesabwesend, bediente sich "nd setzte sich unter das Fasanenstilleben, er brauchte ein aar Minuten, um Otternschlags Worte zu verarbeiten. »Da ist er also sehr krank? Und kann trotzdem nicht ster-en? Das ist ja eine abscheuliche Schinderei?« sagte er nach-er. Otternschlag, der bei jeder Frage mit dem Kopf genickt atte, antwortete: »Eben. Jawohl. Deshalb lobe ich mir mei- en kleinen Koffer. Eigentlich kann man das, was einem hier auf der Welt zugemutet wird, doch nur aushalten, 251 wenn man weiß, daß man in jedem Augenblick. Schluß machen kann, wie? Das Leben ist eine miserable Sorte von Dasein, glauben Sie mir.« Dazu lächelte Gaigern. »Aber - ich lebe gern«, sagte er unschuldig. Otternschlag drehte ihm schnell seine sehende Gesichtshälfte zu. »Ja, Sie leben gem. Ihresgleichen lebt gern. Euch kenne ich. Sie kenne ich ganz genau -« »Mich -?« »Ja, Sie speziell. Sie ganz persönlich.« Ottemschlag streckte seine Hand aus und zeigte mit seinem schweren, gelbgerauchten Zeigefinger in Gaigerns zurückweichendes Gesicht. »Hier habe ich Ihnen einmal einen hübschen kleinen Granatsplitter herausgeholt. Die nette Naht, die Ihnen so interessant steht, habe ich genäht - Sie erinnern sich nicht? - in Fromelles? Ihresgleichen vergißt alles. Unsereiner muß sich alles merken, kann nichts loswerden, nichts.« ■Ach! In Fromelles? In dieser fürchterlichen Bude von Lazarett, nicht wahr? Nein, ich erinnere mich kaum, ich wußte damals nicht viel von mir. Schlapp gemacht. Ich dachte damals, wenn man verwundet wird, muß man ohnmächtig werden, und da bin ich ohnmächtig geworden.« »Ich habe mir Sie aber gemerkt, weil Sie das jüngste Soldatchen gewesen sind, das mir in die Finger kam. So von der Sorte: 'Singend in den Tod.- Ist übrigens auch möglich, daß Sie persönlich es gar nicht waren - nur die gleiche Sorte, wissense. Und jetzt leben Sie also gern. War zu erwarten. Freut mich, zu hören. Nur - eines werden Sie mir zugeben: Die Drehtür muß offen bleiben.« »Wie?« fragte Gaigern verwirrt. »Die Drehtür, meine ich. Setzen Sie sich mal in die Halle und schauen Sie die Drehtür eine Stunde lang an. Das geht wie verrückt. Rein, raus, rein, raus, rein, raus. Witzige Sache, so eine Drehtür. Manchmal kann man seekrank werden, wenn man lange hinsieht. Aber nun passen Sie einmal 252 auf: Sie kommen beispielsweise durch die Drehtür herein -da wollen Sie doch die Gewißheit haben, daß sie auch wieder raus können durch die Drehtür! Daß sie Ihnen nicht vor der Nase zugesperrt wird und Sie gefangen sind im Grand Hotel?« Gaigern spürte eine Kühle an seinem Hals heraufkriechen, das Wort »gefangen« kam ihn an wie eine verheimlichte Drohung. »Natürlich«, sagte er gepreßt. »Dann sind wir uns ja einig«, erklärte Otternschlag, er hatte die Spritze wieder aus dem Etui hervorgeholt und spielte verliebt mit ihrem glatten Glas und Nickel. »Die Drehtür muß offen bleiben. Der Ausgang muß jederzeit parat sein. Sterben muß man können, wann es einem paßt. Wann man selber will.« »Wer will denn sterben? Niemand«, sagte Gaigern schnell und voll Überzeugung. ■ »Na -«, sagte Otternschlag und schluckte etwas hinunter. Kringelein in seinem Hotelbett murmelte unverständliche Worte unter seinem erschlafften Schnurrbart. »Na - zum Beispiel, sehen Sie mich an«, sagte Otternschlag. »Sehense mich genau an. Ich bin ein Selbstmörder, verstehense. Gewöhnlich sieht man Selbstmörder erst nachher, wenn se schon am Gasschlauch genuckelt oder losgeknallt haben. Ich, wie ich hier sitze, bin also ein Selbstmörder vorher, mit einem Wort. Ich bin ein lebender Selbstmörder, eine Rarität, werden Sie zugeben. Eines Tages nehme ich aus dieser Schachtel zehn Ampullen, rein damit in die Vene - und dann bin ich ein toter Selbstmörder. Ich spaziere raus aus der Drehtür, bildlich gesprochen, und Sie können drin sitzen bleiben in der Halle und warten.« Gaigern empfand verwundert, daß dieser blödsinnige Doktor Otternschlag eine Art von Haß gegen ihn zu haben schien. »Das mag Geschmackssache sein«, sagte er leichthin. »Ich habe es nicht so eilig. Mir gefällt das Leben nun einmal. Ich finde es großartig.« 153 »So. Großartig finden Sie es? Sie waren doch auch im Krieg. Und dann sind Sie heimgekommen, und dann finden Sie das Leben großartig? Ja, Mensch, wie existiert ihr denn alle? Habt ihr denn alle vergessen? Gut, gut, wir wollen nicht davon sprechen, wie es draußen war, wir wissen es ja alle. Aber wie denn? Wie könnt ihr denn zurückkommen von dort und noch sagen: das Leben gefällt mir? Wo ist es denn, euer Leben? Ich habe es gesucht, ich habe es nicht gefunden. Manchmal denke ich mir: Ich bin schon tot, eine Granate hat mir den Kopf weggerissen, und ich sitze als Leiche verschüttet die ganze Zeit im Unterstand von Rouge-Croix. Da habense den Eindruck, wahr und wahrhaftig, den mir das Leben macht, seit ich von draußen zurückgekommen bin.« »Ach -«, sagte Gaigern, berührt von der plötzlichen Leidenschaftlichkeit in Otternschlags Worten, und noch einmal: »Ach?« Er stand auf und trat zum Bett. Kringelein schüef, obwohl seine Augen nicht ganz geschlossen waren. Gaigern kehrte auf den Zehenspitzen zu Otternschlag zurück. »Ja, etwas davon ist wahr«, sagte er leise. »Mit dem Zurückkommen ist es nicht einfach gewesen. Wenn unsereiner sagt -draußen-, da meint er das so, wie >in der Heimat- -beinahe so. Jetzt steckt man in Deutschland drin wie in einer ausgewachsenen Hose. Man ist unbändig geworden und hat keinen Platz. Was soll unsereiner mit sich anfangen? Reichswehr? Drill? Bei Wahlraufereien eingreifen? Danke. Flieger, Pilot? Ich habe es versucht. Täglich zweimal nach dem Fahrplan loszuckeln, Berlin - Köln - Berlin. Forschungsreisender, Expedition, das alles ist so abgekocht und ohne Gefahr. Sehen Sie, das ist es: Das Leben müßte ein bißchen gefährlicher sein, dann wäre es gut. Aber man nimmt's, wie's kommt.« »Nee. Das meine ich nicht«, sagte Otternschlag unzufrieden. »Aber vielleicht sind das nur persönliche kleine Nuancen. Vielleicht würde ich die Sachen auch so harmlos sehen 254 ie Sie, wenn man mir die Visage so gut geflickt hätte, wie ich sie Ihnen geflickt habe. Aber wenn man die Welt durch ein Glasauge anschaut, da siehtse ganz merkwürdig aus, kann ich Ihnen versichern. Na, was ist los, Herr Kringelein?« Kringelein war plötzlich in seinem Bett hochgekommen, hatte die schweren Morphiumaugen mit Mühe aufgerissen und suchte etwas. Seine Hände wanderten auf der Steppdecke umher mit tastenden Fingerspitzen, die das Morphium gefühllos gemacht hatte. »Wo ist mein Geld?« flüsterte Kringelein. Er kam direkt aus Fredersdorf, hatte sich soeben noch mit Anna gestritten, und es machte ihm viele Mühe, in das Mahagonizimmer des Grand Hotel zurückzufinden. »Wo ist mein Geld?« fragte er mit trockenem Mund, er sah die beiden Männer zunächst nur wie bewegte, übergroße Schatten auf den Samtfauteuils sitzen. »Wo sein Geld ist? fragte er -«, teilte Ottemschlag dem Baron mit, so, als ob dieser schwerhörig sei. »Sein Geld hat er doch im Hotelsafe deponiert«, sagte Gaigern. »Sie haben doch Ihr Geld im Hotel deponiert«, gab Otternschlag wie ein Dolmetsch weiter. Kringelein ordnete diese Antwort mühsam in seinem schweren Kopf ein. »Haben Sie noch Schmerzen?« fragte Otternschlag. »Schmerzen? Wieso?« fragte Kringelein auf seiner Wolke. Otternschlag lachte mit schiefem Mund. »Alles schon vergessen«, sagte er. »Die Schmerzen schon vergessen. Die Wohltat auch schon vergessen. Morgen kann's wieder losgehen, Sie - Lebenskünstler«, sagte er mit nacktem Hohn. Kringelein verstand nicht eine Silbe. »Wo ist mein Geld?« fragte er hartnäckig. »Das viele Geld. Das gewonnene Geld.« Gaigern zündete sich eine Zigarette an und schluckte den Rauch tief in die Lungen. 255 »Wo ist sein Geld?- fragte Otternschlag. »In seiner Brieftasche«, sagte Gaigern. »In Ihrer Brieftasche«, kolportierte Otternschlag. »Nun schlafen Sie weiter. Nun werden Sie mir nicht zu munter, sonst tut es weh.« »Ich will die Brieftasche haben«, verlangte Kringelein mit gespreizten Fingern. Er konnte sich nicht ausdrücken in seinem vernebelten Zustand, er spürte nur in seinem verhängten Bewußtsein, daß er jede Minute seines Lebens mit barem Geld bezahlen mußte, bar und teuer bezahlen. Im Traum hatte er beides wegrinnen sehen - Geld und Leben -, schnell und voll von Steinen, wie den Fredersdorfer Bach, der in jedem Sommer austrocknete. Otternschlag seufzte, versenkte seine Finger in die Taschen von Kringeleins Rock, den Gaigern über eine Stuhllehne gehängt hatte, und zog sie leer wieder heraus. Gaigern stand rauchend am Fenster, den Rücken zum Zimmer, das Gesicht zur Straße hingedreht, die nachtstill unter dem weißen Licht der Bogenlampen lag. »Da ist keine Brieftasche«, sagte Otternschlag und ließ seine Hände vor sich hinhängen wie nach einer großen Anstrengung. Plötzlich kam Kringelein aus seinem Bett. Plötzlich stand er auf seinen dünnen, schwankenden Pyjamabeinen mitten im Zimmer mit aufgerissenem Gesicht und ohne Atem. »Wo ist meine Brieftasche?« schrie er jammernd. »Wo ist sie? Wo ist das viele Geld? Wo ist das viele, viele Geld? Meine Brieftasche! Meine Brieftasche!« Gaigern, der die Brieftasche längst an sich genommen hatte, versuchte vor diesen hohen, schlafheiseren Klagetönen seine Ohren zuzumachen. Er hörte draußen den Aufzug gehen, er hörte Schritte den Korridor entlangkommen und hinter Türen verstummen. Er hörte - so schien es ihm - nebenan in Nr. 71 jemanden atmen. Er hörte seine Armbanduhr ticken und sein Herz ruhig schlagen. Aber er hörte auch Kringeleins Angst,- er haßte Kringelein in diesem Au genblick auf eine wilde Art, er hätte ihn am liebsten totge- 256 schlagen. Er wendete sich heftig dem Zimmer zu, aber der trübsinnige Anblick, den Kringelein bot, machte ihm die Faust schlaff. Kringelein stand mitten im Zimmer und weinte. Die Tränen Hefen ihm unter den betäubten Morphiumlidern aus den Augen und tropften auf den neuen hellblauen Seidenpyjama. Kringelein weinte wie ein Kind um seine Brieftasche. »Sechstausendzweihundert Mark waren in der Tasche«, schluchzte er. »Davon kann man zwei Jahre leben -« Denn unversehens war Kringelein wieder in die Fredersdorfer Maßstäbe versunken. Otternschlag machte eine verzagte Gebärde zu Gaigern hin. »Wo kann denn die Brieftasche sein - wenn Kringelein partout noch zwei Jahre leben will?« fragte er mit einem versuchsweisen Scherz. Gaigern, die Fauste in den Taschen, lächelte. »Vielleicht haben die Mädchen in der Alhambra sie ihm geklaut«, antwortete er. Es war die Antwort, die er von langer Hand vorbereitet hatte. Kringelein setzte sich auf den Bettrand und sackte zusammen. »O nein«, sagte er still. »O nein, o nein, 0 nein.« Otternschlag schaute ihn an, schaute Gaigern an, schaute wieder Kringelein an. Ach so, sagte er zu sich selber. Er nahm sein schwarzes Futteral an sich und ging zu Gaigern hin, nach alter Gewohnheit an der Wand entlangstockemd, als wenn ihm aus Wänden und Möbeln ein wenig Kraft und Nähe zuströmen würde oder als ob er noch immer nicht gelernt hätte, ohne Deckung zu gehen. Vor Gaigern blieb er stehen, drehte ihm seine zerschossene Seite zu und starrte ihm mit dem Glasauge auf die Kehle. »Man wird Kringelein seine Brieftasche wiederverschaffen müssen«, sagte er leise und höflich. Gaigern zögerte eine Sekunde. In dieser Sekunde entschied sich sein Schicksal. Der Bruch, der durch sein Wesen ging, nahm ihm die Sicherheit. Gaigern war kein Ehrenmann, denn er hatte schon ge- 257 stöhlen und geschwindelt. Und er war kein Verbrecher, denn die guten Instinkte seiner Natur und Rasse zerbrachen zu oft seine üblen Absichten. Er war ein Dilettant des Abenteuers. Es war Kraft in ihm, aber nicht genug Kraft. Er hätte die beiden kranken Männer niederschlagen und davongehen können. Er hätte sie wegstoßen und mit seinem Raub über die Hotelfassade flüchten können. Er hätte mit einem Scherzwort das Zimmer verlassen, zur Bahn rasen und verschwinden können. Er nahm alles in sich zusammen und dachte an die Grusinskaja, er spürte ihre leichte Person in seinen Armen, er trug sie über die Treppen ihres Hauses in Tremezzo hinauf. Er mußte zu ihr, er mußte, er mußte - aber plötzlich überkam ihn das unsinnige und heftige Mitleid, das er gestern mit der Grusinskaja gefühlt hatte, auch für diesen Kringelein da hinten am Bettrand. Mitleid auch für Otternschlag, der ihn mit dem verwüsteten Gesicht des Krieges anstarrte, und ein ganz fernes unwissendes Mitleid mit sich selbst - und dieses Mitleid warf ihn um. Er tat zwei Schritte ins Zimmer hinein und begann zu lächeln. »Da ist die Brieftasche«, sagte er. »Ich habe sie vorhin in Sicherheit gebracht, damit sie Kringelein nicht gestohlen wird in dem Kabuff, wo wir waren.« »Na also«, sagte Otternschlag erschlaffend und nahm die alte, abgenutzte und angefüllte Brieftasche aus Gaigerns Händen. Er hatte ein sonderbares, erschöpftes und zärtliches Gefühl dabei. Es war so selten, daß er Gelegenheit hatte, die Hände eines anderen Menschen zu berühren. Er wendete den Kopf und heftete sein sehendes Auge auf Gai-gern, mit einem Ausdruck, der etwas wie Dankbarkeit oder Einverständnis bedeuten konnte. Aber er erschrak im gleichen Moment. Ihm kam Gaigerns Gesicht, dieses besonders schöne und lebensvolle Gesicht, so sandbleich vor, so gezeichnet, so ausgeleert und gestorben, daß er sich fürchtete. 258 ibt es denn nur Gespenster auf der Welt? sagte er zu sich lber, während er am Sofa entlang zum Bett hinüberging d die Brieftasche vor Kringelein hinlegte. Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert, und so lange war Kringelein sehr schweigsam und in tiefem Nachdenken dagesessen. Jetzt, da Otternschlag ihm die Brieftasche reichte, um die er ein so großes Wehklagen angestimmt hatte, berührte er sie kaum. Er ließ sie auf die Bettdecke fallen, ohne hinzusehen und ohne das Geld, das viele Geld, das gewonnene Geld, zu zählen. »Bitte, bleiben Sie bei mir«, sagte er; er sagte es nicht zu Otternschlag, der ihm geholfen hatte, sondern zu Gaigern, und er streckte seinen Arm zu Gaigern hin, der verfinstert beim Fenster stand und eine neue Zigarette rauchte. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Kringelein«, tröstete Otternschlag dazwischen. »Ich habe keine Angst«, erwiderte Kringelein eigensinnig und überraschend wach. »Glauben Sie denn, daß ich Angst habe, zu sterben? Ich habe keine Angst. Im Gegenteil. Ich muß ja dankbar sein dafür. Ich hätte ja nie die Courage gefunden, zu leben, wenn ich nicht wüßte, daß ich sterben muß. Wenn man weiß, daß man nachher stirbt, da kriegt man nämlich Courage - immer daran denken, daß man sterben muß -, da ist man zu allem fähig - das ist ein Geheimnis — »Aha», sagte Otternschlag. »Die Drehtür. Kringelein wird Philosoph. Kranksein macht weise, haben Sie das schon bemerkt?« Gaigern gab keine Antwort. Wovon redet ihr nur? dachte er. Das Leben! Das Sterben! Wie kann man davon sprechen? Das sind doch keine Worte. Ich lebe - dann lebe ich eben. Ich sterbe - Herrgott, da sterbe ich eben. An den Tod denken - nein. Davon reden, pfui Teufel! Aber mit Anstand krepieren - bitte. Jeden Moment, wenn es sein soll. Klettert 259 ihr erst einmal an so einer Hotelfront herum wie die Affen, dann werdet ihr bald das Maul halten über Leben und Sterben, dachte er hochmütig. Bereit bin ich auch - und brauche keinen Koffer voll Morphium dazu. Er gähnte. Er schluckte einen großen Mund voll Morgendämmerungsluft, die zum geöffneten Fenster hereindrang, und gleich darauf schüttelte eine kleine Kühle seine Boxerschultern. »Ich bin schläfrig«, sagte er. Mit einem Male begann er herz lieh zu lachen. »Ich bin gestern nacht nicht in mein Bett ge kommen, gar nicht. Heute ist es auch wieder vier Uhr. Kommen Sie, Herr Direktor, kriechen Sie unter die Decke." Kringelein gehorchte sogleich. Er legte sich hin mit seinem schweren Kopf und mit den betäubten, aber immer noch vorhandenen Schmerzen in seinem Leib und faltete die Hände auf der Decke. »Bleiben Sie bei mir. Bitte, bleiben Sie bei mir«, sagte er inständig. Er sagte es viel zu laut, weil seine Ohren wieder voll Dumpfheit und Sausen wurden. Otternschlag stand dabei und hörte zu. Um ihn kümmerte sich niemand. Ihn bat keiner, dazubleiben. »Ihr Morphium habense intus, nun brauchense mich wohl nicht mehr?« fragte er, aber Kringelein begriff den Hohn nicht. »Nein, danke«, sagte er harmlos. Er hielt Gaigerns Hand fest wie ein kleines Kind. Er klammerte sich an Gaigern, er liebte Gaigern. Vielleicht ahnte seine dünnhäutig gewordene Seele sogar, daß Gaigern ihn bestehlen wollte - trotzdem hielt er ihn fest. »Bitte, bleiben Sie bei mir«, flehte er. Da begann auch Otternschlag zu lachen. Er hob sein zerfetztes Gesicht in das kalte Licht der Lampe hinauf und begann zu lachen mit seinem schiefen Mund, ganz anders als Gaigern, erst lautlos, dann mit ziehenden Tönen von innen her, dann immer lauter und immer hohnvoller und immer feindseliger. Nebenan, in Nr. 71, wurde dreimal an die Wand geklopft. »Ich muß endlich um Ruhe bitten. Die Nacht ist 260