■tauf Pünktlichkeit 8, U N PUNKTU CH KĽl ľ f y crm ich Uber die Tugend der Pünktlichkeit schreiben soll, muß ich von meiner Jugend zu meiner Gegenwart einen gewaltigen Sprung machen. Zwei überaus widersprüchliche, dabei aber höchst friedlich beieinanderwohnetide Grundhaltungen bestimmten unser Leben: Die eine war ein Umgang mit der Zeit, den man in Europa vermutlich »orientalisch« nennen würde, obwohl die Jahrhunderte, in denen die Europäer in ihrer überwiegenden Anzahl selber ein »orientalisches« Verhältnis zur Zeit hatten, gar nicht so weit zurückliegen. Man lese in kulturhistorischen Studien nur einmal nach, wie schwer es den deutschen Fabrikaufsehern zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts fiel, ihre aus dem Kleinbauern-tum stammenden Arbeiter an die Sklaverei der Uhr und die Regelmäßigkeit industrieller Arbeit zu gewöhnen. Kür uns war Zeit ein uferloses Meer, in dem man sich schwimmend bewegte, ohne jemals an Grenzen zu gelangen. Die Verpflanzung des Haushaltes an einen anderen Ort geschah stets für Monate; unsere Gäste erschienen nicht zu einem exakt vorherbestimmten Termin und reisten auch keineswegs zu einem festgelegten Zeitpunkt wieder ab, sondern sie traten, wie mir vorkam, unerwartet in unser Leben und teilten es dann lange. Für uns Kinder gab es immerhin die Schule, eine deutsche Schule nota bene, die alles tat, um in den Fluß der Zeitlosigkeit energisch Pflöcke einzuschlagen, aber für meine zahlreichen älteren Onkel und Tanten, die bei uns lebten und die Atmosphäre unseres Haushaltes maßgeblich bestimmten, gab es 102 ) solche Pflöcke nur in Form der großen kirchlichen Feste. Daß man »die Feste feiern müsse, wie sie lallen«, hätte man ihnen nicht predigen müssen: von dieser Pflicht waren sie durchdrungen, es war vielleicht die einzige l'Hicht, die sie über sich anerkannten. Für die Geschichte der Zeiteinteilung und der Zeitmessung scheinen mir überhaupt die kirchlichen Gebräuche eine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Von den Juden hatten die christlichen Mönche in Ägypten das Stundengebet übernommen, die Gewohnheit, zu fünf oder später sieben nach dem Stand der Sonne bestimmten Malen am Tage zu beten. Die Mönche sahen in diesem Stundengebet die Widerspiegelung einer Liturgie, die der Kosmos mit Sonnenaufgang und -unter-gang, mit dem Laul der Sterne und des Mondes zum Lobe (»Ol tes feierte, und da kam es darauf an, mit diesem Planetenlauf Schritt zu halten und gewisse Zeitabläule zu beachten. In der äthiopischen Kirche wie bei Kopten und Orthodoxen wurde dieser Zcitrahinen aber flexibel gehalten: Dauerte die Nacht lang, beteten auch die Mönche lang; wurden die Nächte kürzer, verkürzte sich auch das nächtliche Gebet, ohne daß die Stundenzahl sich verringerte — die Nacht war immer zwölf Stunden lang, nur daß eine Stunde eben zwischen vierzig und neunzig Minuten dauern konnte. So blieb auch für uns eine Stunde etwas nicht genau Festgelegtes, sie dauerte so lange, wie sie eben dauern mußte. Zugleich stand meine familiäre Umgebung aber in großer Nähe zum Kaiserhof, und hier regierte die Pünktlichkeit, wenngleich in einem anderen Sinn als im westlichen Geschäftsleben. »Die Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige«, ist ein im Westen häufig zitierter Satz, der aber doch einer Erklärung bedarf, um nicht mißverstanden zu werden. Ich habe solche »königliche Pünktlichkeit« studieren dürfen und kann versichern, daß sie mit File und ökonomischem Umgang mit der Zeil und Zuverlässigkeit und Pedanterie zunächst einmal wenig zu tun hat. Die Pünktlichkeit der Könige ist rituell. Der persische Großkönig, der in vielem das Modell 103 sakraler Monarchic von der byzantinischen Mon'uichie bis zu den Kaisern des Hauses Habsburg war, befahl jeden Morien der Sonne aufzugehen und mußte sich zu diesem Zweck überaus pünktlich erheben, damit die Sonne nicht in die Ver suchung geriet, eigenmächtig zu handeln und den Befehl nicht abzuwarten. In allen Monarchien mit einer stark religiösen und rituellen Prägungwar der Tagesablauf des Monarchen wie der eines Planeten gestaltet. Auch hier herrschte eine Teilnahme an der erwähnten »Liturgie lies Kosmos«. In Europa rührte König Ludwig XIV., während er den modernen französischen 'Zentralismus schuf, diese Anschauung noch einmal zu einem Höhepunkt. Jeden Morgen betrat der Kammerdiener zur gleichen Stunde das Schlafzimmer des Sonnenkönigs, schlug die Vorhänge zurück und sagte: »Sire, es ist 'Zeit«, und von diesem Augenblick an begann die Riesenmaschinerie des Hofes anzulaufen, die ebensowenig anzuhalten war wie der Lauf der Sterne. Die Pünktlichkeit der Könige bedeutete für ihre Umgebung vor allem eins: warten. An allen Höfen bis zur Gegenwart besteht die Hauptaufgabe der Hoibeamten darin, zu warten, um im festgelegten Augenblick bereit zu sein. Schon bei Ludwig XIV. gerieten die Erfordernisse dieser rituellen Pünktlichkeil mit den Erfordernissen des praktischen Regiments allerdings in eine komplizierte Konkurrenz. Der König arbeitete viel und mußte sich häufig von dem pla-netarischen Zeremoniell durch eine Tapetentür verabschieden. Sein Hof bestand aus ungeduldigen Individualisten, die das zeremonielle Warten ohne König als Leerlauf empfanden — mil den bekannten Folgen für den Fortbestand der französischen Monarchie. Als ich in den siebziger Jahren in Cambridge studierte, war der englische Umgang mit der Zeit, aus meiner Perspektive jedenfalls, von dem orientalischen bei uns zu I lause noch nicht schmerzhaft unterschieden. In Deutschland sah das anders aus. Deutschland war ein modernes Land. Dennoch kam mir die deutsche Tugend der Pünktlichkeif hier zunächst als etwas Altertümliches entgegen. In Afrika galt als der deutscheste u>4 aller deutschen Gegenstände die Kuckucksuhr. Auch wir besaßen selbstverständlich eine Kuckucksuhr, die uns Kinder begeisterte, ohne daß wir ahnten, welch ein strenger Vogel dieser Kuckuck war, der uns zunächst nur dazu verleitete, viel Zeit vor seinem Gehäuse zu vertrödeln., um sein schnarrendes llei-vorschießen und seinen Ruf nichi zu verpassen. Als »möblierter Herr« während meiner Studien in Tübingen erlcbrc ich noch die bürgerlichen Gewohnheiten einer deutschen Kleinstadt, in der man früh aufstand, die Arbeil aber mit einem tüchtigen Mittagessen beim Glockenschlag eins und darauffolgendem Mittagsschlaf unterbrach und mil dem Glocken-Schlag zehn ins Bett ging. Die Pünktlichkeit hatte hier immer noch einen rituellen Zug. Sie stand nicht mit dem Willen zu höherer Effizienz oder dem »Time is money «-Gedanken in Verbindung, sondern schuf ein sogar recht behagliches Korsett, das allzu großen Eifer eher behinderte. Immerhin war sie eine gewisse Einübung für die neuartige Pünktlichkeit, die sich nach dem großen Modernisiert! ngs-Schub von 1968 sehr bald allgemein entwickelte. Die ökonomische Mentalität, die wir alle, ohne es immer zu bemerken, längst angenommen haben, zwingt uns dazu, nicht nur die einstmals als reiches und unbeschränktes Geschenk angesehene Zeit, sondern überhaupt alles, jeden Lebensaugenblick, jeden Gedanken und jeden Genuß, den Schlaf keineswegs ausgenommen, in Beziehung zu Geld oder geldwertem Vorteil zu setzen. Unpünktlichkeit ist vor diesem Hintergrund nicht nur unhöflich — damit könnten wir leben —, sondern ein Anschlag auf fremdes oder eigenes Vermögen. Der Bewohner einer Großstadt ist heute beinahe immer in eine Tretmühle eingesperrt, die ihm kaum die Zeit zum l.ufi-holen läßt. Verabredungen können hier längst nicht mein mit »orientalischer« Lässigkeit (oder mediterraner oder irischer oder russischer Lässigkeit, man setze ein, was einem beliebt) angegangen werden. Wer ahnt, wieviel organisatorischer Aufwand Cur einen Geschäftstermin getrieben werden muß, wird sich lieber in der prunkvollen Halle des Bankhauses unter den 105 fühl losen Augen des Portiers mit einem Brieföilhcr entleiben als sich zu spät kommend die gepreßte Bemerkung anhören, man habe sich schon Sorgen gemacht. Man könnte sich sogar auf den Standpunkt stellen, die Pünktlichkeit bei geschäftlichen Verabredungen gehöre wegen des enormen Druckes, der vor allem auf dem Teil lastet, der vom anderen etwas will, eigentlich nicht mehr zu den Manieren, denen doch immer auch ein winziges Moment von Freiwilligkeit und spielerischer Haltung anhaften soll. Für die ist in der geschäftlichen Sphäre kein Raum. Da wird es ernst. Um so beachtlicher sind die Fälle, in denen sich der ökonomisch überlegene Teil, der es sich leisten könnte, den andern warten zu lassen, ohne wirtschaftliche Nachteile befürchten zu müssen, diesen dennoch nicht warten läßt. Es ist in solchen Momenten, als sei ein schrecklicher Kreislauf durchbrochen; auch eine herbe Ablehnung läßt sich leichter einstecken, wenn einem nicht schon bei längerem Aufenthalt im Vorzimmer klargemacht worden ist, wie gering das Gewicht ist, das man in diesem Hause auf die Waage bringt. Wenden wir uns also der verbleibenden freien Zeil zu, wenn wir uns mit den Leuten verabreden, die wir zu unserem Vergnügen treffen wollen. Hier gilt allgemein aul der Welt zweierlei Maß: Die höherstehende l'crson darf sich verspäten, die niedrigere hat pünktlich am Platz zu sein. Der Mann hat die Frau zu erwarten, der Gastgeber ist vor seinen Gästen zur Stelle, der junge Mann findet sich vor dem alten Mann ein. In Deutschland wird das Maß an Verspätung, das jedermann zu konzedieren ist, nach dem Uni versi tätsbrauch, Vorlesungen ct. oder s.t. (cum tempore, also mit viertelstündiger Verspätung, oder mie tempore, ohne Verzug) anzusetzen, das »akademische Viertel« genannt, auch wenn ein Abendessen -hoffentlich ganz ohne akademische Vorträge — zu erwarten steht. Ich vermute, daß es für Deutschland bezeichnend ist, daß die Universität in solchen Sitten inspirierend wirkte. Bei ihr lagen eben die S til-Ressourcen der Bürgerlichkeit. Daß man zu einem gesetzten lissen pünktlich kommt, ergibt sich 106 ( aus der Natur der Sache und versteht sich von selbst. Ein ge meinsames Essen ist eine Zeremonie, die nicht beginnen kann. bevor der magische Kreis um den Tisch geschlossen ist j vol den Schwierigkeiten, die bei Verzögerungen in der Küche entstehen mögen, ganz zu schweigen). Wann aber ist mau pünktlich? In Deutschland und den nördlichen Ländern isi das einfach, es steht auf der Einladungskarte oder ist münd lieh mitgeteilt worden. In mediterranen Ländern oder in Süd amerika kann es noch Stunden nach der angegebenen Zeil dauern, bis man sich zu "Fisch setzt. Die Gäste wissen das auch und treffen mit Verspätungen ein, die den Nordmenschen erbleichen ließen. Auf der anderen Seite ist nichts unangenehmer, als zu früh zu erscheinen. Niemand mit der bescheidensten Lcbciis-kenntnis rechnet damit, seine Gastgeber auch nur eine Minute vor der Zeit empfangsbereit zu finden. Ich sehe Helden dei Courtoisic vor mir, die einerseits unbedingt pünktlich sem wollen und deshalb zehn Minuten vor der Zeit schon vor dem I laus stehen, andererseits aber auch keinesfalls zu früh sein wollen und nun draußen so lange auf und ab gehen, bis die Uhr fünf nach acht zeigt und mit reinem Herzen geklingelt werden kann. Bei Empfängen und Cocktails ist häufig die Dauer angegeben, es heißr dann etwa »ab t8 bis 20 Uhr«. In England isi diese Angabe unbedingt wörtlich zu nehmen; um 20 Uhr isi der Empfang mit Gewißheit zu Ende, weil die Gastgeber dann selbst noch anderswohin aufbrechen. In romanischen Ländern, in denen spät zu abend gegessen wird, kann ein solchej Empfang aber länger dauern, man kann deshalb auch zwei Stunden später eintreffen. In Deutschland sind Cocktails sehr oft abendfüllend, auch hier darf man eine Stunde später erscheinen, wird es noch später, sollte man das aber vorbei ankündigen. Wichtiger noch als Bemerkungen zur Pünktlichkeit erscheinen mir Überlegungen zum Umgang mit den Unpünktlichen. Es ist hier, wohlversrandcn, immer nur vom Privatleben du i<>7 Rede, denn im Geschäftsleben regeln siu? derlei Dinge von selbst, und zwar mich dem Recht des Stärkeren. Wem die Pünktlichkeit in den Genen sitzt, vermag für die Unpünkr-liehen nur schwer Verständnis aufzubringen. Jedem stößt es einmal zu, daß er in einer Verkehrsstauung steckenbleibt, ein Plugzeug nicht fliegt oder ein Wasserrohr platzt, aber die Unpünktlichen seheinen an einem Karma zu tragen, das derlei ! lindernisse über ihr ganzes Leben ausstreut. In der ersten Aufwallung der Gereiztheit mögen viele von den Unpünktlichen Geschädigte in dieser Unfähigkeit, die vereinbarte Zeil einzuhalten, vor allem zunächst die Unverschämtheit und Rücksichtslosigkeit im Umgang mil der Zeit der anderen seilen. Gewiß mit Recht, aber es kommt bei dieser Sicht die Riesenlast des schlechten Gewissens zu kurz, die viele Unpünktliche beständig mit sich herumschleppen. Es ist für das Zusammenleben gewiß am erträglichsten, wenn man die chronische Unpünktlichkeit als eine Art Geisteskrankheit behandelt, deren Auswirkungen man ignoriert, wie man sich ja auch bemüht, ein gewisses nervöses Gesichtszucken bei einem Freund nicht wahrzunehmen und es schließlich dann auch tatsächlich nicht mehr sieht. Die Welt ist ungerecht, besonders in bezug auf die Manieren. Leute, die man mag, dürfen alles, auch unpünktlich sein; Leuten, die man nicht mag, hilft auch die Pünktlichkeit keinen Schritt weiter in unser Herz hinein. Solange man aber miteinander umgeht, sollte eisern die Fiktion aufrechterhalten werden, daß niemand sich aus bösem Willen eine Nachlässigkeit zuschulden kommen läßt. Wer dem Unpünktlichen gegenüber Groll zeigt oder gar zu einer Strafpredigt anhebt, »hat seinen Lohn schon dahin«. »Das Häufen von glühenden Kohlen auf fremde Häupter«, um gleich in der Sprache der Bibel zu bleiben, hat im Rereich der Manieren keinen Raum. Marcel Proust Schilden in seiner Recherche, die in Fragen der Manieren unerschöpfliche Inspiration bietet, wie der F.rzähler zu spät zu einem Rssen beim Herzog von Guermanres erscheint. Der Herzog ist ein Mann von perfekten, gelegentlich etwas zu demonstrativen Manie- loS 4ifd-lfosm Antralt M.INIEKEX ren, die bei ihm Härte und Kälte leider nicht ausschließen, aber im Umgang mir seinem Verspäteten Gast beweis! er vollendete Delikatesse. Angesichts der wartenden Gästeschar besteht er darauf, dem Gast in einem anderen Stockwerk des Hauses erst noch gewisse Aquarelle zu zeigen, als habe man alle Zeit der Welt, einzig um die Befürchtung des Gastes zu zerstreuen, er habe die Gesellschaft aufgehalten. Man kann diesen Fŕíekr noch einfacher erzielen: indem man zur vorgesehenen Zeit mit dem Fssen anfängt, ohne auf die Nachzügler /•u warten (sofern es nicht gerade der Ehrengast ist, der ausgeblieben ist). Viel von der Spannung der Wartenden verflüchtigt sich, wenn man erst einmal bei Tisch sitzt, und dem Verspäteten werden vielfältige Erklärungen abgenommen, wenn er mit einem gedämpften Wort des Bedauerns auf seinen Platz schlüpft. Lhiaufmerksamkeit wird zur Tugend, wenn der Verspätete glauben darf, sein Ausbleiben sei gar nicht bemerkt worden. ľiuikuur,*:!,! J- Unpünktlichkeit 109