Kirschfeste Über die Annexion Europas an Böhmen anläßlich des 50. Jahrestages des Münchner Abkommens Bei meinem täglichen Blick aul die Karte verschiebe ich die Grenzen von Böhmen des öfteren, mal nach der historischen Vorlage von Großmähven, mal nach Shakespeare, der wußte: Böhmen liegt am Meer. Es wäre allemal sinnvoll, die Vorschläge der Dichter zu bedenken, statt die Teilung der Welt Politikern zu überlassen, die nicht lesen. Arno Schmidt hat in seiner historischen Revue »Massenbach« die Vision eines Europas entworfen, dem. geeinigt durch Napoleon, eine demokratische Verfassung auf der Grundlage von Einheit, Gleichheit, Brüderlichkeil militärisch aufgeprägt worden wäre; der preußische Oberst Massenbach träumt dieses Europa am Vorabend der Allianz europäischer Staaten gegen Napoleon, mit Rußland und England an der Spitze. Im >Vorspiel< ZU seiner Revue läßt Schmidt eine seiner Figuren die Einsicht äußern: »England gehört ja gar nicht zu Europa.« Als 1938 der britische Premierminister Chamberlain im Zuge seiner Appeasemenl-Politik ein Drittel der Tschechoslowakei an Hitler »abgetreten« hatte, erklärte er im britischen Rundfunk: »Wie schrecklich, phantastisch, unglaublich ist es, anzunehmen, daß wir hier Schützengräben graben und Gasmasken anprobieren sollen wegen des Streits in einem weit entfernten Land unter einem Volk, von dem wir nichts wissen.« (Rede vom 27.9. 1938) Bei der Informierung der tschechoslowakischen Vertreter in München, die stundenlang auf das Ergeb- 9 iiis der Verhandlungen im Vorraum warten durften, gähnte er infolge der fortgeschrittenen .Stunde unverhohlen. England werde ich nicht in mein Böhmen aufnehmen. Und Frankreich? Auf die Krage der tschechoslowakischen Delegation, bis wann eine Aul wort ihrer Regierung erwartet werde, erklärte die französische Seite in München, eine Antwort werde nicht erwartet, die Großmächte hielicn ihre Beschlüsse über die Abtretung der geforderten Gebiete seitens der GSR an Hitler für angenommen. Frankreich hatte kein so leichtes Spiel in der »Krise« wie Großbritannien, es war durch einen zweifachen Vertrag mit der Tschechoslowakei, von 1023 und 192 -,, Verpflichtet, seinem Verbündeten beizustehen. Da es an einem Krieg wegen der böhmischen Deutschen« genauso wenig interessiert war wie England, ließ es die Regierung in Prag wissen, die Verantwortung für den Kriegsausbruch würde auf sie fallen, wenn sie den Forderungen Hitlers nicht nachgäbe; damit war der Vertrag mit der Tschechoslowakei gebrochen. Daladiers Befürchtungen, die Franzosen würden ihn wegen des Verrats steinigen, haben sich nicht bewahrheitet; die Pariser haben ihm einen begeisterten Empfang bereitet, und er wurde wie Chamberlain, der aus München zugleich einen Friedenspakt mit Hider nach London brachte, als Friedensstifter gefeiert. Der Veitiag zwischen Frankreich und Deutschland folgte ein paar Monate später, im Dezcml>cr 1938. Der Nichtangriffspakt /wist hen Hitler und Stalin wurde erst am 23. August 1939 geschlossen. Frankreich gehört also auch nicht zu meinem Böhmen? Wegen ihrer Revolution werde ich es mir noch überlegen. Polen? •,) Unbedingt, sowieso, ja. —Jeszcze Polska nie zginiela! F.in tapferes Volk. Westslawen wie wir. reingelegt von den Russen mehrmals, okkupiert von den Deutschen, geradezu prädestiniert für ein Bündnis mit. Böhmen. A1 ich mit Mähren? Beim näheren Studium der Quellen erfahre ich erst jetzt - in der Schule blieb es uns erspart — wie vieles aus der eigenen Geschichte -, daß es Pi )len war. das der I schechoslowakei in den Rücken fiel, als sie trotz des Verrats Frankreichs 1938 mobilisierte, um sich Hitlers Forderungen zu widersetzen. Wenn Deutschland tschechische Grenzgebiete ans 111. Reich anschließen wollte wegen der deutschsprachigen Bevölkerung, hatte auch Polen Ansprüche; das Gebiet um Těšín in Nordmähren sollte unverzüglich an Polen abgetreten werden. Und da sich auch Ungarn sogleich besann, dal', im ganzen Süden der Slowakei eigentlich Ungarisch gesprochen wird, war die Tschechoslowakei eingekesselt zwischen drei Nachbarn, die sich in bezug auf eine Korrektur ihrer Grenzen einig waren. Daß Deutschland die territorialen Ansprüche des faschistischen Ungarns Linlcrsiüi/te, war kein Wunder. Daß Polen sich in Hitlers Schatten auf Kosten der Tschechoslowakei bereichern wollte und die Gunst der Stunde nutzte, trotz der bereits durchschlagenden Spannungen mit Deutschland wegen Dan/ig und fies •Korridors«, gehört zu den bitteren Momenten in der Geschichte zweier Länder, die' viel Gemeinsames haben. Polens Ultimatum trug wie der Verrat Frankreichs und Fnglands dazu bei. daß Hiller ohne Widerstand seine territoriale und wirtschaltliche Lage in Mitteleuropa in dem Maße festigen konnte, daß Deutschland ein Jahr später, bereichert um die geranne Wirtschaft und das strategische Potential der Tscheehoslowakei, seinen so lange angedrohten Krieg endlich anfangen konnte: Polen wurde das erste Opfer. 11 Bekannte Daten. Zumindest hoffe ich es. Vor kurzem fragte ich eine junge Französin, was sie vom Münchner Abkommen weiß. Sie wußte nichts, haue nie davon gehört; promovierte Germanistin. Warum ich lieber hier als in Frankreich oder England lebe: vielleicht weil sich die Deutschen im allgemeinen mehr mit ihrer verlorenen Geschichte auseinandersetzen. Polen kommt trotzdem in Frage: ich will in meinem Böhmen-F.uropa nicht allein bleiben. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, «laß die Sowjetunion, obwohl ihrerseits an Frankreich gebunden, sich an ihr Abkommen mit der Tschechoslowakei weiterhin halten wollte und militärische Hilfe anbot; es scheiterte am Zögern der bürgerlichen tschechoslowakischen Regierung und an außenpolitischen Schwierigkeiten -Polen und Rumänien hatten ihre Zustimmung zum Durchzug sowjetischer Truppen geben müssen. Die Annexion der Karpatenukraine durch die UdSSR nach dem Krieg wurde u. a. mit einem Hinweis auf 1938 gerechtfertigt; die kommunistischen Politiker in der tschechoslowakischen Regierung sprachen vom Glück, eine direkte Grenze mit der Sowjetunion zu haben«. Welche Interessen auch im Spiel gewesen sein mochten, die Sowjetunion wartlas einzige Land, das zu diesem Zeitpunkt gegen Hitlers Aggression gemeinsam mit der Tschechoslowakei Widerstand leisten wollte. Sic hätten '68 nie kommen dürfen. Wenn sie jemals erlöst werden, verdanken sie es ihrer literatur. Die Geschichte Europas ist eine Abfolge von Ungerechtigkeiten, Aggressionen, gegenseitiger Schuldzuweisung für Oberfälle, Ausbeutung, Verrat, Unterdrückung. ImZugedesHitlerischen Überfalls auf Polen besetzte die Sowjetunion ihrerseits polnische Oslgebieie. einen Teil Rumäniens, Finnlands, und annektierte Litauen, Lettland und Estland, fünf Jahre vor Jalta. 12 Wenn ich über Europa schreibe, beschreibe ich meine Ressentiments und ahne die der anderen. England also nicht, und Frankreich hat sich auch nicht bewährt. Nicht in diesem Jahrhundert, wo sie i,i'S in München zum letzten Mal eine autonome Entscheidung über sich und übet Europa hauen, noch ohne Anweisungen und Interessen der Hegemonial-mächte. Die Weichen für die Konferenz au i der Krim im Februar 1945 waren durch die Preisgabe eines mitteleuropäischen Lindes, »das weit weg liegt und von dem wir nichts wissen«. 1938 gestellt. Vorjalta war München. Zurück zur Literatur. Die Utopie eines vereinigten Europas unter Napoleon, wie dei Obrist Massenbach sie sah, hat sich nicht erfällt, wate iiiidi nicht unproblematisch gewesen. Weitere Entwürfe Arno Schmidts weisen in die Zukunft. Das Reservat Tellingstedt in »Die Schule der Atheisten" atmet endzeitliche Geborgenheit aus: ein schmaler Streifen an tier Eider als ein letzter bewohnter Winkel im verstrahlten t'uropa. ausgehalten von den USA, wo das Matriarchal herrscht. Die andere Hälfte der Well Ilaben die Ghinesen übernommen, patriarchalisch. Der großzügige Mäzen muß immer von neuem vom kulturellen Nutzen des Reservats überzeugt werden. Mitten im 21.Jahrhundert säumen dementsprechend seltsame Relikte wie der »blinde Harfner« den Weg, und Jugend in nich) nachprüfbaren Trachten jubelt den US-Touristinnen zu - lauter Kiesinnen, dieöffendich urinieren und sich von mitgebrachten parfümierten Männchen beschlafen lassen. mit einem frustrierten Blick nach den hinterwäldlerischen Europäern, ob sich in der zurückgebliebenen Kasse nicht doch etwas Potenteres fände. Ein Knecht bewährt sich und trägt so zur Rechtfertigung des Reservats bei. - Europa auf den Nenner gebracht. ig Ein vergnügtes Lesen und eine hirtere Idylle, wie sie Schmidt auch im Hominidenstrcifcii der »Gelehrtenrepublik« und anderswo entwirft: Europa hat aufgehört zu existieren, die Welt ist eingeteilt, die Großmächte bewachen einander mißtrauisch an dea Randzonen ihrer Interessensphären, ein fortwirkendes Jalta im Jahre 2014. Shakespeare verlegte Böhmen ans Meet, das ist der ältere Entwurf, und ich träume über der Karte und verschiebe die Grenzen. Soll Schweden dazugehören? Dann gleich ganz Skandinavien. Und weiter? Polen. sicher. Und Jugoslawien im Süden. Osterreich nehmen wir auch, schon wegen der Landschaft. Der provinzielle Antisemitismus wird noch ein Problem sein. Und Italien, natürlich, in seiner unvei ernten Gestalt, als es is der Vielfalt seiner Stadtrepubliken die höchste Kultur hervorgebracht hat. Dann würde Böhmen gleich an zwei Meere grenzen. Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich de» Meeren wieder ... Und in diesem Korridor der Freiheit, der Unge-bundenheit herrscht Vielsprachigkeit. Ursprünglich dachte ich ans Tschechische als Liste Sprac he, aber ich lasse ihnen Zeit. Tschechisch hat sieben Fälle. Für den Rest Europas, an einfachere Grammatiken gewöhnt, ZU schwierig. Die Ungarn könnteil es schneller lernen, aber die nehmen wir wahr» hei 11 lieh nicht, sie haben schon in der k. u. k. Monarchie gegen die Tschechen Politik ge-mac hl. nicht eist unter Hitler. (Dabei kenne ich keinen unsympathischen Ungarn: noch einmal überprüfen!) Bedenklich, daß das industriell am weitesten entwickelte Land in dem zurückgebliebenen k. u. k. Staatsgebilde nicht einmal im Namen vorkommt; die Tschechen machen sich bei mir verdächtig, dauerhafte Nieten /u sein. '4 Dabei haben sie- auch einmal gekämpft. Und es wieder gelassen. Die Kirschfeste in Sachsen und Thüringen - Kamen/. Naumburg - gehen jeweils auf die YVi schonung der Städte durch die Hussiten zurück. Es wird erzählt, dali ein paar Kinder mit Kirschzweigen vor dem Stadttor sie bewegen konnten, abzuziehen. Und die tschechischen Legionäre in Ruliland, nachdem sie die Transsibirische Eisenbahn erobert harten, set /ten sich in den ersten Zug. um nach Hause zu fahren. Vielleicht war es auch erst der zweite. 1938 wollten sie aber kämpfen; die Demobilisierung War ein schlimmerer Schlag als die Einsicht, daß es in den Krieg geht. Ich werde notgedrungen persönlich. Die tschechoslowakischen Flieger, die mil den polnischen die Luftbrücke für die Alliierten hielten, winden zu Dutzenden über dem Kanal abgeschossen. England winl bis zum letzten Polen und Tschechoslowakei! kämpfen, hieß es. Von den Fallschirmspringern, die in Schottland unter härtesteil Bedingungen für den Widerstand /u Hause vorbereitet wurden, überlebten die meisten nicht länger als ein paar Tage nach der Landung. Der einheimische Widerstand war zersplittert und weitgehend zerschlagen - die Exilregierung in London machte sich falsche Vorstellungen - und die meisten Kontaktadressen versagten: die Leute waren verhaftet, tot. zu Kollaborateuren geworden. Es wurde im Winter vor allem abends geflogen, damit die Maschinen unbeobachtet zurückkehren konnten, und die englischen Piloten hallen nur ungenaue Vorstellungen über das Gebiet, das Navigieren war schwierig. Die Fallschirmspringer winden meist weit von den vereinbarten Orten abgesetzt, nicht selten jenseits der Grenze. In Ungarn wurden sie: meist schnell gefaßt, in Polen konn- 15 ten sie sich tinter günstigen Umständen den Pari isancn anschließen. Daß es trotzdem zu mehreren koordinierten Aktionen kam, war Sache des Glücks und des Zufalls. Wie anständig gerade der Bauer war, der den Absprung beobachtet hatte, wie weil zur nächsten Gestapostelle. Er konnte es natürlich auch auf der nächsten tschechischen Polizeistation melden. Da ich für Samurais viel übrig habe, imponiert mir das Altental auf Heydrich, trotz der Vergeltungsaktio-nen in Lidice und Ležáky. Nach dem kommunistischen Umsturz 1948 wurden die Überlebenden inhaftiert; es kam zu Hinrichtungen. Als es einer Gruppe ehemaliger Fallschirmspringer gelungen war, aus dem Lager auszubrechen, wurden sie mit Hunden gejagt, umzingelt und erschossen. Die anderen Häftlinge sollten im Kreise um ihre Leichen gehen und auf sie spucken. Massenhinrichtungen können bekanntlich das Ausmaß des individuellen Leids und der Schmach in der Vorstellung der Überlebenden nicht steigern; mil wachsenden Zahlen ermüdet das Mitgefühl und wird entschärft. Mir genügen im Augenblick diese drei einsamen Fallschirmspringer. Es liegt im Wesen der Politik, zu versagen, Verrat an Verbündeten zu üben und von der Geschichte verurteilt zu werden; mit Chamberlains Desaster gewann Churchill die nächste Wahl. Wo waren aber die europäischen Intellektuellen damals? Die französischen, englischem, italienischen Schriftsteller, die Stimmen der deutsehen Kollegen, die ihr erstes Asyl vor Hitler in der ischechoslowakischcn Republik gefunden hatten? Nationalismus ist auch unter den Tschechen nicht sehr populär. Ich kann mir vorstellen, daß nicht jeder in meinem Böhmen leben möchte. Europa ist ein Konglomerat aus Empfindungen. 16 Verleizungen und überlieferten Klischees über die anderen. Die Sprache konserviert die Vorurteile: ..Böhmische Dörfer- gib) es nur in Deutschland; ebenfalls die -polnische Wirtschaft«. - Dafür behalten che Deutschen auch ihre »deutsche Markenbutter« und zur Strafe noch holländisches Gemüse. Die Syphilis haben sich alle gegenseitig zugeschoben. bis sie sich ausnahmsweise geeinigi halten, auf Frankreich, das es prompt England zuspielte; womit es ange-sichis von dessen ungehemmter Kolonialpoliiik nicht einmal unrecht hatte, obwohl auch die Spanier und Portugiesen m Frage kamen - aller an die Indianer dachte damals keiner. Europa war der Nabel der Well, im Guten und im Bösen. Die Tschechen haben »spanische Dörfer« und "linkische Wirtschaft«, das ist auch nicht besser, allenfalls dadurch entschuldbar, daß die inkriminierten Lander ferner liegen und keine Nachbarn sind. Die Engländer sind fein heraus - »it's all Greek to me«, versichern sie scheinheilig, die Antike haben wir alle hinter uns - wie es die Griechen empfinden, weiß ich nicht; sie können nach München mit Chamberlain ruhig zugeben: »it's all Czech to me«. Andererseits gründet mein europäischer Traum auf dem produktiven Irrtum Shakespeares über die Lage-Böhmens. Es bleibi also auch England dieser wirren, katastrophalen Vielfall von Europa, meinem Böhmen, verhaftet. Dichterische Entwürfe erweisen sich auf die Dauer 'iL die zäheren »Haupt- und Staatsaktionen••. Mai 1988 '7