Teil I: Diachronie des Sorbischen/Wendischen 1.Der Fall Sorbisch in Deutschland 1.1.1 Überblick und geographische Lage [LINK] Die Sorben (obersorb. Serbja, niedersorb. Serby, deutsch auch Wenden) sind ein westslavisches Volk im Osten Deutschlands und genießen den Status einer nationalen Minderheit. Sie bewohnen die Niederlausitz (im Bundesland Brandenburg) mit dem kulturellen Zentrum Cottbus (Chóśebuz) sowie die Oberlausitz (im Bundesland Sachsen) mit dem Kulturzentrum Bautzen (Budyšin). Das Niedersorbische (auch Wendische) und das Obersorbische genießen den Status einer offiziell anerkannten Standardsprache (Schriftsprache). Als kleinstes westslavisches Volk (aktive Sprecher zwischen ca. 10.500-12.000 Niedersorben/Wenden und 40.000 bis 50.000 Obersorben) ist die Kultur und insbesondere Sprache der Sorben vor dem Aussterben bedroht. Das Kerngebiet der heutigen sorbischen Besiedlung der Oberlausitz ist deckungsgleich mit dem Stammesgebiet der ebenfalls durch einen bayerischen Geographen erwähnten Milzener. Dieses wird durch über 60 Burganlagen gekennzeichnet, die zwischen Queis und Pulsnitz verbreitet sind. Das Siedlungsgebiet der Niederlausitzer Sorben entspricht jenem des für die Landschaft namengebenden slavische n Stammes der Lusizi (oder Lusitzer) und wird ebenfalls durch zahlreiche Burganlagen gekennzeichnet. Archäologische Ausgrabungen der jüngeren Vergangenheit sowie zahlreiche archäologische Fundstücke weisen darauf hin, dass die Mehrzahl der Burgen in der Ober- und Niederlausitz erst im ausgehenden 9. und frühen 10. Jahrhundert errichtet wurden. Dies bezeugen dendrochronologisch untersuchte Holzfunde aus den Burgen sowie aus Brunnenanlagen. Archäologische Hinweise für eine ältere Besiedlung fehlen vollständig. 1.1.2 Kurzer Abriss sorbischer Geschichte bis 1949 1.1.2.1 Die Vor- und Frühgeschichte Als Sorben (surbi, sorabi[1]) wurden im Früh- und Hochmittelalter zunächst alle westslavischen Stämme zwischen Saale und Mulde bezeichnet, die im 8. Und 9. Jahrhundert im Zuge der Völkerwanderung und politischer Verschiebungen in die Nachbarschaft der Elbslaven und der Franken gerieten. Der Begriff "Wenden" geht auf die römischen Geschichtsschreiber Plinius den Älteren und Tacitus sowie den griechischen Geographen Ptolemaios zurück, die alle slavischen Stämme, die im ersten Jahrhundert n. Chr. zwischen den Karpaten und der Ostseeküste auftauchten, als Venedi bezeichneten. Während die Sorben (Wenden) in der Oberlausitz in der Mehrheit diesem Begriff heute einen pejorativen (abwertenden) Charakter beimessen und ihn deshalb zur Selbstbezeichnung nicht gebrauchen, verwenden die Niedersorben zu ihrer deutschsprachigen Selbstbezeichnung die Begriffe "Sorben" und "Wenden" nebeneinander. Dabei muss betont werden, dass in der sorbischen (wendischen) Eigenbezeichnung diese Unterschiede keine Rolle spielen, da sie hier nur Serb (Substantiv maskulin) bzw. Serbowka (Substantiv feminin) und serbski (Adjektiv maskulin) lautet. Die Ergebnisse der archäologischen Forschung und der Sprachwissenschaft zeigen, dass sich die Elbslaven zwischen Saale und Neiße kulturell sehr nahe gestanden haben; das Gleiche gilt auch für die Beziehungen nach Schlesien und Böhmen. Nach Süden bildeten vor allem die Täler von Elbe und Neiße eine kulturelle Brücke. In der sogenannten Fredegar-Chronik werden für 631/32 erstmals Wenden erwähnt, die „zu wiederholten Malen in Thüringen und anderen Gauen (pagi) des Frankenreiches einfielen, um sie auszuplündern; ja sogar Dervanus, der Dux des Volkes der Sorben (Dervanus dux gente Surbiorum), die von slavischer Herkunft waren und schon von jeher zum Reiche der Franken gehört hatten, unterstellte sich mit seinem Volk dem mährischen Reich Samos. Nach weiteren Überfällen wurde der Dux Radulf, der Sohn Chamars, durch Dagobert als Dux in Thüringen eingesetzt, um die Wenden zu bekämpfen, doch verbündete sich Radulf bald darauf mit den Slaven.“ Während es in Böhmen und Mähren seit dem späten 7. Jahrhundert zu ersten Reichsbildungen und seit dem 9. Jahrhundert zur Entstehung stabilerer frühfeudaler Staatsgebilde kam, gab es bei den Slaven zwischen Saale und Neiße bis zur Eroberung durch die Deutschen keine überregionalen politischen Strukturen. Die Slaven lebten vornehmlich als Bauern in kleinen Stammesverbänden, die jeweils nur einige Dutzend recht kleiner dörflicher Siedlungen umfassten. Die Gesellschaft der WestSlaven war aber schon deutlich in die Masse abhängiger Bauern und eine schmale adlige Herrschaftsschicht gegliedert. Aus der letzteren rekrutierten sich auch die Stammes- oder Gaufürsten, die in den fränkischen Quellen meist dux (= Herzog, Fürst) genannt werden. 1.1.2.2 Die Sorben im Hochmittelalter Nachdem Heinrich I. 926 einen zehnjährigen Waffenstillstand mit den Ungarn geschlossen hatte, nahm er die Ausdehnung seiner Macht an der Ostgrenze des Reiches in Angriff. 927 bis 929 führte er einen groß angelegten erfolgreichen Feldzug zur Unterwerfung der slavische n Stämme östlich der Elbe. Seinen Vormarsch sicherte der König durch die Anlage zahlreicher Burgen. Die wichtigste dieser Gründungen war 928/929 Meißen. Zum Reich gehörte nun das gesamte sorbische Siedlungsgebiet inklusive der von den Lusici und Milzenern bewohnten Länder, der späteren Nieder- bzw. Oberlausitz. Seit dieser Zeit leben die Sorben in engem Kontakt und in Gemeinschaft mit ihren deutschen Nachbarn. Davon wurde die sorbische Geschichte entscheidend geprägt. Zu Beginn der frühen Neuzeit wurde der Volksname Sorben allmählich auf die siedelnden Lusici (= Niedersorben/Wenden) und Milzener (Obersorben) übertragen, die in den früh- und hochmittelalterlichen Quellen noch deutlich von den Sorben geschieden wurden. Wichtiger blieb bis ins 19. Jahrhundert hinein aber die deutsche Bezeichnung Wenden, die von Anfang an ein Oberbegriff für die östlich der alten Reichsgrenze lebenden slavische n Völker gewesen war. In der Sprachwissenschaft werden heute die Sprachen der südlichen ElbSlaven bzw. deren überlieferte Reste insgesamt als sorbisch bezeichnet. Gero, der von Kaiser Otto I. 937 eingesetzte Markgraf der Sächsischen Ostmark (sie umfasste das gesamte Gebiet zwischen Elbe, Havel und Saale) führte die gewaltsame Unterwerfung der Sorben fort. 939 lud er 30 slavische Fürsten zu einem Gastmahl ein und ließ sie ermorden. Die Bluttat, die in dem epischen Werk des Niedersorben Mato Kosyk beschrieben wird (vgl. Kosta/Norberg 2003) hatte einen Aufstand der Slaven zur Folge. In mehreren Kriegszügen besiegte Graf Gero bis 965 die Milzener, Lusici und Liutizen und dehnte die deutsche Herrschaft bis an die Oder aus. Während die Slaven im heutigen Brandenburg ihre Selbstständigkeit durch einen großen Aufstand 983 noch einmal für längere Zeit zurückgewinnen konnten, war die Unterwerfung der Sorben endgültig. Die Herrschaft über die Lausitz und den Gau Milska wurde den Deutschen nur noch einmal (1002) durch den Polenherzog Bolesław Chrobry für einige Jahre erfolgreich streitig gemacht. Aber auch Bolesław behandelte die Sorben als unterworfenes Volk. Im 10. Jahrhundert begann die christliche Kirche bei den Slaven im Elbe-Saale-Gebiet und in der Lausitz mit der Missionierung. Die Befestigung der deutschen Herrschaft und die Schaffung kirchlicher Strukturen gingen dabei Hand in Hand. Kaiser Otto II. gründete 968 das Erzbistum Magdeburg mit den Suffragen Zeitz, Merseburg und Bistum Meißen. Sorben, Milzener und Lusici mussten dem Bischof von Meißen den Zehnt entrichten. Parallel erfolgte unter den Markgrafen der sorbisch besiedelten Gebiete – die große Mark Geros war nach seinem Tod in mehrere kleinere Territorien untergliedert worden (Nordmark, Mark Lausitz, Mark Meißen, Mark Zeitz und Mark Merseburg) – die Einrichtung von Burgwarden. Die unterworfenen Gebiete wurden an deutsche Adelige zu Lehen gegeben, die neuen Herren errichteten Burgen und erhielten Abgaben von den zugehörigen slavische n Dörfern. Die einzelnen Herrschaftsbezirke wurden Burgward genannt. Zum Teil trat der deutsche Adel dabei nur die Nachfolge der sorbischen Stammesfürsten an. Die ehemalige slavische Führungsschicht war durch die vorangegangenen Kriege dezimiert, ihre Reste wurden in untergeordnete Stellungen abgedrängt. Noch lange gab es slavische župane. Diese Richter entschieden nach dem alten sorbischen Gewohnheitsrecht über die unterworfene Bevölkerung. Wie auch die in der Oberlausitz noch im 16. Jahrhundert vorhandenen Lehnbauern, so waren die Župane möglicherweise Nachfahren des sorbischen Adels. Anders als etwa in Mecklenburg kam es in der Mark Meißen oder in den Lausitzen kaum vor, dass Slaven in den Ritterstand aufstiegen. Für die Masse der sorbischen bäuerlichen Bevölkerung änderten sich die Lebensumstände zunächst wenig. Wie schon vor der deutschen Eroberung waren sie Leibeigene, hatten kein Besitzrecht an den bewirtschafteten Äckern und mussten hohe Abgaben an den Lehnsherren leisten – mindestens ein Drittel ihrer Erträge. Dazu kam nun aber noch der Zehnte für die Kirche. Umstritten ist in der Forschung, ob weitere Leistungen (Spanndienste, Wachdienst oder Wachkorn für den Burgherren u. a.) erst unter der deutschen Herrschaft eingeführt wurden oder schon davor existiert hatten. Die deutschen Lehnsherren ließen ihre Untertanen weiter unter dem slavische n Gewohnheitsrecht leben, denn dadurch war deren Rechtsstellung bedeutend schlechter als die der deutschen Bauern, die unter sächsischem Recht standen. [LINK] Deutsche Besiedlung slavische n Gebietes ca. 1200–1300, im Zentrum die Lausitz 1.1.2.3 Vom 12. bis zum 15. Jahrhundert Nach den zahlreichen Kriegen des 10. und am Beginn des 11. Jahrhunderts verlief die Integration des sorbischen Siedlungsgebiets in das Reich in der folgenden Zeit auf friedliche Weise. Der König, die Markgrafen und nicht zuletzt die kirchlichen Institutionen förderten den so genannten Landesausbau. Westlich der Elbe (zum Beispiel im Pleißner- und im Osterland) begann die Kolonisation durch deutsche Bauern aus verschiedenen Teilen des Reiches um 1100. Die sorbischen Einwohner wurden nicht vertrieben, vielmehr entstanden die neuen deutschen Dörfer fast immer auf gerodeten Flächen. An strategisch günstigen Stellen (z. B. Flussübergängen), die bereits besiedelt waren, erweiterte man die bereits bestehenden slavische n Siedlungen. Dies geschah unter anderem in Meißen, Leipzig oder Grimma. An solchen Orten überflügelten die neuen deutschen Kaufmannssiedlungen und späteren Städte bald das alte slavische Dorf. Solche Orte wurden schnell zum Ausgangspunkt für die Assimilierung der Slaven. Von Bedeutung war dabei auch die rechtliche Situation. Da, wie bereits geschildert, das sächsische Recht für die Bauern günstiger war als das alte slavische , strebten viele sorbische Bauern danach, nach dem Recht der Einwanderer behandelt zu werden. Für das deutsche Bürgerrecht in den Städten gab es keine slavische Entsprechung, so dass, wer Bürger sein wollte, früher oder später auch die deutsche Sprache annehmen musste. Westlich der Elbe war die Verdrängung der sorbischen Sprache im 14. Jahrhundert weitgehend abgeschlossen. So wurde 1327 in Leipzig und 1377 in Altenburg, Zwickau und Chemnitz, 1425 im Fürstentum Anhalt der Gebrauch der sorbischen Sprache vor Gericht verboten. (Diese Maßnahmen beweisen allerdings auch, dass es zu dieser Zeit noch Sorben gab, sonst hätten diese Verbote keinen Sinn gehabt.) In den Lausitzen waren die Rodungen in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts vor allem von sorbischen Bauern getragen worden. In dieser Zeit entstanden z. B. viele neue Orte im Gebiet um Hoyerswerda. Die Erweiterung des Kulturlands vergrößerte und stabilisierte in dieser Gegend das sorbische Sprachgebiet, das sich zu Zeiten Martin Luthers noch bis vor die Tore Wittenbergs erstreckte. Unter den böhmischen Königen intensivierte sich Mitte des 12. Jahrhunderts der Landesausbau in der Oberlausitz, der von den Königen und den Meißener Bischöfen quasi im Wettbewerb betrieben wurde. Deutsche Bauern wurden vermehrt ins Land geholt; diese rodeten große Waldgebiete im Süden und Osten des Landes und legten zahlreiche neue Dörfer an. Weil durch Rodung die Herrschaftsgebiete der Adligen erst einen Wert bekamen, erhielten die Kolonisten ihre Bauerngüter als Erbe, während die Bauern in alten sorbischen Orten oft Leibeigene blieben. Die eingewanderten Deutschen mussten nur geringe Zinsen an die Grundherren zahlen und wenige Dienste für sie verrichten. Auch hatten sie mehr Boden zur Verfügung als die Bauern im sorbischen Altsiedelgebiet. Die neuen (meist deutschen) Dorfgemeinden konnten ihre Angelegenheiten außerdem relativ autonom regeln. Insofern sorbische Bauern beim Landesausbau beteiligt waren, genossen sie aber dieselben Rechte wie die deutschen Kolonisten. Abgesehen von den Städten, die sich, wie bereits geschildert, vor allem aus rechtlichen Gründen schon frühzeitig zu deutschsprachigen Inseln entwickelten, blieben die Lausitzen aber bis zum Dreißigjährigen Krieg in weiten Teilen slavischsprachige Gebiete. In manchen Gegenden, etwa um das Zisterzienserinnenkloster St. Marienstern herum und bei Hoyerswerda, war das sorbische Element so stark, dass einige deutschsprachige Ortsgründungen slawisiert wurden, so z. B. Dörgenhausen (sorb. Němcy). Viele Städte der beiden Lausitzen sahen sich mit einer starken sorbischen Einwanderung konfrontiert. Dies zeigen sowohl die Deutschtumsverordnungen aus Calau, Cottbus (1405), Lübben (1452) und Luckau (1384), wo Sorben vorübergehend – vor allem aus Konkurrenzgründen – der Zugang zu den Zünften verwehrt wurde, aber auch die Eintragung eines sorbischen Bürgereids in die Bautzener Stadtbücher. Im 16. Jahrhundert wurden viele dieser Beschränkungen seitens der Zünfte und auf Entscheid des Markgrafen wieder aufgehoben. Nordöstlich von Guben und Sorau hatte das sorbischsprachige Gebiet um 1600 noch direkte Verbindung zum polnischen Sprachgebiet. Erst die Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges und die damit verbundenen Verluste der sorbischen Bevölkerung sowie eine von der evangelischen Kirche gestützte gezielte Germanisierungspolitik führten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dazu, dass das sorbische Gebiet zu einer rings von deutschsprachigen Regionen umgebenen Insel wurde.^[4] ________________________________ [1] Zur Etymologie des Ethnonyms vgl. Schuster/Šewc (1985).