Zu diesem Buch Mit keinem anderen Werk könnte der Verlag den soo. rororo-Band würdiger feiern, als mit einem Werk seines bedeutendsten Autors deutscher Zunge, Robert Musils. Dieser besonders reizvolle, zuerst 1936 veröffentlichte Band meisterlicher Prosastücke enthält Bilder, Betrachtungen und Geschichten, die in einer Einzelausgabe zur Zeit nicht zugänglich sind, darunter die berühmte Erzählung 'Die Amsel». Die meisten dieser Stucke sind zwischen 1920 und 1929 entstanden, Nebenprodukte bei der Arbeit am »Mann ohne Eigenschaften», zu einem großen Teil für Zeitschriften und Zeitungen geschrieben und von Musil erst in diesem Band aufgenommen, als sie in seinen Augen ihre Zeitbeständigkeit erwiesen hatten. Mit der Veröffentlichung dieser oft satirischen Etüden, des Erstlings von 1906, 'Die Verwirrungen des Zöglings Törieß» (rororo Nr. 300), der Erzählungen und des großen Romanwerks sowie der weiteren Bände «Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden» 1955, und 'Prosa, Dramen, späte Briefe», 1957, ist der von Thomas Mann vorausgesagte Nachruhm des Dichters strahlend und unbezweifelbar aufgegangen. — Im Herbst i960 erschien im Rowohlt Verlag ein zum 80. Geburtstag Robert Musils von seiner Geburtsstadt herausgegebenes Gedächtnisbuch: 'Robert Musil, Leben, Werk, Wirkung». Den 1880 in Klagenfurt geborenen Dichter Robert Musil, der am ir. April 1942 in der Schweizer Emigration starb, nannte die Londoner 'Times» sieben Jahre nach seinem Tode 'den bedeutendsten deutschschrei-benden Romancier dieser Jahrhunderthälfte und zugleich unbekanntesten Schriftsteller dieses Zeitalters». Bis zur Wiederveröffentlichung seiner drei meisterlichen, erstmals 1924 erschienenen Erzählungen, die als Taschenbuch ('Drei Frauen», rororo Nr. 64) in die Hände vieler tausend Leser gelangten, war Robert Musil in der Tat nur einem engen literarisch interessierten Kreis als ein Joyce und Proust ebenbürtiger genialer Erzähler bekannt. Er war als Außenseiter zur Literatur gekommen. Nach dem Wunsch seiner Eltern sollte er Offizier werden. Aus eigenem Entschluß sattelte er um, ehe er militärisch avancierte. Schon mit 21 Jahren wurde er Ingenieur, spielte mit dem Gedanken einer entsprechenden wissenschaftlichen Karriere, änderte aber nochmals seinen Berufsplan und studierte Philosophie. Jahrzehntelang widmete sich Musil schließlich vor allem der Gigantenarbeit an seinem monumentalen Romanwerk 'Der Mann ohne Eigenschaften», mit dem er sich als der deutsche Stilist und Moralist des 20. Jahrhunderts auswies, der aber bis zu seinem Tode nur unvollendet in drei großen Teilen der Öffentlichkeit bekannt wurde. Erst 1952 konnte der Rowohlt Verlag das bedeutende Werk in einer von dem bekannten Essayisten Adolf Frisé eingeleiteten und redigierten Neuausgabe vorlegen, die die großartige sprachliche, gedankliche und erzählerisóe Architektur des riesigen Torsos authentisch aus dem Nachlaß erweiterte und vollendete. Literatur über Musil: O. E. Hesse in 'Die schöne Lít.», 192y, A. Frisé in 'Die Tat», April 193y, R. Lejeune: R. M., 1942; K. Riskamm: R. M.'s Leben und Werk, Diss. Wien 1948; A. Maier: Franz Kafka u. R. M. als Vertreter der ethischen Richtung des modernen Romans, Diss. Wien 1949; F. Th. Csokor: 'Was bedeutet uns R. M.f» in 'Freude an Büchern», 4, 1952. In der Reihe 'rowohlts monographiert» erschien als Band 8r />'*•* Darstellung des Dichters in ftf/feew«"»*«-— ROBERT MUSIL Nachlaß zu Lebzeiten -■ ■ - ROWOHLT -- auf und schloß es wieder. Wahrscheinlich vertrug sie den Luftzug nicht. Wir erfuhren ebensowenig den Grund, wie wir den Inhalt ihrer täglichen Lektion kannten oder den Gegenstand ihrer Handarbeit. Miss Frazer war ein altes englisches Fräulein; ihr Profil war ritterlich und scharf wie das eines Edelmannes, ihr Anblick von vorn dagegen rund und rot wie der eines Apfels, mit einer liebenswürdigen Beimischung von Mädchenhaftigkeit unter ihren weißen Haaren. Ob sie auch liebenswürdig gesinnt war, wußte niemand. Außer den unvermeidlichen Höflichkeiten wechselte sie mit uns kein Wort. Vielleicht verachtete sie unser Nichtstun, unsere Geschwätzigkeit und unsere Unmoral. Nicht einmal den Schweizer, der schon seit sedishundert Jahren Republikaner war, würdigte sie einer Vertraulichkeit. Sie wußte alles von uns, weil sie immer in der Mitte saß, und war der einzige Mensch, von dem wir nicht wußten, warum er da war. Alles in allem, mit ihrer Häkelarbeit, ihrer Lektion und dem Lächeln eines roten Apfels, wäre sie sogar imstande gewesen, nur zum Vergnügen da zu sein und unsere Gesellschaft zu teilen. n Unfreundliche Betrachtungen 7Vt - 1 í» Schwarze Magie i Da die russischen Kleinkunsttheaterchen sie uns vorgeführt haben, scheint es diese schwarzen Husaren, diese Toten-kopfhusaren, diese Arditi und Kopaljäger in allen Armeen der Erde zu geben. Sie haben einen Schwur getan, zu siegen oder zu sterben, und lassen sich eine schwarze Uniform machen, mit weißen Verschnürungen darauf, die wie die Rippen des Todes aussehen; in welcher Verkleidung sie zur Freude aller Frauen bis an ihr friedliches Ende Spazierengehen, falls kein Krieg kommt. Sie leben von gewissen Liedern mit düsterer Begleitung, die ihnen einen dunklen Glanz leihen, der sich vorzüglich zur Schlaf zimmerbeleuch-tung eignet. Als der Vorhang aufging, saßen sieben solcher Husaren auf der kleinen Bühne; es war ziemlich dunkel, und bei den Fenstern schien der helle Schnee herein. Sie waren mit ihren schwärzlichen Uniformen und ihren schmerzlich aufgestützten Köpfen hypnotisch in dem ungewissen Licht verteilt und begleiteten in einem kohlschwarzen, leuchtenden Pianissimo einen laut singenden Kameraden. «Hört die Pferde, unsre Erde, stampfen mit den Hufen», sangen sie bis zum unvermeidlichen «kehrt dein Glück, nicht zurück, wenn die Schwalben wandern —» 51 2 Eine rätselvolle Seele fragte sich: Wenn das ein gemaltes Bild wäre, so hätte man ein Schulbeispiel von Kitsch vor sich. Wenn das ein «lebendes Bild» wäre, so würde man die versunkene Sentimentalität eines einst beliebt gewesenen Gesellschaftsspiels vor sich haben, also etwas, das zur Hälfte Kitsch, zur andern Hälfte aber traurig wie ein eben ver-klungenes Glockenspiel ist. Doch da es nun ein singendes lebendes Bild ist, was ist es da? Es liegt wohl über diesen Spielereien der trefflichen russischen Emigranten ein Glanz wie von Zuckerfluß, aber man lächelt bloß nachsichtig, während man gewiß vor einem Ölbild gleicher Art raste: Sollte es möglich sein, daß der Kitsch, wenn ihm eine und dann zwei Dimensionen des Kitsches zuwadisen, erträglicher und immer weniger kitschig wird? Es ist nicht anzunehmen und nicht zu leugnen. Wie aber ist es dann, wenn dem Kitschigen noch eine Dimension mehr zuwächst und es volle Wirklichkeit wird? Sind wir nicht in Unterständen gesessen, für morgen lag etwas in der Luft, und ein Kamerad begann zu singen? Ach, es war schwermütig. Und es war Kitsch. Aber es war ein Kitsch, der nur noch als eine Traurigkeit mehr mit in der Traurigkeit lag, als eine uneingestandene Unlust an dieser aufgezwungenen Kameraderie. Im Grunde hätte man manches fühlen können in dieser jahrelangen letzten Stunde, und der Drudi der Todesvorstellung mußte nicht gerade ein Öldruck sein. 52 Ist also die Kunst nicht ein Mittel, um den Kitsch vom Leben abzublättern? Schichtenweise legt sie ihn bloß. Je abstrakter sie wird, desto durchsichtiger wird die Luft. Je weiter sie sich vom Leben entfernt, desto klarer wird sie? Welche Verkehrtheit ist es, zu behaupten, das Leben sei wichtiger als die Kunst! Das Leben ist gut, so weit es der Kunst standhält: was nicht kunstfähig am Leben ist, ist Kitsch! Aber was ist Kitsch? 3 Der Dichter X. wäre in einer noch etwas schlechteren Zeit ein beliebter Familienblatterzähler geworden. Er hätte dann vorausgesetzt, daß das Herz auf bestimmte Situationen immer mit den gleichen bestimmten Gefühlen antwortet. Der Edelmut wäre in der bekannten Weise edel, das verlassene Kind beweinenswert und die Sommerlandschaft herzstärkend gewesen. Es ist zu bemerken, daß sich damit zwischen den Gefühlen und den Worten eine feste, eindeutige, gleichbleibende Beziehung eingestellt hätte, wie sie das Wesen des Begriffs ausmacht. Der Kitsch, der sich so viel auf das Gefühl zugute tut, macht also aus Gefühlen Begriffe. Nun ist aber X. infolge der Zeitumstände statt guter Familienblatterzähler schlechter Expressionist geworden. Als solcher stellt er geistige Kurzschlüsse her. Er ruft Mensch, Gott, Geist, Güte, Chaos und spritzt aus solchen Vokabeln gebildete Sätze aus. Wenn er die volle Vorstellung oder wenigstens die volle Unvorstellbarkeit mit ihnen verbände, so könnte er das gar nicht tun. Aber die Worte sind lang vor ihm in Büchern und Zeitungen schon sinnvolle und 53 sinnlose Verbindungen eingegangen, er hat sie oft beisammen gesehen, und schon bei kleinster Ladung mit Bedeutung zuckt zwischen ihnen der Funke. Das ist aber nur die Folge davon, daß er nicht an erlebten Vorstellungen denken gelernt hat, sondern schon an den von ihnen abgezogenen Begriffen. Der Kitsch erweist sich in diesen beiden Fällen als etwas, was das Leben von den Begriffen abblättert. Schichtenwei-se legt er sie bloß. Je abstrakter er wird, desto kitschiger wird er. Der Geist ist gut, soweit er noch dem Leben standhält. Aber was ist Leben? 4 Leben ist leben: wer es nicht kennt, dem ist es nicht zu beschreiben. Es ist Freundschaft und Feindschaft, Begeisterung und Ernüchterung, Peristaltik und Ideologie. Das Denken hat neben anderen Zwecken den, geistige Ordnun-» gen darin zu schaffen. Auch zu zerstören. Aus vielen Erscheinungen des Lebens macht der Begriff eine, und ebensooft macht eine Erscheinung des Lebens aus einem Begriff viele neue. Bekanntlich wollen unsere Dichter nicht mehr denken, seit sie von der Philosophie gehört zu haben glauben, daß man Gedanken nicht denken darf, sondern sie leben muß. Das Leben ist an allem schuld. Aber um Gottes willen: was ist leben? 54 5 Es ergeben sich zwei Syllogismen: Die Kunst blättert den Kitsch vom Leben. Der Kitsch blättert das Leben von den Begriffen. Und: Je abstrakter die Kunst wird, desto mehr wird sie Kunst. Je abstrakter der Kitsch wird, desto mehr wird er Kitsch. Das sind zwei herrliche Syllogismen. Wer sie auflösen könnte! Nach dem zweiten scheint es, daß Kitsch = Kunst ist. Nach dem ersten aber ist Kitsch = Begriff — Leben. Kunst = Leben—Kitsch = Leben—Begriff -f Leben = zweiLeben — Begriff. Nun ist aber, nach II, Leben = 3 X Kitsch und daher Kunst = 6 X Kitsch — Begriff. Also was ist Kunst? 6 "Wie gut hat es ein schwarzer Husar. Die schwarzen Husaren haben geschworen, zu siegen oder zu sterben, und gehen in dieser Uniform einstweilen zur Freude aller Frauen spazieren. Das ist keine Kunst. Das ist das Leben! Warum behauptet man aber dann, es sei nur ein lebendes Bild? Türen und Tore Türen gehören der Vergangenheit an, wenngleich bei Bauwettbewerben Hintertüren noch vorkommen sollen. Eine Tür besteht aus einem rechteckigen, in die Mauer S5