Berliner Zeitung, Ausgabe 69 vom 22.03.2007, S. 32

Feuilleton

Das Licht, die Elfe und der Tod
Für den Buchpreis der Leipziger Messe nominiert: Antje Ravic Strubels Roman "Kältere Schichten der Luft"


Katrin Schings

Ihren Namen mag sie nicht besonders, ihre Heimatstadt auch nicht und ihr Leben lässt ebenfalls zu wünschen übrig: Anja aus Halberstadt, knapp 30, arbeitslos, Single. Da kommt die Stellenanzeige, in der engagierte Leute für ein Jugendcamp in Schweden gesucht werden, gerade recht. Die Bezahlung ist dürftig, aber man ist den Sommer lang weg von allem in Värmland, einem der schönsten Seenlandschaften Schwedens.
Die anderen Camparbeiter sind aus ähnliche Motiven wie Anja da, doch die meisten sind älter als sie und schon länger dabei. Svenja, die garstige Chefin, die mal Chirurgin werden wollte, Ralf, der ehemalige Grenzsoldat, dem nach der Wende Stück für Stück alle Felle davongeschwommen sind oder Sabine, die verhinderte Schamanin, die keiner für voll nimmt.
Antje Ravic Strubel, 1974 geborene Potsdamerin, legt mit "Kältere Schichten der Luft" den fünften Roman in ihrem noch jungen Leben vor. Darüberhinaus übersetzt sie aus dem Englischen und vertraut zu Recht so auf ihr differenziertes Sprachvermögen, dass sie ihr Personal hauptsächlich aus seiner Art zu reden darstellt und charakterisiert. Ralf zum Beispiel kann sich nur verkorkst holprig und in autoritären Versatzstücken ausdrücken. Anja dagegen spricht geschliffen, sie ist durch ihre Distinktionsschule gegangen und hat sich in der "Glatzmänner"-Stadt Halberstadt Beharrungsvermögen erkämpft, auch wenn sie am Ende immer allein zurückbleibt.
Eigentlich passt sie in diese Gemeinschaft von Gestrandeten, die abends am Lagerfeuer krampfhaft ihr Glück beschwören. Sie arbeitet gut und lässt sich von dem rauen Umgangston nicht einschüchtern. Sie findet ihr Leben auf einmal sogar "interessant". Es ist eine Erholung, nicht mehr nächtelang im "Vienna" rumzuhängen oder sich auf dem Arbeitsamt beschimpfen zu lassen. Außerdem verbindet sie mit den anderen die Erfahrung des unglaublichen schwedischen Sommerlichts, das die Gesichter je nach Tageszeit verschwommen oder überscharf erscheinen lässt.
Aber der Roman setzt ein, als Anja schon einige Wochen im Camp ist und aus dem Nichts diese fremde Frau auftaucht. Sie spricht Anja an und nennt sie "Schmoll", der ein Phantom ist, das im Camp herumgeistert. Sie siezt Anja bis auf eine kurze Unterbrechung bis zum bitteren Ende und offenbart ihr ihre bedingungslose Liebe. Diese Frau ist dünn, hat lange Haare und Beine, sieht aus wie ein Kindmädchen, ist aber um die 35 und trägt immer kurze Kleider und unpassendes Schuhwerk für diese Naturfreak-Landschaft. Sie gleicht einer Elfe und es bleibt in der Schwebe, ob sie real ist oder eine Fantasie. Allerdings steht plötzlich auf dem Fußball des Camps "no gays".
Anja gehört nicht mehr zur verschworenen Gemeinschaft des Teams, weil sie sich nach draußen orientiert. Schikanen beginnen und sie wird zum Zielpunkt von Begehrlichkeiten. Ausgerechnet Ralf, der ihr in seiner unzugänglichen Kaputtheit am nächsten ist, versucht sie zu vergewaltigen. Svenja möchte an Anja plötzlich ihre lesbischen Sehnsüchte ausleben und belästigt sie. Doch mit Frauen, die ihr blöd kommen, wird sie leicht fertig, Ralfs Übergriff verkraftet sie weit schwerer. Mehr und mehr lässt sie sich von dieser Frau verzaubern und verwandelt sich in ihrer Gegenwart. Anja wird zu einem 14-jährigen Jungen mit weichen Zügen, sie tauft die Frau Siri und lernt, nicht mehr "in jedem Lächeln einen Hinterhalt" zu sehen. Vom Camp entfernt sie sich immer häufiger unerlaubt und setzt so ihren Job aufs Spiel. Dort gerät indes alles aus den Fugen. Eine unkontrollierbare Zerstörungswut verwüstet diese kleine Welt. Das Ende ist schrecklich und Anja bleibt nackter als je zuvor zurück. Ihr bleibt nur eine Erinnerung, in die sie sich einhüllt wie in einen Kokon.
"Kältere Schichten der Luft" ist ein flirrender Sommerroman um eine Hauptfigur, die nach einer Identität sucht, mit der sie leben will. Aber sie ist beschädigt und die Leute um sie noch viel mehr. Das Buch tut weh, weil Antje Ravic Strubel die unsympathische Verlorenheit dieser Menschen, die sich ständig selbst im Weg stehen, bedrückend gut beschreibt.
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Foto: Antje Ravic Strubel: Kältere Schichten der Luft. Fischer, Frankfurt am Main 2007. 190 S., 17, 90 Euro


412660, BEZE, 22.03.07, Words: 670, NO: 107024144


Spiegel Online, 21.03.2007

Kultur / Literatur

Machen wir's kurz

12:21:34 Die Romanschwarte, lange Zeit Objekt der Begierde von Verlegern und Lesepublikum, gerät ins Hintertreffen: Bei der heute startenden Leipziger Buchmesse brillieren die kleineren Formen. Die Literatur zieht den Kürzeren - gut so.

Günter Grass kommt zur Leipziger Buchmesse, die heute abend feierlich eröffnet wird, und stellt seinen neuen Band mit Gedichten vor. Und Martin Walser wird im Vorfeld seines 80. Geburtstages am Samstag auf dem Messegelände mit den gläsernen Runddächern viele Interviews geben. Aber das sind beides Ereignisse, die eher zum normalen Messealltag zählen und darüber hinaus die Phantasie der literarischen Trendscouts nicht recht beflügeln können. Heißer gehandelt werden in diesem Frühjahrsprogramm andere Namen. Die junge US-amerikanische Autorin Marisha Pessl etwa, die zuerst mit ihren Autorinnenfotos die Kaste der Literaturkritiker verwirrt hat - als sei es überraschend, dass gutaussehende Frauen dicke Bücher schreiben könnten - und deren Roman "Die alltägliche Physik des Unglücks" (Fischer Verlag) nun fleißig gelesen wird. Stark beachtet wird auch die deutsche Erzählerin Antje Rávic Strubel, die mit ihrem fünften Buch "Kältere Schichten der Luft" (Fischer Verlag) den Statuswechsel von der Nachwuchsautorin zur arrivierten Schriftstellerin geschafft hat. Und schließlich macht noch ein spätes Debüt von sich reden: Der Kunstkritiker Ulf Erdmann Ziegler, Jahrgang 1959, hat den literarisch feinsten Roman dieses Frühjahrs vorgelegt. Er heißt "Hamburger Hochbahn" (Wallstein Verlag) und ist ein subtil durchgearbeitetes realistisches Zeitstück aus den Achtzigerjahren. Machen wir's kurz Wirklich auffällig ist vor allem aber ein Trend: die Rückkehr der kleinen Form. Erzählungen und Kurzgeschichten galten in den vergangenen Jahren nur als Nebenarbeiten, es dominierte der handfeste Roman oder gleich die dicke Schwarte im Format von Jonathan Franzens "Korrekturen" oder Richard Powers "Der Klang der Welt". Gleich drei der interessantesten Neuerscheinungen, die in Leipzig vorgestellt werden, sind Bände mit Erzählungen - das kann kein Zufall sein! "Handy" (Berlin Verlag) heißt der Band von Ingo Schulze, er hat darin "dreizehn Geschichten in alter Manier", so der Untertitel, vorgelegt - schöne, teils wunderbar komische Erzählungen, in denen aus vielfältigen Perspektiven ein Schriftstellerleben auf Reisen reflektiert wird. In den sieben Jahren Arbeit an seinem großen Roman "Neue Leben" hatten sich offensichtlich viele Einfälle angestaut, die schnell abgearbeitet werden mussten. Erstaunlich aber ist, als wie lebendig sich die Form der Erzählung bei Ingo Schulze erweist. Sie eignet sich nicht nur gut für Lesungen, die hierzulande ja nicht nur auf der Buchmesse einen ungeahnten Boom erleben. Auch der Neigung, verschiedene Erzählhaltungen und Figurenperspektive nebeneinander stehen zu lassen, ohne sie gleich in einen Romankosmos einzuschmelzen, kommt sie entgegen. Als Leser kann man in so einem Band zappen wie zwischen verschiedenen Fernsehprogrammen. Liebe, knapp und kompliziert Dass Maxim Biller ein Meister der kleinen Form ist, hat er bereits in vielen Glossen und Kolumnen bewiesen. In seinem soeben erschienenen Erzählungsband "Liebe heute" (Verlag Kiepenheuer & Witsch) demonstriert er die hohe Kunst, auf jeweils fünf bis zehn Seiten eine Situation oder eine Figur aufblitzen zu lassen; insgesamt führt der Band so erhellende, melancholische und vor allem realistische Einblicke in das komplizierte Liebesleben heutiger Großstadtbewohner vor. Die Form der Kurzgeschichte stimmt hier unbedingt mit dem Inhalt überein. Die Liebesbegegnungen von Billers Figuren wollen sich nicht zur langen, breit auserzählbaren Geschichte runden. Es bleibt oft bei flüchtigen Begegnungen und unglücklichen Verläufen. So passt die Kurzgeschichte offensichtlich sehr gut zum Lebensgefühl heutiger Thirty- und Fourtysomethings. Das ist auch in "Minibar" (Verbrecher Verlag) nachzulesen, dem literarischen Debüt des Essayisten und Literaturkritikers Kolja Mensing. In kurzen, lakonischen und sorgsam komponierten Geschichten beschreibt er die Schwierigkeiten heutiger 30-Jähriger, erwachsen zu werden. Bei Kolja Mensing kann man sehen, dass der Trend zur Kurzgeschichte mit einer neuen literarischen Sensibilität einhergeht. Disperate Szenen und Eindrücke werden nicht mehr mit einer Rahmenhandlung versehen und dann als Poproman verkauft - Joachim Lottmann hat dieses Vorgehen bis zum Exzess betrieben. Stattdessen werden sie jetzt von Maxim Biller und Kolja Mensing nebeneinander stehen gelassen. Wie in der Wirklichkeit auch. Einem dieser Kurgeschichtenbände werden sogar gute Chancen eingeräumt, am Donnerstag um 16 Uhr den Preis der Leipziger Buchmesse abzuräumen: Ingo Schulze steht auf der Shortlist, zusammen mit Antje Rávic Strubel, dem Dauerschreiber Wilhelm Genazino, dem Geheimfavoriten Wolfgang Schlüter und Werner Bräunig, dem Ende der siebziger Jahre verstorbenen DDR-Autor, dessen Roman "Rummelplatz"in der DDR verboten wurde und erst jetzt erscheinen konnte.
 
Autor: Thomas Meininger

237922, SPON, 21.03.07, Words: 711, NO: SPON20070321-472939


Der Tagesspiegel Nr. 19495 VOM 21.03.2007 SEITE 027

Sonderthema

Der tollste Tango // Licht, Luft und Liebe: eine Begegnung mit der Berliner Schriftstellerin Antje Rávic Strubel

Von Deike Diening

Man muss vorsichtig sein mit Menschen, die das Wort "Wahrheit" nicht aussprechen können, ohne in Lachen auszubrechen. Die dann auch noch so lachen, als handle es sich um etwas völlig Surreales. Als sei Wahrheit ein Wort wie "Papst", hinter dem etwas so Undenkbares steckt wie ein Mensch mit Unfehlbarkeitsanspruch. Als Antje Rávic Strubel also aus ihrem Mund das Wort "Wahrheit" fallen hört, lacht sie unvermittelt, ironisch, mit einer tief sitzenden Skepsis. Leute, die so lachen, misstrauen sich selbst, sie misstrauen der Sprache, sie misstrauen den Möglichkeiten, sie misstrauen den Tatsachen, ja am Ende noch der Tatsache, dass es Tatsachen gibt.

Unleugbar ist Folgendes: Antje Rávic Strubel ist unter Verdacht. Preisverdächtig, weil nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse mit ihrem fünften Roman "Kältere Schichten der Luft". Darin trifft Anja, die einen Sommer in einem schwedischen Kanucamp arbeitet, auf eine andere Frau, und die entdeckt in Anja einen Jungen, und zwar so beharrlich, bis diese selbst in sich diesen Jungen spürt.

Unleugbar sitzt Antje Rávic Strubel ganz in Schwarz im Halbdunkel des Lindencafés in Potsdam, und ihr Blick fokussiert eine Apfelsaftschorle. Wären wir in einem ihrer Bücher, müsste die Schorle in dem Moment, in dem Rávic Strubel sie ansieht, etwas seltsam Neues, Unerwartetes werden.

Vermutlich wäre es - auch sprachlich - nie so weit gekommen, wenn es 1989 die Wende nicht gegeben hätte, als Erfahrung einer ersten, existenziellen Verunsicherung. Da begann sich für das Mädchen Antje, ein Widder aus Potsdam, wohnhaft in Ludwigsfelde, alles zu drehen. "Lehrer sagten plötzlich von einem Tag auf den anderen das Gegenteil", die Welt war dabei, sich selbst umzudeuten. Irgendjemand hatte das Licht verändert, und plötzlich schien, obwohl sich ja nichts geändert hatte, zumindest nicht an der eigenen Vergangenheit, eben jene völlig neu. Sie war plötzlich anders, in diesem neuen Licht. Vielleicht musste man also nicht die Dinge, sondern das Licht beschreiben.

Strubel ging nach New York, wo sie an einem Theater als Beleuchterin arbeitete. Sie recherchierte für ihren ersten Roman, der hieß "Offene Blende" und handelte von der Liebe einer Frau zu einer Fotografin. Fünf Bücher später beginnt "Kältere Schichten der Luft" mit dem Satz: "Vom Licht wussten sie alles."

Mehr als die Tatsachen interessiert die Autorin das Licht, in dem sie erscheinen. Denn Tatsachen ändern sich mit dem Licht, das auf sie fällt. Und sind nicht am Ende die Möglichkeiten interessanter als Tatsachen?"Ja, das könnte sein", sagt sie. Es geht darum, die Möglichkeiten möglichst lange offenzuhalten. "Wie aber schreibt man mit offenen Möglichkeiten, ohne beliebig zu sein?"

Es ist ihre Methode, der Beliebigkeit Genauigkeit entgegenzusetzen: Sie guckt auf die hervortretenden Knöchel, wenn eine Hand zugreift. Sie beschreibt die Modulation der Gefühle, um ein Zittern der Wahrnehmung zu zeigen.

Manchmal ist das anstrengend zu lesen. Strubel hat jede Menge Spiegel aufgestellt in ihrer Geschichte, darin sieht man die Protagonisten und diese sich selbst, darin sieht man die Autorin, die sich selber beim Schreiben sieht. Strubel kann nicht mehr anders. "Ich würde gerne einfach mal eine Geschichte erzählen, die von A nach B führt."Die Autorin wirkt wie eine, die alle Möglichkeiten noch mal durchspielt, wenn das Spiel gelaufen ist. Wie hätte es auch noch sein können?

"Ich habe oft das Gefühl, in dem Moment, in dem man etwas äußert, zerfällt es schon wieder."Worte, kaum gesprochen, stehen schon in Frage. Sind Objekt einer Prüfung. Relativieren sich. Was ist da die Wahrheit?

Da ist das namenlose Mädchen, das später Siri genannt wird, und in der Gore-Tex-Umgebung des Kanucamps in irrationalen Sommerkleidern auftaucht und im Gegenlicht steht. Seine Vergangenheit bleibt im Dunkel, genauso wie die Herkunft des Fußballs, auf den jemand eines Tages "no gays" geschrieben hat. Die Ressentiments der anderen treffen auf die Paranoia von Anja, Gewalt scheint eine Lösung.

Die Menschen aus dem Team im Kanucamp haben sich ihrer Vergangenheiten entledigt, wenigstens für einen Sommer. Die Vergangenheit der Protagonisten war bitter oder schnöde. Nichts, das man fortsetzen sollte. Also versuchen sie, neu anzufangen. Und alle wissen, dass sie nur so tun. "Du bist gekommen, weil du das Unvorhersehbare suchst. Weil du die Wiederholungen satthast", sagt Siri zu Anja. Und dann: "Die Inhalte wiederholen sich sowieso."Bleibt noch die Form.

Antje Rávic Strubel erinnert einerseits manchmal an einen gequälten Abiturienten, der sich vor der Wahl eine Studienfaches fürchtet - weil er mit jeder Entscheidung für ein Fach all die anderen Möglichkeiten ausschließt. Andererseits ist das Leben ja eine Wahl, und eine der größten Freuden liegt darin, Erwartungen zu enttäuschen. Das Erfreuliche ist, dass Schriftsteller Stipendien dafür bekommen, Erwartungen zu enttäuschen. Strubel schafft das gut, sie trifft ständig auch dort eine eigene Wahl, wo viele gar keine vermuten.

Der Name. Ist nicht nur eine Frage der Eltern. Antje Rávic Strubel hat sich ihren mittleren Namen "Rávic" samt Akzent selbst verpasst, als sie fand, dass er zu ihrem Schreibstil passte.

Das Geschlecht. Ist nicht nur eine Frage der Biologie. Wer sagt denn, dass Frauen Männer lieben müssen?

Der Gehorsam. Ist nicht nur eine Frage des Geschlechts. Beim Tangotanzen hatte sie beide Rollen, aber zuletzt hat sie geführt. Auf ihrer Website posiert sie mit einer Maske.

Auch die Rollen im Buch sind nie vorhersehbar. Sie strickt ständige Unsicherheit wie einen Faden mit. Leicht aus dem Lot läuft der Leser an der Geschichte entlang. Hat Siri wirklich erlebt, was Anja sich vorstellt?Wen hat Ralf gesehen, als er eines Nachts ins Zelt einbrach und ihr an die Wäsche ging? Der Kompass hat eine Nadel, die nach Norden zeigt. Aber sie zittert.

Strubel misstraut dem Pars pro Toto. Worauf verpflichtet eigentlich das Detail das Ganze?Was ist das für eine Art, auf die immer wieder an der gleichen Stelle einrastenden Muster im Kopf des Lesers zu bauen, der bei der Erwähnung von weißen Schnürsenkeln gleich einen ganzen Rechten sieht?Und wenn sich eine Frau ein gestreiftes Herrenhemd überzieht, ist sie dann ein Mann?

Es ist bei ihr nicht zulässig, dass der Leser sich eines Ganzen sicher wähnt, das tut ja nicht einmal die Autorin. "Ich sehe beim Schreiben nie die ganze Person. Ich sehe eine Hand, eine Geste."Strubels Bücher sind eine Beweisführung, dass man noch gar nichts weiß und sich auch darüber nicht sicher sein kann. "Was man für Klarheit hält, ist oft nur ein Klischee."Und in den Klischees liegt die Sicherheit des Lesers und manchmal auch die des Autors. "Sicherheiten sind oft trügerisch, deshalb meide ich sie."

Im letzten Jahr ist Antje Rávic Strubel nach Potsdam gezogen, und deshalb kann man mit ihr jetzt in Babelsberg spazieren gehen. Nach diesen ganzen Unsicherheiten möchte man ja auch mal einen Fixpunkt haben, auf den man sich zubewegen kann!Rávic schlägt den Flatow-Turm vor. Sie mag Aussichten. Draufsichten. Die Nähe zum Wasser, den Wind. Und - um beim Licht zu bleiben - auch das leuchtet ein: Wetter ist zugleich konkret bis ins kleinste Detail und trotzdem jederzeit veränderlich, stufenlos regelbar, in unendlichen Variationen und Kombinationen. Alle Wetter sind möglich. Und sie bieten nur vorübergehende Sicherheit.

Natürlich sind Strubels Eltern, die Gewissheiten eigentlich immer gut fanden, nun doch stolz auf ihre 32-jährige Tochter. Auch wenn sie sich immer noch nicht vorstellen können, wie dieses freie Leben funktioniert, Tag für Tag.

Besser, es ruft keiner an, morgens, bevor sie mit dem Schreiben beginnt. Besser, sie liest noch keine Zeitung. Besser, die Welt bleibt noch eine Weile, wo sie ist, und sie selbst noch eine Weile mit ihren Gedanken allein. Besser, sie hat den Vormittag für sich, solange es geht mit der Konzentration auf die genaue Sprache, das kostbare Gut, bevor das reale Leben einbricht in die Fantasie. Dann raus, am Nachmittag Erledigungen.

"Offene Blende", "Unter Schnee", "Fremd Gehen. Ein Nachtstück", "Tupolew 134" und "Kältere Schichten der Luft" sind so entstanden. In "Tupolew 134" steht viel bis dahin Unerhörtes über die Lebenswirklichkeit in der DDR. Es wurde als ihr bislang stärkstes Stück gefeiert.

Antje Rávic Strubel hatte früh davon gehört, dass den Künstlern gelegentlich ihr Tun auf die angenehmste Art zu Kopf steigt. Es sollte für sie nichts Schöneres geben. "Ich habe den Rausch gesucht."Nur wenn der Rausch da ist, der Rausch des Schreibens, dessentwegen sie das alles macht, dann spielt das morgendliche Ritual keine Rolle mehr. Wenn der Rausch kommt, in der Anfangsphase eines Buches, wird Ort und Zeit des Schreibens unwichtig. Dann gibt es Konzentration und Auflösung gleichzeitig.

Zuletzt hat sie ihre Partnerin geführt beim Tango, dem Tanz derjenigen, die sich erst in letzter Sekunde für eine Möglichkeit, eine Schrittfolge, entscheiden. Auch das war Konzentration und Auflösung gleichzeitig, auf eine körperliche Art. Denn im Prinzip, wenn nur die Aufmerksamkeit, die Konzentration und die Spannkraft ausreichen, dann ist im Tango aus jeder Situation heraus jede Bewegung möglich. Das ist sensationell. Da unterscheidet sich Tango von anderen Tänzen, in denen es viel mehr wiederholte, geregelte Abläufe gibt, die man abtanzen muss. Antje Rávic Strubel kann das Abtanzen von Erwartungen nicht leiden. Das wäre, als müsste sie Klischees tanzen.

Tango dagegen tanzt man in einer Hochspannung, die sich aus der Allgegenwart der Möglichkeiten ergibt. Strubel mag die Erwartung des nächsten Schritts. Wenn das Offenhalten aller Möglichkeiten ständig nach einer Entscheidung verlangt. Sie genießt, wenn das Gegenüber zögert, etwas auskostet, eine Drehung verlangsamt, beschleunigt, bestimmt, fordert, antwortet, reizt und geizt. Es ist ein einziges Fragen, Überprüfen, Antworten, Auswählen, Kombinieren. Es ist wie Schreiben.

Die Intensität führt dazu, dass die Tänzer kaum Alkohol trinken und deshalb die Besitzer der Tangobars nie reich werden. Sie führt dazu, dass die Tänzer knallwach um fünf Uhr morgens ins Helle treten. Dann ist es Zeit, am Schreibtisch die Suche nach der unerwarteten Wendung fortzusetzen.

"Es wäre das Tollste, wenn man mitten im Tanz wechseln könnte", sagt sie, "von derjenigen, die geführt wird, zur Führenden."Man könnte die Zwangsläufigkeiten verringern. Es würde die Aufmerksamkeit erhöhen.
Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse. Antje Rávic Strubel.
Foto: Brigitte Friedrich/Ullstein Bild/Montage Tagesspiegel

Serientitel: Leipziger Buchmesse (Tagesspiegel-Beilage)
Deskriptor(en): Schriftsteller
Literatur

943197, TSP, 21.03.07, Words: 1669 NO: 200703213152733


Süddeutsche Zeitung, 20.03.2007, Ausgabe Deutschland, S. V2/6

Ressort: Literaturbeilage
Rubrik: Buchkritik


Ein Sommerkleid mit Troll

Brutal real, lasziv schwebend : Antje Rávic Strubel und ihr Roman "Kältere Schichten der Luft" Von Helmut Böttiger

Das Licht ist mal klar, mal diffus; es gibt scharfe Konturen und weiche Übergänge. Antje Rávic Strubel spielt auf mehreren Klaviaturen. Ihr Roman "Kältere Schichten der Luft" arbeitet auf jeder Seite daran, sich zu entziehen, so wie jene Schichten der Luft, die man nur erahnen kann, wenn man auf die Bodenhaftung angewiesen bleibt. Das Tückische ist aber, dass es auf jeder Seite auch hart und realistisch zugeht, wie wenn die Filmkamera einfach nur draufhielte.

Wir befinden uns auf einem Feriencamp in Schweden. Jede Woche treffen mehrere Busladungen mit Jugendlichen ein, die in ihrem Abenteuerurlaub betreut werden: Kanufahren, auf offenem Feuer kochen, abgelegene Inseln ohne Strom und Zerstreuung. Die wenigen Leute von der Crew sind Gestrandete, Arbeitslose und Jobsuchende, die nichts Besseres gefunden haben. Die Bezahlung ist dürftig, die Aufgaben sind vielfältig und nervtötend. Manchmal gelingt aber ein Eintauchen in die schwedische Seenlandschaft. Die dreißigjährige Anja, durch deren Augen wir alles wahrnehmen, hat sich für diesen Sommerjob entschieden, um endlich aus dem überschaubaren Leerlauf in Halberstadt herauszukommen, den Kopf frei zu kriegen.

Die Zentrale in Berlin hat ständig neue Direktiven, das Camp vor Ort ist chronisch unterbesetzt. Schnörkellos und nüchtern stellt Antje Rávic Strubel diese zeitgenössische, zufällige Arbeitswelt dar. Dialoge und direkte Rede sind prägnant, lassen die Figuren plastisch hervortreten: Svenja, die Achtundsechzigerer-Aussteigerin und Kleingewerbekarrieristin, Sabine, die verträumte Sinnsuchende, oder Ralf, der einen vertrackten DDR-Hintergrund als Grenzsoldat hat und anfangs fast wie ein väterlicher Haltepunkt für Anja wirkt. Es sind nur wenige, beiläufige Andeutungen, die hier ein soziales und zeitgeschichtliches Vexierbild des Nachwendedeutschlands liefern. Im nördlichen, entrückten Licht des schwedischen Sommers relativiert sich einiges, verdichtet sich manches.

Von Anfang an sind in diesem Roman allerdings Momente eingefangen, die den vordergründigen Realismus in die Schwebe geraten lassen. Der Erzählduktus wird gleich anders, als Anja ein Mädchen - oder eine Frau? - beobachtet, das ein leichtes Sommerkleid anhat. Normalerweise trägt man hier robuste, geschlechtsneutrale Outdoorkleidung mit Außentaschen und Reißverschlüssen. Dieses Wesen scheint von anderswo herzukommen, passt nicht in die zynisch-pragmatische Arbeitsatmosphäre des Camps. Anja wollte den Kopf frei kriegen. Aber plötzlich ist da Raum für phantastische Schwingungen, für etwas Elfenhaftes. "Dieses Mädchen im Kleid, das kein Mädchen war" - es führt in eine ganz andere Geschichte hinein, eine Geschichte mit Luftspiegelungen und Lichteffekten, und wir sind schon längst nicht mehr in einer realistischen Erzählung, sondern mittendrin in langsamen Kamerafahrten, Perspektiv- und Beleuchtungswechseln, Doppelbelichtungen. So genau wie Antje Rávic Strubel den banal ruppigen Umgangston auf der Arbeitsstelle trifft, so abrupt wechselt sie hinüber in traumartige Zustände, in Trance.

Anja hat einige lesbische Beziehungen hinter sich, und die Genese ihrer sexuellen Orientierung wird nüchtern referiert: sie ist mit zwei Brüdern aufgewachsen, und irgendwann wurde ihr das zu eng. Doch "Kältere Schichten der Luft", angesiedelt im unwirklichen nördlichen Licht, ist kein Roman, in dem die weibliche Homosexualität im Mittelpunkt steht. Die Faszination, die die junge fremde Frau auf Anja ausübt, ist zwar sexuell konnotiert, zugleich aber Teil einer umfassenden Irritation der gewohnten Wahrnehmung, Teil eines großen, ernsten Spiels, das ständig nach neuen Formen sucht. Die Fremde ist nicht zu fassen, man kann sich nie ganz sicher sein, dass sie eine reale Figur ist - sie bleibt stets in ein raffiniertes Zwielicht gehüllt.

Es ist nicht recht vorstellbar, wo sie wohnen könnte. Einmal fährt Anja mit ihr im Boot zu dem Haus, das sie gekauft hat, und die Szenerie dort befindet sich genau an der Nahtstelle zwischen Realität und Traum: Es ist hier alles so, wie es seit Jahren gewesen ist, hier ist eine alte Frau gestorben, und ihre Strickjacke liegt noch genauso da wie die Küchenutensilien, wie die Zuckerdose, in der der Zucker längst verklumpt ist; es gibt hier keine Spur einer neuen Inbesitznahme. Aber dafür tauchen unwirklich scheinende neue Geschichten auf, die gelegentlich wiederholt und dabei jedes Mal ein bisschen anders werden: Die Fremde hat das Haus vom Sohn der Frau gekauft, fährt mit ihm und seinem Freund zur Besichtigung in einem engen, stickigen Auto, das immer stickiger und bedrohlicher wird, und dann ist da die Suche der Fremden nach einem verlorenen Geliebten, dem sie hier wiederbegegnet zu sein glaubt.

Strubel erzählt das in einer Form, die sich begrifflichen Fixierungen entzieht. Manche Passagen wirken wie leicht verrückte Videoszenen, wo mehrere Handlungen ineinandergeblendet werden und die Sprechsituationen zu verschiedenen Zeitpunkten stattfinden. Der harte Camp-Alltag und die sanften Überhöhungen, für die die fremde Frau steht, heben sich voneinander ab, aber die Übergänge sind nicht klar erkennbar und verschwimmen. Ralf, der Grenzer mit DDR-Hintergrund, steht für das unbedingte Realitätsprinzip, für die zeitgeschichtliche und soziale Verortung, Siri aber, wie Anja die fremde Frau zu nennen beginnt, flirrt undeutlich in einer Wahrnehmungszone daneben.

Das Spiel mit Identitäten, mit der Uneindeutigkeit findet seinen Höhepunkt, wenn ein "Schiffsjunge" auftaucht, der den Namen "Schmoll" trägt. Diese Figur steht auf der einen Seite für den Geliebten, nach dem Siri, die fremde Frau, sucht, auf der anderen Seite nimmt Anja bereitwillig die Identität dieses Schmoll an: Siri umarmt sie bei der ersten Begegnung lasziv und wie absichtslos, und sie spricht sie mit "Schmoll" an - in diesem Namen ist der "Troll" enthalten, die erotisch aufgeladene Sagengestalt aus dem hohen Norden. Der Roman entfaltet diese Motive wie nebenbei, fast so lasziv wie die erste Umarmung Siris und Anjas, und es ist eine ungeahnte Wendung der Geschichte, dass in das desillusionierte und hartgesottene Post-DDR-Camp auf exterritorialem Terrain plötzlich die Trolle und die Elfen einbrechen. Und das wirkt unangestrengt wie in einem leicht dahingeworfenen surrealen Gemälde.

Die konkreten Bedingungen im Feriencamp und Anjas Suchbewegungen sind bald nicht mehr miteinander zu vereinbaren. "Kältere Schichten der Luft" ist vor allem eine Außenseitergeschichte, die Geschichte einer Ausgrenzung, die aus Anjas Sehnsucht nach Entgrenzung hervorgeht. Die erotisch aufgeladene Atmosphäre durch Siri, die fremde Frau, die Provokation durch Anjas offenkundige sexuelle Orientierung treibt auf einen Spannungshöhepunkt zu. Die Anfeindungen im Camp und die Sogwirkung durch Siri scheinen sich gegenseitig hochzuschaukeln und einander zu bedingen. Es ist verblüffend, wie es Antje Rávic Strubel gelingt, eine beklemmende Milieustudie zu entwerfen - und eine soziale Versuchsanordnung, in der sich in einer unheimlichen Logik eine tödliche Aggressivität gegen den Abweichler aufbaut.

Nur manchmal, und das sind die schwächeren Passagen des Buchs, wird die Erzählstimme plakativ, wirken die Sätze überkonstruiert. Der Vergewaltigungsversuch Ralfs, der aus den Geschehnissen zwingend hervorgeht, ist so ein Moment, da wird zu sehr mit Begriffen operiert. Anja fragt sich, ob Ralf sie "schon von Anfang an zum Gegenstand seiner Phantasien gemacht hatte. Phantasien, die er spätnachts im Schlafsack mit sich und seinem Körper ausgelebt hatte, bis ihm das nicht mehr reichte. Phantasien, von denen ich nichts wusste."

Hier wird etwas erklärt, was sonst subtil durch atmosphärisch dichte Schilderungen entsteht. Auch die Absätze am Schluss, mit einem spektakulär inszenierten Showdown, wirken mitunter etwas forciert, zwingen die Geschichte in eine Rätselhaftigkeit, die schon vorher da war und jetzt fast zu eindeutig, zu gewollt erscheint. Die Szenen aber, in denen Antje Rávic Strubel ihr Spiel mit Zuordnungen, mit Identitäten, mit Traum und Wirklichkeit hautnah vermittelt, kann man nicht so einfach zitieren wie jene "Phantasien": Sie bauen sich langsam auf, leben in Andeutungen. Es ist nicht in eine andere Sprache, in die Sekundärsprache zu übersetzen, wie sich Anja in den Körper des Schiffsjungen Schmoll hineinbegibt, in eine andere Rolle schlüpft, um sich Siri zu nähern - solch erotisch aufgeladene, vieldeutige, be- und entrückende Sätze fallen in der deutschen Gegenwartsliteratur auf.

Antje Rávic Strubel, 1974 in Potsdam geboren, hat überhaupt nichts zu tun mit der hilflos saturierten Judith-Tilmann-Silke-Literatur vieler ihrer Generationskollegen. Sie will das Unbedingte. Es ist ein enormes Risiko, zu den "kälteren Schichten der Luft" vorzudringen und dabei nicht sofort abzustürzen - dieser Roman genießt die kälteren Luftschichten sogar.

Im nördlichen, entrückten Licht des schwedischen Sommers verdichtet sich manches

Solch erotisch aufgeladene Sätze fallen in der deutschen Gegenwartsliteratur auf

Antje Rávic Strubel

Kältere Schichten der Luft

Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 188 Seiten, 17,90 Euro.

Person: Strubel, Antje Ravic
Vorgang: Buch-Rezensionen zu deutschen Autoren

377258, SZ, 20.03.07, Words: 1338, NO: A40742353


DIE WELT, 17.03.2007, Nr. 65, S. 3

Ressort: LITERARISCHE-WELT

Elmar Krekeler

Das Mädchen vom See
Ein bisschen früh - aber Antje Ravic Strubel hat den Roman für den kommenden Sommer geschrieben


Von Elmar Krekeler
Fangen wir mit dem Licht an. Und mit dem Himmel. Und dem See. Mit dem Himmel, der weiß sein kann und zerklüftet und lichtblau und leer. Mit dem Licht, das aussehen kann wie flüssiges Metall, das rot in den Kiefern hängt am Abend, das flirrend gelb ist am Mittag und manchmal grünlich schimmert. Das Gesichter verändert und mit den Blicken der Menschen spielt und mit der Oberfläche, den Farben des Sees. Dem Licht, das gefährlich ist, wenn es zuviel wird.
Fangen wir mit dem an, was Antje Ravic Strubel aufspannt - über und hinter ihrer sehr romantischen Geschichte von Anja, dem Mädchen am See, und Schmoll, dem Schiffsjungen. Ein geradezu altmeisterliches Sprachkunstwerk: Geflochten aus Sätzen, wie sie in ihrer Makellosigkeit, ihrer Präzision, ihrer dunkelleuchtenden Tiefe ziemlich selten geworden sind - nicht nur unter den Generationsgenossen der 1974 in Potsdam geborenen Strubel. Diese sprachliche Schönheit ist beileibe kein Selbstzweck, denn die Sätze sind in Strubels neuem Roman aufs Feinste verzwirbelt mit, herausgewuchert aus dem Erzählgrund. Genauso präzise wie Antje Ravic Strubel Himmel und See und Licht, das ganze romantische Exterieur ihrer Geschichte inszeniert, genauso präzise zeichnet sie die Winkelzüge der Veränderungen, Verschiebungen, Verrückungen nach, die sich in den paar Sommertagen ereignen, von denen sie in "Kältere Schichten der Luft" berichtet.
Einer Gesellschaft von Gespenstern hat sich da in einem Jugendlager am Ufer eines Sees in Schweden versammelt. Sie sind als Betreuer hierher gekommen - und weil, so behauptete wenigstens der Anwerbetext, die Natur keine Fragen stellt. Weil sie hier wurzellos leben können. Sich nicht rechtfertig mussten. An einem Ort fern der Zeit. Die Geschichte, ihre Geschichten, das alles gilt hier nichts, ist nicht mehr als "Retrokacke". Eine Weile so tun, als ginge der Rest ihres Lebens sie nichts an, den sie in jenem Land gelassen haben, das eigentlich nicht mehr existiert. In Halberstadt, im Osten Berlins. Der Ex-Grenzer, die verhinderte Ärztin, die ehemalige Schamanin. Und Anja, die arbeitslose Beleuchterin, durch deren geblendete, herumirrende Augen wir alles sehen.
Eine Gesellschaft außerhalb der Zivilisation. Früher strandeten solche Schicksalsgemeinschaften gern auf einsamen Südseeinseln. Heute sitzen sie am Ufer eines an seiner tiefsten Stelle zweihundert Meter tiefen schwedischen Sees und schaffen Ordnung in einem Jugendlager. Dass diese Schicksalsgemeinschaft allerdings genauso auseinander brechen, explodieren in einer vorzivilisatorischen Tat wie bei William Golding und Co., das ist schon in dem Moment klar, in dem sie wie trunken über den Zeltplatz läuft und direkt in den See springt - das Mädchen vom See.
Man muss nicht lange nachsuchen, um eine Schwester von Anja zu finden und einen Bruder im Geiste ihrer Urheberin. Christian Petzolds neuer Film "Yella" ist ebenfalls ein Essay über die Zurichtung von Menschen im Kapitalismus, über ungelebtes Leben und die Möglichkeit von Glück, ist ebenfalls eine höchst romantische Erzählung - wobei Petzolds die Romantik in seinen Film eben auch mit der Handkante einbrechen lässt, indem regelmäßig Bäume rauschen und Raben krähen. Strubel ist da sehr viel subtiler und ihr Roman voll gesogen mit Allusionen aus dem Erzählkabinett des E. T. A. Hoffmann. So wie Petzolds hyperrealistische Yella sich allerdings aus Wittenberge wegträumt, das Wittenberge in sich austreibt, so versucht die anfangs ähnlich hyperrealistisch ausgeleuchtete Anja Halberstadt loszuwerden. Die Neonazis, die Arbeitsagentur, ihre ach so gut funktionierenden Brüder. Und die Paare, Mann und Frau, eingehakt auf der nächtlichen Straße, Paare, "vor deren Sicherheit man schwankt. Deren Anblick einem zeigt, wie man auszusehen hat, um diese Sicherheit zu verdienen. Paare, unter deren festen Schritten man das eigene Leben wegbrechen hört." Anjas Leben geht anders. Anja liebt Frauen.
Hier am See träumt sie nun endlich nicht mehr von der Angst, nicht gut genug zu sein. Hier träumt sie wieder vom Fliegen. Hier ist es auch egal, dass sie dreißig ist und man ihr bedeutet hat, dass sie eigentlich verdammt spät dran ist in ihrem Leben. Weswegen sie eine anmutige Quarter-life-Crisis in den Knochen hat.
Sie wäre weiter hocken geblieben bei und zurückgekehrt zu den modernen Maschinenmenschen, den Verlierern, die Verlierer bleiben, weil sie so lange gehört haben, dass sie abgeschrieben, ausrangiert sind, ein menschlicher Rest kurz vor dem Abriss. Sie hätte ihr weltflüchtiges Experiment abgebrochen, wenn nicht dieses Mädchen trunken und im viel zu kurzen Kleid durch den Sommer angetanzt wäre. Wenn dieses von einer Aureole umstrahlte Wunderwesen nicht das begraben geglaubte Begehren in ihr geweckt hätte und damit das Feuer an jene Lunte gelegt, die letztlich zur Explosion der Lage und des Lagers führt.
Nicht nur mit Licht nämlich kennt sich Antje Ravic Strubel aus und mit der Sprache. Sondern auch mit der Liebe und ihrer alle Fesseln sprengenden, alles verändernden Kraft. Anja lernt im Hinterhertapsen erst, im Umtanzen des Mädchens vom See später, wie schnell die Deckhaut der desillusionierten Dreißigjährigen abfällt und die Achtzehnjährige, die Sechzehnjährige wieder zum Vorschein kommen kann im Augenblick der Liebe. Die Veränderung geht weiter. In immer schneller drehenden Kreisen führt Antje Ravic Strubel die Verwandlungen vor, die Liebe auslösen kann.
Es entspinnt sich ein bizarres Spiel sich verschiebender Identitäten, ein Ver-Rücken, ein Verrückt-Werden. Anja verwandelt sich - je länger, je genauer - einem Traumbild ihrer Geliebten an, dem Schiffsjungen Schmoll. Anja ist Schmoll, sagt das Mädchen vom See, so wird Anja tatsächlich Schmoll. "Grob, schlecht umrissen, erregbar und abhängig von dem, was sie sah. Was sie in mir sah, leichtfertig und unbeholfen." Dass Anja eine Frau ist, tut nichts: "Solange man seinen Geschichten traut, ist das egal."
Antje Ravic Strubels Geschichte ist unbedingt zu trauen. Was als Fazit eines Romans, der sich auf so geringem Raum eine derartige Menge an Volten und an Material vorgenommen hat, kein schlechtes Fazit ist. Verblüffend konsequent, unaufdringlich und sicher inszeniert Strubel ihr Sprach- und Literaturspiel. Lässt einen Roman aus dem Roman wuchern, ihn sich ausspinnen, flicht kleine hoffmanneske Nebengeschichten ein. Das Grauen zieht langsam auf wie das Gewitter überm See, die Grenzen zwischen fast überbelichteten Bereichen und den Grenzen zur Illusion, zum Traum verwischen sich so unmerklich wie vollständig.
Man steht erhellt da, am Ende, mit diesem lichten, dunklen Sprachkunststück, erschüttert und verzaubert. Und weiß, was man wieder und wieder lesen, vorlesen will in diesem Frühjahr, das ein Sommer wird. Am See.

Antje Ravic Strubel: Kältere Schichten der Luft. S. Fischer, Frankfurt/M. 189 S., 17,90 Euro.


Foto: Zaia Alexander

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813485, WELT, 17.03.07, Words: 1056, NO: 50906964



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Neue Zürcher Zeitung, 17.03.2007, Nr. 64, S. 51

Feuilleton

AA Auswärtige Autoren
Sex im Kopf, im Wald und anderswo
Antje Rávic Strubels Roman "Kältere Schichten der Luft"


Dieser muskulöse kleine Roman lässt sich wahlweise als "Transgender-Romanze", als Comingout-Thrill (denn es gibt auch einen Toten) oder als Feenmärchen aus den schwedischen Wäldern lesen. Das kommt ganz auf den Interpreten an. In allen drei Fällen würde man aber die Autorin schwer unterschätzen. Antje Rávic Strubel hat ihrem fünften Buch darum zwei englische Zitate vorangestellt, das eine von Byron und das andere von D. H. Lawrence. Sie beziehen sich auf das Dreissigwerden als magische Grenze im Leben und auf die Schwachstellen zivilisierter Gesellschaften: Geld und Liebe. Solche Romanmottos sind gute alte Tradition. Sie dienen als Portiers, die uns gewissermassen mit höflicher Zurückhaltung auf den Eintritt in den Roman vorbereiten. Diesem scheint das besonders gutzutun, denn "Kältere Schichten der Luft" verbindet auf höchst raffinierte Art erotische und gedankliche Komplexität.

In der Wildnis

Ein deutsches Sommercamp für Jugendliche in den schwedischen Wäldern nahe der norwegischen Grenze. Impressionistische Lichteffekte, dunkle Seen, helle Nächte. Anja, eine junge Frau um die dreissig, die im Camp arbeitet, trifft sich draussen im Wald mit einem rätselhaften Wesen, etwas zwischen Girlie, Vamp und Troll. Sie verliebt sich und folgt ihm zu einem einsam gelegenen Haus. Im Camp wird Anja dafür geächtet. "No gays", steht eines Morgens auf einem Fussball geschrieben. Im Camp gelten feste Regeln. Das Zeltlager, das den Kids aus den Grossstädten ein oder zwei Wochen Wildnis pur bieten möchte, mit Kanufahrten, Lagerfeuer, Dosenbrot, ist selbst ein hochorganisiertes System von Zivilisationsentzugsangeboten, die allerdings mit Natur nur noch entfernt zu tun haben. Mit Outdoor-Romantik lässt sich vor allem viel Geld verdienen. Im gehorsamen Nachvollzug von Produktmarketing-Sonnenuntergängen und Werbung für wetterfeste Kleidung, das zeigt Rávic Strubel in wenigen, klar umrissenen Nebenfiguren und Arbeitsabläufen, werden latente Kulturschäden abgeschöpft und überdeckt, vor allem bei den Mitarbeitern, doch nicht repariert.
Mit energischen Strichen skizziert sie soziale Verwerfungen dieser Mikrogruppe, in der Anja nach der Begegnung mit dem Mädchen zum Aussenseiter wird, zum Störfall innerhalb der Normalität, denn sie durchbricht die Regeln des Systems. "Scheiss Anpassermentalität, muss ja heute alles irgendwie quer und gender sein", meint selbstironisch Anjas Kollege Ralf und versucht auch gleich, Anja mit Gewalt auf den rechten sexuellen Weg zurückzubringen.
Doch Vorsicht, Klischee! Grell leuchten beim Erscheinen des Mädchens aus dem Wald die Warnlampen auf: Die kurzen bunten Kleidchen, die hohen Hackenschuhe (mitten im Wald!), die tiefen Rückendécolletés, dieses geradezu devote Unterwerfungsgehabe, ihr kindliches Schmollen sind dick genug aufgetragen, um nicht mit einer realen Person verwechselt zu werden. Siri/Iris, wie Anja sie nennt, ist eine Kunstfigur, ein Produkt ihrer erotischen Phantasie, modelliert nach den Vorgaben männlicher Erotik. "Der Junge in ihr" ist es, der in Siri das unterwürfige, schutzbedürftige junge Ding sehen möchte, das geborene Opfer (von "Lebensborn" bis Vergewaltigung). Und so findet auch Anja für die merkwürdige Anziehungskraft des Mädchens keine Beschreibungsmuster jenseits der Zweigeschlechtlichkeit. Während sie, eine arbeitslose Theaterbeleuchterin aus Halberstadt, auf ihre ostdeutsche Biografie zurückblicken kann, ist "der Junge" in ihr "noch ganz ohne Vergangenheit". So stolpert Anja unsicher im schwedischen Unterholz durch die Identitätslabyrinthe lesbischer Liebe auf der Suche nach dem Anderen in ihr - irgendwo zwischen ihren pubertierenden Brüdern und den Strichjungen am Bahnhof Zoo.

Das alte Spiel

Die lesbische Poesie des weiblichen Körpers hat kaum literarische Vorbilder und Traditionen, sieht man einmal ab von dem erlesenen Kreis um Vita Sackville-West und Virginia Woolf und deren Briefwechsel vor fast hundert Jahren. Ihre Sprache ist noch nicht erfunden oder mittlerweile wieder vergessen. Wenn Anja schliesslich mit ihrer Waldfee schläft, spielt sie nur das alte Spiel von Mann und Frau nach. Sex entsteht vor allem im Kopf. Sprachhandlung und Sex laufen synchron ab. "Ich sagte, er umarme sie. Er streiche ihr das Haar aus dem Gesicht und ziehe sie an sich. Ich sagte, es überrasche ihn, wie nachgiebig sie sei. Es errege ihn" usw. Wenn Sie das für Kitsch halten, liebe Leser, liegen Sie vollkommen richtig. Es ist auch so gemeint. Antje Rávic Strubel ist, nach vier Büchern, eine viel zu kluge und gereifte Erzählerin, um nicht zu wissen, dass es keine wahre Sprache im falschen Körper gibt. Besser, man verlässt rechtzeitig die Kuschelzone der Gender-Spielchen und sucht sich seinen Blickpunkt in den "kälteren Schichten" der Vernunftregion. Von da oben ist dieser hochkomplexe Roman ein reines Lesevergnügen.
Antje Rávic Strubel: Kältere Schichten der Luft. Roman. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2007. 192 S., Fr. 31.70.
Beatrix Langner


 

977123, NZZ, 17.03.07, Words: 756, NO: EZI8H


DIE ZEIT Nr.10 vom 2007-03-01, Seite 53

Literatur

Döbler, Katharina

Der Sturz des Nachmittags in die Nacht

Ein Krimi, gesellschaftskritisch, mit großen Gefühlen Antje Ravic Strubel ist der zeitgenössische Roman gelungen

Nach ihrem letzten, dem »Tatsachen«-Roman Tupolew 134 ist Antje Ravic Strubel zurückgekehrt zur reinen Fiktion. Aber was heißt zurückgekehrt? Ihre Geschichte einer historischen Flugzeugentführung war auch nur Anlass, um das zu gestalten, was sie, die so sehr zeitgenössische Erzählerin mit dem Gespür für aktuelle Neurosen, am besten kann: Figuren zu schaffen, die gleichzeitig rätselhaft und erschreckend begreiflich sind, Leute, die sich selbst lieber nicht so genau kennen wollen. Zeitgenossen eben. Diese Kunst hat sie im Lauf ihrer bereits ansehnlichen literarischen Produktion nach und nach verfeinert fast möchte man sagen: perfektioniert. Aber in dem heiklen Grenzgebiet zwischen der Entschlüsselung eines Charakters und der demütigen Anerkenntnis seiner Unfassbarkeit gibt es so etwas wie Perfektion nicht. Darf es sie nicht geben.

Der neue Roman nun ist ein Liebesroman, ein Gesellschaftsroman, ein Kriminalroman. Er ist romantisch, mit einem vorangestellten Motto von Lord Byron, und er ist zeitkritisch, mit einem weiteren Motto von D.

H. Lawrence. Er hat vieles, was sich heutzutage literarisch gut verkauft. Und spielt noch dazu in Schweden. Und doch ist alles ganz anders.

Denn die Liebe ist keine dieser Kleider-vom-Leib-reißenden-Leidenschaften, sondern ein verwirrendes und verführerisches Gespinst romanhafter Fiktionen, von denen nicht einmal die beiden Liebenden wissen, wie viel davon sie glauben - das Abbild der Gesellschaft ist ein sehr schonungs- und illusionsloses Gruppenporträt von Losern und Entwurzelten aus dem deutschen Osten, Bürgern eines nichtexistenten Landes, die sich immer in einer Art Ausland befinden, kurz: sehr unspektakulären Leuten, die man inzwischen als »Prekariat« zu bezeichnen pflegt - der Kriminalfall interessiert kein Schwein und wird auf einer halben Seite gelöst und entsorgt (was ja in gewisser Weise auch wieder zeit- oder gesellschaftskritisch ist) - und Schweden ist hauptsächlich ein spezielles Licht und jede Menge Natur.

»Es dunkelte dezent an den Rändern. Aber das täuschte niemanden über die bevorstehende, rapide Veränderung in den nächsten Wochen hinweg, über diesen Sturz der Nachmittage in die Nacht.«

Diese kurze Passage über den zu Ende gehenden nördlichen Sommer steht wie ein Wegweiser ziemlich am Anfang des Romans und ist typisch für Strubels Technik eindrücklicher Andeutungen.

»Sie lebten wurzellos«, heißt es gleich zweimal in diesen einleitenden Seiten, in denen der Ort des Geschehens, ein Seeufer an der norwegischen Grenze, vorgestellt wird wie ein Bühnenbild, wenn der Vorhang aufgeht. Und obwohl die Autorin es nicht benennt, sondern nur assoziativ zu verstehen gibt, herrscht auf dieser Naturbühne eine Atmosphäre moralischer Beliebigkeit, eine Ahnung von Gewalt. Dabei leben sie so idyllisch in ihren Tipis am Wasser: die verkrachte Akademikerin, der Frührentner, der ehemalige DDR-Grenzsoldat, die amerikanisierte Ex-Schamanin, der arbeitslose Maurer und die Icherzählerin. Außer ihrer praktischen und geschlechtslosen Freizeitkleidung tragen sie nur Vornamen und sind Angestellte eines Unternehmens, das mit großem Erfolg »Wildniserfahrung mit null Komfort« verkauft. Der Unternehmer (»Uwe«) ist ein ehemaliger DDR-Offizier. Aber um Realsatire ist es Strubel nicht einmal zu tun, sondern um den Bewusstseinszustand derer, die in diesen satirenahen Verhältnissen zu leben haben.

»Retrokacke« heißt im Insidersprech abends am Lagerfeuer das, was ihr früheres Leben ausgemacht hat. Und natürlich trägt jeder eine Menge davon mit sich herum, vor allem der undurchsichtige Ralf, der die Nähe der Icherzählerin sucht und nicht findet. Diese, eine dreißigjährige Anja, findet das Leben im Camp wohltuend: »Ich war raus aus Halberstadt, raus aus dem niederdrückenden Kneipen-Horizont, der aufgehellten Gotik und den paar grell übermalten Neubaublocks, raus aus den Doppelhaushälften und einer Antragsbürokratie, in der immer jemand fragte, was ich machte und wer ich war, raus aus dem ganzen Abriss. Und wer war ich denn schon.«

Sie ist arbeitslos, Single, lesbisch und ohne jede Perspektive oder vielleicht auch ohne Antrieb, etwas an ihrem Leben zu ändern. Strubels Figuren gewähren ihren Lesern ja keine Akteneinsicht, sondern nur fragmentarische Einblicke. Und so bekommt man auch nur fragmentarisch mit, was zwischen Anja und der fremden Frau vor sich geht, die sich allzu mädchenhaft gibt, die ihren Namen nicht sagen will und Anja beharrlich beim Namen eines Mannes nennt. Klar ist von Anfang an das Begehren, aber es scheint unter falschen, oder eher, fiktiven Voraussetzungen entstanden zu sein. Denn die Fremde liebt einen anderen, den sie in Anja zu finden vorgibt. Und Anja wird ein anderer: Sie wird ein heranwachsender Junge, linkisch, begierig, vorsichtig, großmäulig und verletzlich. Und sehr manipulierbar.

Antje Strubel fasst sehr überzeugend in Worte, in Bilder, in Szenen, was man eigentlich kennt und weiß: dass die Liebe eine Projektion von Wünschen ist. Sie erweckt diese Projektion zum Leben, macht eine lebendige Figur aus ihr, die in der anderen, der eigentlichen Romanfigur steckt. Dabei geht es ihr weniger darum, das Ausmaß der Gefühle zu bestimmen, als vielmehr das Ausmaß der Veränderung: in Anja und schließlich im ganzen Camp, diesem Mikrokosmos einer wurzellosen Gesellschaft. Ihr erzählerisches Mittel ist ein raffinierter Pas de deux von handfesten Handlungsabläufen (»Wir saßen auf der Bierbank im Küchenzelt«) und atmosphärischen Feinheiten. Nach und nach verschieben sich die Gewichte, verdunkelt sich das Licht auf der Bühne dieses schwedischen Seeufers, verliert die Protagonistin den Boden unter den Füßen und kippt das prekäre Zusammenleben im Camp vollends in eine kleine Hölle. Man denkt natürlich an William Goldings Herrn der Fliegen und tatsächlich gibt uns der Roman, zufällig oder absichtlich, eine zeitgemäße, verfeinerte und erwachsenere Version davon.

Antje Strubel ist es gelungen, Romantik und Zeitkritik auf sehr verblüffende Weise zusammenzubringen. Epische Breitseiten gegen die Nachwendegesellschaft kommen in diesem Buch ebenso wenig vor wie das Schwelgen in großen Gefühlen. Seine Stärke bezieht es aus den Einzelheiten es ist in lauter Naheinstellungen erzählt, mit manchmal atemberaubendem sprachlichen Zugriff. Und so entfaltet es seine Wirkung langsam, aber nachhaltig: Es ist der gelungene Versuch, eine zeitgenössische condition humaine sichtbar zu machen: die literaturnotorische Frau von dreißig Jahren, eine Gesellschaft der Außenseiter und die verbleibenden Möglichkeiten des Lebens.

+ Antje Ravic Strubel: Kältere Schichten der Luft Roman - S. Fischer Verlag, Berlin 2007 - 192 S., 17,90 Euro

Foto: Jerzy Modrack/Bilderberg

Bildunterschrift:    Bühne: Ein See. An seinen Ufern entfaltet die Autorin eine kleine Hölle
Deskriptor(en): Literatur
Buchkritik
Person: Strubel, Antje Ravic
Personenfacette: Werk
Länderfacette: Literatur
Datum: 20070301

92840, ZEIT, 01.03.07, Words: 1021, NO: 0307010122


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