Der alte jüdische Friedhof, zwischen den im Krieg völlig zerstörten Stadtteilen Kovačiéi und Grbavica steil hügelan gelegen, war tief verschneit. Das große eiserne Tor ließ sich kaum öffnen, so fest steckte es im Schnee, der über den Winter eine Decke von einem guten Meter gebildet hatte, die jetzt, im Februar, hart gefroren war. Hier war seit Wochen niemand gewesen. Die leicht überschneite Spur eines einzigen Friedhofsgangers, der vor längerer Zeit mit jedem seiner schweren Tritte eingesunken war, zog sich vom Tor zur nahegelegenen Aussegnungshalle, die zerschossen und deren Decke eingestürzt war, so daß man aus ihrem Inneren in den Himmel sah. In der völligen Stille des Vormittags ragten die Grabsteine weiß aus dem Schnee, schräg und wie im Kippen aufgefangen die einen, gerade und dicht aneinandergedrängt die anderen. Da waren die Gräber der Aschkenazim, die Namen trugen, wie sie in der österreichisch-ungarischen Monarchie gebräuchlich waren, Farkas, Brocziner, Prohaska oder Dr. Rothkopf, und bei vielen von ihnen, die um die Jahrhundertwende in Sarajevo starben, war als Geburtsort ein Dorf in Mähren oder eine Kleinstadt in Ungarn angegeben. Weit zahlreicher waren die Grabsteine der Sepharden, mit hebräischen Schriftzügen die älteren, in lateinischer Schrift mit Versen in Ladino die anderen ausgestattet, unter denen die Gebeine der Familien Kampos, Montiljo, Tolentino, Brazil-Levy oder Papo ruhten. Das Gräberfeld zog sich drei-, vierhundert Meter den Hügel Trebevic hinauf, zwischen den Gräbern standen Bäume, deren Aste sich unter der Last des Schnees zur Erde bogen. Der Aufstieg war mühsam, auf steile Eisplatten, die auch mit gutem Schuhwerk kaum zu bewältigen waren, folgten kleine Plateaus, auf denen der Schnee unerwartet stumpf war, sodaß 13 wir kniehoch einbrachen. Man hatte uns gewarnt. Dieser Friedhof war vor dem Krieg fast völlig vergessen gewesen, obwohl er auf seinem Hügel von der halben Stadt aus zu sehen war, zu sehen von den Hügeln gegenüber, auf der anderen Seite der Miljacka, zu sehen von manchem Platz und aus vielen Häusern unten am Fluß. Doch die Bevölkerung Sarajevos hatte ihren alten jüdischen Friedhof so vergessen, daß der muslimische Dichter Abdullah Sidran ihn vor dem Krieg als Inbild der Verlassenheit beschrieb. Den Generationen toter Sepharden, denen in Sarajevo keine neuen mehr folgen würden, hatte er im Gedicht nachgerufen: »Schlaft, ihr, die ihr auch den letzten Weg zurückgelegt habt. Schiart, die Zeit wird vergehen. Schlaft, es wird keine Zeit mehr geben. Schlaft, nichts wird es mehr geben, und es wird sein, als hätte es niemals etwas gegeben. Schlaft, der Himmel kennt kein Erinnern.« Dieser Friedhof, den alle, die ihn vergessen hatten, täglich sehen konnten, war im Krieg entdeckt und dem Krieg nutzbar gemacht worden. Wer den Überfall auf eine Stadt plant, sieht sich diese Stadt genau an, et sucht nach Orten, von denen er den Angriff führen, nach Winkeln, in die er sich zurückziehen kann. Der Krieg um Sarajevo begann auf dem jüdischen Friedhof, den vorher kaum jemand mehr bemerkte oder besuchte. Ein paar hundert Meter unterhalb des Friedhofs überquert eine unscheinbare Brücke namens Vrbanja die Miljacka und verbindet die beiden Stadtteile Marindvor im Norden und Kovačic'i im Süden. Am 5. April 1992 waren viele Sarajevoer auf die Straße gegangen, um gegen die Teilung ihrer Stadt in ethnische Zonen zu demonstrieren. Es ist eine Lüge, daß die Bewohner Sarajevos ihre Stadt selbst zerstört, daß sie ihren ethnischen Zerfall gewollt und aus Eigenem herbeigeführt hatten. Zu Tausenden sind sie Woche fiir Woche gegen die Barrikaden angerannt, die von der jugoslawischen Volksarmee, die längst zur serbischen Nationaltruppe geworden war, mitten durch die von jeher ethnisch gemischten Viertel gezogen wurden. Ausdauernd hatten die Serben, Kroaten, Muslime, Juden Sarajevos gegen die Teilung ihrer Stadt aufbegehrt, und erst als sie merkten, wie alleingelassen und von allen verraten sie in diesem Kampf waren, kapitulierten nach und nach zumal junge Männer vor dem Ansturm des Nationalismus und machten sich aus den großen Wohnblocks auf, um auf die Hügel, zu den Belagerern zu gelangen, sich den Mördern zuzugesellen und auf die eigene Stadt hinunterzuschießen. Wer seine Stadt vernichten will, braucht Stützpunkte, und der jüdische Friedhof, im Krieg und für den Krieg wiederentdeckt, war ein solcher Stützpunkt. Hinter den uralten Grabsteinen, die auch Monumente der Toleranz und Friedfertigkeit waren, weil sie an Menschen erinnerten, deren Vorfahren von weit her aus der Unfreiheit im Westen gekommen waren, um hier, im Osten, nach ihrer Fasson glücklich zu werden, hinter den uralten Grabsteinen wurden die Geschütze postiert, und aus dem hoch über der Stadt gelegenen oberen Teil des Friedhofs krachten monatelang die Haubitzen in die Stadt hinunter. Man hatte uns gewarnt. Als die Milizen nach über drei Jahren den Friedhof und die umliegenden Stadtteile Ko-vačiči und Grbavica verlassen mußten, haben sie die Häuser Straße um Straße gesprengt und den Friedhof Meter für Meter vermint. Die norwegische Hilfsorganisation »Peoples Aid« brauchte ein halbes Jahr, um ihn mit Suchgeräten von den Tretminen zu befreien, aber vielleicht waren von den Abertausenden, die die Belagerer verstreuten, als sie sich davonmachten, ein paar urlentdeckt geblieben? Als wir den Friedhoflangsam hinunterstiegen, stießen wir auf einen schönen Grabstein, auf dem eine vor über 160 Jahren gestorbene Mutter, die zeidebens keine andere Gerechtigkeit als das Verzeihen und als einziges Gesetz die Liebe kannte, von ihren Kindern spaniolisch betrauert wurde: »Madre que non conoce/otra justicia que el perdon / ni mas ley que amor.« Aus dem Friedhof nach draußen tretend, schauten wir auf den riesigen Schutthaufen, der der Stadtteil Kovačici war. Ein alter, gebeugter Mann zog mühsam die steile, vom Schnee ifi nicht geräumte Gasse herauf. Er trug ein paar schwere Plastiksäcke, und als er unsere Höhe erreicht hatte, hielt er lächelnd an und richtete sein Wort in einem äußerst mangelhaften Französisch an uns, das umso schwerer zu verstehen war, als er nur ein paar Zahnstummel im Mund hatte und die Silben undeutlich vernuschelte. Wir standen ein paar Minuten bei ihm, der sich nach unseren Plänen erkundigte und fragte, wie uns Sarajevo gefalle, dann machte er sich wieder auf den Weg und zog, ein hagerer Greis, mit der mehrfach wiederholten Feststellung, daß er 52 Jahre alr sei, cinquante-deux, den Hügel hinauf, an Ruinen vorbei, irgend einer Ruine entgegen.