neĽ.. Nach ein paar Minuten erreichten wir ein schäbiges, doch an den Fenstern und der Eingangstreppe reich mir Blumen bestücktes Haus. Hatten wir wohl eine kalbe Stunde lang keine Menschenseele erblickt, stand jetzt diese sechzigjährige Frau im dunklen Kleid mit geblümter Schürze vor der Tür, sie stand nur da und war offenbar mit nichts anderem beschäftigt, als auf uns zu warren. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie uns mit der tadelnden Frage, warum wir erst so spät kämen, begrüßt hätte. Vesna, meine Landsfrau. Die Unterhaltung mit ihr ließ sich nur schleppend an, denn sie hatte das bißchen Deutsch, das sie erlernt hatte, so lange nicht mehr geübr, daß sie es tief aus der Vergangenheit heraufholen mußte. Vesna war stämmig, hatte kohlrabenschwarzes Haar und ein weiches Gesichr darunter, in dem der Anflug eines schwarzen Schnurrbarts von den Lücken im Gebiß ablenkte. Nirgendwo, fand sie, war es ihr so gut ergangen wie hier, in Shen Murtiri, wo das Leben so angenehm ruhig sei: Passiert nix! In ihrer Küche blitzte es nur so vor blankgescheuerten Fliesen, sie zählte im Ort 122 nicht gerade zu den Armen, denn zu dem guten Geld, das ihr Mann in Cosenza verdiente, kam noch die kleine Pension, die sie aus Österreich erhielt. 23 Jahre hatte sie in Osterreich gearbeitet, die längste Zeit davon in der Kleinstadt Stockerau, und später noch in einem Ort namens St. Ägyd am Neuwalde, der schon so ähnlich war wie San Martino di Finita. Fast immer war sie in der Gastronomie beschäftigt, vom ersten Tag an. Der erste Tag war im Oktober 1969 gewesen, als sie aus einem Dorf in der Nähe von Sombor in Serbien, aber aus einem Gebiet, in dem hauptsächlich Ungarn lebten, nach Österreich fuhr. Ich warfein, daß auch meine Eltern aus der Wojwodina stammten, aus Palanka und Futog, gar nicht so weit von Sombor entfernt, und sie sagte erfreut: »Ah, Schwaba!« Daß wir uns hier trafen, in einem albanischen Bergdorf im kalabresischen Süden Italiens, wir, zwei Österreicher, von denen der eine von einer vertriebenen donauschwäbischen Familie in der Wojwodina abstammte und die andere in einem benachbarten ungarischen Dorf als Serbin aufgewachsen war, schien ihr nicht weiter der Rede wert. Die Menschen hatten in Europa immer schon viel unterwegs sein müssen, das war- nichts Besonderes. Eher war es etwas Besonderes, dais es ihr hier so gut ging. Es hatte sie eigenartigerweise immer in kleine Städte wie Shen Murtiri oder Sankt Agyd am Neuwalde versclilagen, und immer hatte es, wo sie war, einen Fluß gegeben, die Tisa in ihrem ungarischen Dorf in Serbien, die Traisen in St. Ägyd, den Torrente Finita hier. Das war das Merkwürdige. Überall konnte es schön sein, aber hier hatte sie es am besten, da war Vesna sicher. Nix passiert! Ich bedankte mich für den Saft, den Kuchen, die österreichische Gastfreundschaft und stieg mit meinem schweigenden Begleiter, der beglückt war, daß er uns zusammengebracht hatte, zum Dorfplatz hinunter. 123