Das Lob der Vorurteile Natürlich mag ich sie, die Tschechen Tschechiens, weil sie sich selbst so mögen. Das tut doch jedes Volk, je größer, desto lieber. Aber meine Tschechen, obwolil nur mittelgroß, mögen sich keinesfalls nur mittelmäßig. Es gibt nützliche Vorurteile oder, besser gesagt: Es gibt einen imt Vorurteilen verbundenen Nutzen. In einer räumlichen Lage, wie der eben beschriebenen, sind geschichtliche Pannen an der Tagesordnung. Man braucht also eine ordentliche Portion Heiterkeit, um sie zu vergessen oder anders auszulegen. Schon das tschechische Wort für Geschichte hat seine eigene Philosophie, dějiny meint Geschehenes. Das Konmientieren wird indirekt, aber unübersehbar, jemandem überlassen, dem nichts mehr geschieht oder nie viel geschah. Aus dieser Position kann man den berühmten »Sinn der Geschichte« besser erfassen. Man wird von keinem prophetischen Soll gejagt. Das Geschehene zielt auf niemanden konkret, ungeachtet dessen landet es jedoch bei dem Betrachter, der sich seinerannimmt. So ist der heutige Durchschnittstscheche ein nörgelnder Optimist. Die Zustande sind zwar schlecht (und dies, bitte, seit den Páp-Zeiten), er selbst aber ist gut - oder besser als 15 | diese. Ich möchte das nicht als Mangel an Selbstkritik deuten. Eher als eine Blüte der Selbsterhaltung. In seinem Verlauf türmt das Geschehen lauter Klippen auf. Um sie zu umschiffen, leistet man sich immer nur einen Odysseus, ansonsten viel Wachs für die Ohren der Besatzung. Kritische Köpfe für kritische Zeiten, Masaryk etwa oder Havel, aber zu ihnen bekennen tun wir uns meistens erst hinter der Meerenge. Dann wird der nörgelnde Optimist zum Enthusiasten. Nach einer Weile kehrt er wieder zu seiner selbsttragenden Ruhe zurück und erklärt die Odyssee: »Eigentlich war's nicht so schlecht. Es hat zwar weh getan, aber das stecke ich weg. Und als es ums Ganze ging, hatte ich wie üblich die Ohren zu.« Der Tscheche versteht sich mithin als Praktiker, ist Tüftler und Bastler, kommt aus einfachem Haus, da muß man zupacken können. Selbst als Hausherr fühlt er sich mehr als Häusler. Mit dem Herrschaftlichen hat er nichts am Hut. Er liebt das Duzen, ist Kája. Franta und Jarda, statt Karl. Franz und Jaroslav; Adel reimt er auf Tadel und Gott auf Spott. Nicht, daß er an keinen glauben würde, er bezweifelt nur dessen Omnipräsenz. Und bestimmte Röcke sind ihm suspekt. Bescheidenerweise hält er sich für schlauer als die anderen. Sieht er doch die Sache komplexer! Und immer nur so, wie sie ist: nämlich deniontierbar. Er ist Realist (ein ziemlich surrealistischer), hält die Welt für einen Ort des bloßen Daseins. Selbst wenn er sich für das reine Sem begeistert (und das tut er), schaut er sich mißtrauisch um, ob sich ein kleines Da nicht doch beschaffen läßt. I )as ärgert manche - vor allem Tschechen. So viel Selbst-sicherheit ist ja auch schwer zu ertragen. Aber es hat Ergebnisse. Was wiederum seine Neider dazu verleitete, diese zu schmälern, indem sie Eigenschaften und Ergebnisse auf einen gemeinsamen Nenner brachten. Ich habe jahrelang nach den uns am häufigsten zugeschriebenen Negativa ge- 16 forscht und folgende gefunden: schlitzohrig, kriecherisch, geschwätzig, umtriebig und klein. Wenn mich jemand tröstlicher behandeln wollte, könnte er statt dessen Worte wie intelligent, wendig, eloquent, beflissen und bemessen benutzen. Die Beschreibung änderte sich dadurch im Kern kaum. Um das Thema aufzulockern, halte ich gerne die tschechischen Parteilichkeiten dagegen. Der Deutsche wird bei uns am häufigsten als hochnäsig, tiefgründig, fleißig und stur charakterisiert. Man hat eben immer eine Retourkutsche parat. Und lassen Sie sich nicht irreführen, wenn man es gefälliger formulieren oder umschreiben will, indem man stolz, philosophisch, leistungsfähig und zielbewußt sagt. Vorurteile sind Urteile der Vorfahren über die Mängel historischer Rivalen, für die Nachkommenschaft bestimmt, um das Wirgefühl der Gruppe mit bewährten Klischees zu Stützen. Das Problem der Vorurteile hegt darin, daß sie die Vorzüge des jeweiligen Gegenüben nicht erwägen. Das interessanteste an Vorurteilen ist mcht ihre Schäbigkeit, sondern die Tatsache ihrer Nützlichkeit. Wären sie nicht für eine Kollektivscele zu gebrauchen, sie wären längst überholt. Es ist demnach nicht verwunderlich, daß sie auch dann noch wirken, wenn sie ins Positive gezogen werden. Die ihnen innewohnende Distanzbildung, ihre eigentliche Autgabe, wird dadurch nicht gemindert, nur anders kostümiert. Man muß schon von der Bühne runter, auf der unsere Heimatstücke gespielt werden, den Sprung über den Orchestergraben in den Zuschauerraum, unter die Leute, wagen. Von hier aus sehen solche Vorstellungen ganz anders aus, im Theatercafe läßt sich darüber plaudern. Und lachen. «I