Im Schatten der Prager deutschen Literatur Die deutschsprachige Literatur aus Mähren steht im Schatten der Prager deutschen Literatur. Wenn man sie auf Autoren jüdischer Herkunft beschränkt, dann um so mehr. Es ist zum Teil auch auf die Prager bzw. böhmische Perspektive der Historiker der deutschsprachigen Literatur aus Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien zurückzuführen, daß bei Mühlberger, Eisner oder Serke die mährischen Autoren seltener genannt werden. Deshalb muß man die Pionierarbeit von Jiří Veselý[1] und Ludvík Václavek,[2] das laufende Lexikonprojekt der Olmützer Arbeitsstelle für deutschsprachige Literatur aus Mähren und - last but not least – diese Ausstellung des Adalbert Stifter Vereins hervorheben, weil sie alle versuchen, die zum großen Teil vergessene Literatur aus dem Schatten der Prager Autoren hervorzuholen. Im erwähnten tschechischen Autorenlexikon aus dem Jahre 1987 findet man z. B. 19 von den 38 in diesen Ausstellungskatalog aufgenommenen Autoren, bei Mühlberger[3] dreizehn, in Walther Killys Literaturlexikon siebzehn. Andererseits muß man allerdings zugeben, daß im Vergleich zu Prag die mährische Literaturszene weniger ausgeprägt und Brünn als Landeshauptstadt kein wirkliches literarisches Zentrum war, das z. B. auf Olmütz oder Iglau seine Anziehungskraft ausgeübt hätte, weil das Literatur- und Theaterleben der deutschsprachigen Mährer viel deutlicher als in Böhmen auf Wien orientiert waren. Erst im März 1919 entstand Die deutsche Gesellschaft für Wissenschaft und Kunst, die jüdische und nicht jüdische, links und rechts orientierte Mäzene, Künstler, Schriftsteller und Publizisten, Musiker und Wissenschaftler aus ganz Mähren vereinigte, aber die Abwanderung der Schlüsselpersönlichkeiten nach Deutschland und Österreich sie nicht verhindern konnte. Nach der Machtergreifung im Jahre 1933 kamen zwar Autoren wie Felix Langer oder Max Zweig nach Mähren zurück, mußten aber bald in ein neues Exil gehen. Andere – wie Adolf Donath oder Hugo Sonnenschein – zwangen die Umstände zwar zur Rückkehr in die Tschechoslowakei, sie blieben aber in Prag. Die Ausgliederung der Autoren jüdischer Abstammung aus der deutschsprachigen Literatur in Mähren ist nur insoweit gerechtfertigt, weil ihre Schriftstellerkarriere mit dem Antisemitismus gewisser Kreise schon vor dem Ersten Weltkrieg konfrontiert wurde und weil ihre spätere Rezeption durch das Totschweigen in der NS-Zeit noch zusätzlich behindert wurde. Sonst waren sie meistens assimiliert, wollten als deutschsprachige, nicht als jüdische Autoren betrachtet werden bzw. interessierten sich für jüdische Stoffe erst dann, nachdem ihnen ihr literarischer Durchbruch mit anderen Themen gelungen war, wie z. B. Oskar Jellinek. Nur Eduard Kulke (1831-1897) und Max Grünfeld (1856 -1933), zwei Autoren der Ghettogeschichten, hoben sich bewußt von ihren religiös indifferenten oder konvertierten Zeitgenossen ab und hielten in ihren Erzählungen die Welt der mährischen jüdischen Gemeinden fest, die durch den gesellschaftlichen Wandel nach Erlassung liberaler Gesetze von 1848 bzw. 1861 allmählich verschwunden war. Ein anderer Autor, der programmatisch Stoffe aus jüdischer Geschichte wählte, war Max Zweig (1892 – 1992). Seine Dramen vom fiktiven Propheten Elimech (Elimech und seine Jünger,1929) und über die Verfolgung der getauften Juden im Spanien des 15. Jahrhunderts (Die Marranen, 1937) fanden in der Entstehungszeit allerdings kaum Beachtung und wurden erst in den letzten Jahren aufgelegt. Die Judenverfolgung in Deutschland brachte den in Iglau geborenen und in Karlsbad lebenden Advokaten Ernst Sommer zur Verfassung von historischen Romanen, die entweder gleichnishaft (am Beispiel der Templerverfolgung am Anfang des 14. Jahrhunderts) oder direkter am Beispiel Spaniens nach 1492 aktuelle Ereignisse reflektieren. Hermann Ungar, der schon 1929 starb, gelangte zu einem wieder ewachten Interesse für jüdische Problematik nicht mehr. Er hatte sich von seinen sionistischen Anfängen in der Studienzeit getrennt und erwähnte die jüdische Identität seiner Helden kaum; sie kann höchstens bei einer biographisch orientierten Lesart in seine Werke hineinprojiziert werden. Trotz der Einwände gegen die Überschätzung der Eigenständigkeit einer deutschsprachigen jüdischen Literatur aus Mähren und gegen eine Unterscheidung zwischen einer jüdischen und nicht jüdischen deutschsprachigen Literatur ist es zu hoffen, daß einige Autoren aus Mähren von den Lesern neu entdeckt werden, wie man seinerzeit manche vergessenen Schriftsteller aus Prag neu aufgelegt hat, denen es vor 30 oder 40 Jahren kaum jemand prophezeit hätte. Jüdische Autoren Kafka, Brod oder Oskar Wiener haben das Bild Prager deutschsprachiger Literatur wesentlich mitgeprägt. So stark, daß man Autoren, die über Prag schrieben, automatisch auch für Juden hielt. Ihre nichtjüdischen Zeitgenossen Meyrink (†1932) und Leppin (†1945) wurden sogar von den Antisemiten bzw. der Gestapo irrtümlich als Juden angegriffen bzw. verfolgt. Im Unterschied zu der jüdisch dominierten Prager Literatur, versuchten die meisten mährischen jüdischen Autoren nicht, das Fremde in ihrer Literatur zu fokussieren und zu dämonisieren, um ihr Mähren exotischer erscheinen zu lassen. Unter den deutschsprachigen Mährern jüdischer Abstammung waren es ja vielleicht nur Philipp Langmann und Jakob Julius David, deren Werk wirklich eng mit ihrem Herkunftsland verbunden bleibt. Beide wurden ziemlich stiefmütterlich von den späteren Lesergenerationen behandelt. Ihr Bild Mährens wirkt wohl allzu nüchtern, weist keine mythenbildende Kraft auf, um dadurch das Interesse auf eine untergegangene literarische Landschaft zu lenken. Hängt die seltene Thematisierung der mährischen Verhältnisse bei Hans Müller, Ernst Lothar u. a. m. nur damit zusammen, daß die meisten von ihnen nur kürzere Lebensabschnitte in Mähren verbrachten, erst in Wien, Berlin oder in Prag berühmt geworden sind und nicht als „Provinzler“ wahrgenommen werden wollten? Leo Slezak prägte zwar später den berühmten Satz: Ich bin ein echter Wiener. Alle echten Wiener sind aus Brünn.[4], aber eine solche selbstironische Darstellung setzte schon ein hohes Selbstbewußtsein voraus, das den aus Brünn stammenden Autoren häufig fehlte. Die Generation der zwischen 1880 und 1895 geborenen Autoren betrachtete es als Voraussetzung für ihren Aufstieg, die von nationalen Kämpfen geplagten Städte Mährens zu verlassen. Sowohl physisch als auch literarisch. Ihr ganzes Leben lang verbrachten in Mähren vor allem Autoren regionaler Bedeutung. Die Nähe Wiens, das wenig attraktive Angebot an Hochschulen in Mähren[5] und die Kurzlebigkeit interessanter Zeitschriftenprojekte in Brünn [6]sind Ursachen dafür, daß das literarische Leben in Mähren nur vorübergehend intensiver wird, vor allem in der Zeit zwischen 1889 und 1918. Wichtige gebürtige Mährer jüdischer Abstammung verlassen also entweder im Kindesalter – Lorm (*1821), Ernst Lothar(*1890) - , oder spätestens nach dem Abitur das Land. Das gilt für Sonnenfels (*1733), David (*1859) sowie für die Vetreter der starken Generation, deren Geburtsjahr zwischen 1880 und 1895 liegt und deren Werk erst nach 1918 kulminiert: Hans Müller (*1882), Oskar Jellinek (*1886), Ernst Sommer (*1888), Felix Langer (*1889) und Max Zweig (* 1892) studieren Jura in Wien, Ernst Weiß (*1882) Medizin daselbst, Hermann Ungar (*1893) Jura in München und Prag, Ludwig Winder (1889) beginnt nach der Handelsakademie seine journalistische Laufbahn ebenfalls in Wien, Hugo Sonnenschein (*1889) beginnt nach dem Abitur in Brünn Literaturwissenschaft in Wien zu studieren. Sie sind nur dann der mährischen Literatur zuzuzählen, wenn sie im mährischen Literaturleben präsent bleiben und hier als bedeutende Landsleute wahrgenommen werden bzw. wenn ihr Werk thematisch mit Mähren zusammenhängt. Eine mechanische Zuordnung zur mährischen Literatur nach Geburtsort, wie sie im Fall von Leo Greiner oder Flesch-Brunningen z. B. bei Mühlberger vorliegt, scheint mir problematisch zu sein, weil man so in die Nähe der methodologisch abzulehnenden Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften von Josef Nadler gerät. Viel logischer erscheint mir deshalb vor allem Weiß, z. T. auch Ungar und Winder im Kontext der Prager deutschen Literatur, und David, Müller, Lothar und Jellinek im Kontext der Wiener Literatur darzustellen, obwohl ihre mährischen Erfahrungen sicher Spuren in ihrem Werk hinterlassen haben. Eine Ausnahme ist hier Langmann, dessen mehr konventionelles Spätwerk nach seiner Niederlassung in Wien 1901 fast ohne Resonanz blieb, während seine überwiegend naturalistischen Werke mit mährischen Stoffen Erfolg hatten. Die Zahl derjenigen deutschsprachigen jüdischen Autoren, die z. B. der Landeshaupstadt Brünn ihr Leben lang treu blieben, ist klein und sie sind heute beinahe vergessen, wie Alois Isidor Jeitteles (*1794), Max Grünfeld oder der in Wien geborene Karl Kreisler (*1882). Kreisler z. B. war Professor am Masaryk-Gymnasium in Brünn und begann als Lyriker; sein Vorbild war Rilke. Für Castles Deutschösterreichische Literaturgeschichte schrieb er über mährische und schlesische Kollegen und später trat er als Autor von drei Prosawerken auf, darunter eines ironisch gebrochenen Brünner Romans Die ewige Liebe der Frau Lilly Schwarz. Die damalige Traditionspflege unter dem Brünner literarischen Publikum belegt seine Monographie über den in Brünn begrabenen Hieronymus Lorm. Vor einer überraschend lange andauernden Symbiose zwischen diesem formkonservativen jüdischen deutschen Autor in Brünn und dem illegalen NS-Mitglied aus Österreich Hohlbaum, der mit seinem Werk den Anschluß vorbereitete[7], zeugt Kreislers Selbstdarstellung in der Deutschen Zeitung Bohemia vom März 1935. Er bekennt sich hier zu Hohlbaum, einem der liebenswertesten Menschen die [ihm] je begegnet sind. Das war schon nach der Spaltung des Österreichischen PEN 1933 auf dem Kongreß des Internationalen PEN-Clubs in Ragusa (Dubrovnik). Also Kreisler konnte wissen, wen er hier als einzigen unter seinen literarischen Freunden hervorhebt. Kreisler starb 1942 in Theresesienstadt, Hohlbaum war seit 1942 Leiter der Thüringischen Landesbibliothek in Weimar und einer der prominenten Autoren des NS-Regimes. Ein spezielles Kapitel bilden mährische Autoren aus Theresienstadt Gertrud Groag, Ilse Weber und Artur Polak. Der letztgenannte lebte nach 1945 in Olmütz († 1990) und gilt als der letzte deutschsprachige jüdische mährische Autor. Gäbe es mehr Raum für eine literarhistorische Darstellung der Autoren der Ausstellung, würde sich ein literatursoziologischer Ansatz bieten, der die Entwicklung der Rahmenbedingungen des literarischen Lebens untersucht und die Rolle dieser Autoren darin feststellt. Konservative, z. T. anachronistisch wirkende Poetik verurteilte manche Autoren dieses Katalogs zu einer Außenseiterrolle: Oskar Jellinek gewann 1924 den ersten Preis als Novellist im Wettbewerb des Verlags Velhagen & Klasing, als schon die Novelle als Genre und die Dorfthematik den Autoren der Antimoderne vorbehalten blieb. Max Zweig äußerte sich in einer schwerfälligen quasi biblischen Allegorie und machte aus seiner Verachtung moderner literarischer Strömungen keinen Hehl. Lorm als Prosaiker oder später Hans Müller als kommerziell erfolgreicher Dramatiker und Librettist bedienten sich einer konventionellen Sprache und scheuten vor manchem bedenklichen Klischee nicht zurück. Die Wertunterschiede bei den Werken der hier vorgestellten Autoren dokumentiert Davids Brief an seinen Dresdner Verleger Minden, von dem er seinen Band Lyrik wieder zurückkaufen wollte: Mit Ausnahme meines Bändchens führen sie nur noch Lorm, mit dem ich – heißen Sie mich größenwahnsinnig, wie Sie wollen – nicht konfundiert werden möchte. Also hoffen wir, daß auch die stattliche Zahl von 38 wichtigeren und weniger interessanten Autoren keine Konfusion zur Folge hat. Böhmische Dorfjuden und jüdische Kleinhändler oder Bankbeamte in den böhmischen Städten waren im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufig auch tschechischsprachig, die mährischen jedoch kaum. Deshalb begegnet man in Mähren keinem jüdischen tschechischsprachigen Prosaisten, wie z. B. Vojtěch Rakous, Jiří und František Langer, Karel Poláček oder Alfred Fuchs in Böhmen.[8] Auch für die in Prag so wichtige Vermittlerrolle jüdischer Autoren (Brod, Werfel, Eisner, Pick oder Fuchs) zwischen deutscher und tschechischer Literatur findet man in Mähren kein Pendant. Im Unterschied zu den Wiener jüdischen Autoren Canetti oder Broch sind mährische deutschsprachige Juden dieser Generation meistens ausgesprochen traditionell schreibende Durchschnittsautoren, die mit ihrem Landsmann Musil vielleicht nur die Anfänge in der Brünner Presse gemeinsam haben. Autoren wie Ungar, Sommer oder Winder sind nicht mitgemeint, weil ihr Werk außerhalb Mährens entsteht und intensiv rezipiert wird. Was ist also von der mährischen deutschsprachigen Literatur jüdischer Autoren lebendig geblieben? Eine kleine Jakob Julius David-Renaissance hat schon begonnen - in den 90er Jahren wurde sowohl in der Bücherreihe Eine österreichische Bibliothek als auch in der Deutschen Bibliothek des Ostens jeweils ein Auswahlband seiner Prosa herausgegeben. Auch eine Auswahl aus Philipp Langmann könnte folgen. Eine so interessante Textsorte wie Autobiographie fand bisher leichter Eingang in die Verlagsprogramme, wie die erschienenen Werke von Zweig, Flesch-Bruningen und Beer beweisen, die allerdings nicht nur Mähren zum Thema haben. David, Langmann, mährische Ghettogeschichten von Kulke und Grünfeld zählen wohl zu den wichtigen Anregung zur weiteren Lektüre, die dieser Ausstellung zu verdanken sind. Zdeněk Mareček ________________________________ [1] Allerdings ein Prager Germanist. [2] Beide sind u. a. auch Mitverfasser des tschechischen Lexikons deutschsprachiger Autoren. Slovník spisovatelů německého jazyka a lužické srbštiny. Praha 1987. [3] Josef Mühlberger: Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen 1900 – 1939. München 1981. Die älteren Autoren, wie Sonnefels oder Jeitteles, liegen also außerhalb der vor der von Mühlberger dargestellten Epoche. [4] Leo Slezak: Rückfall. Stuttgart 1940, S. 177. [5] Die Ständeakademie wird 1847 von Olmütz nach Brünn verlegt und 1849 in eine technischen Bildungsanstalt umgewandelt, von der Olmützer Franzensuniversität (1827 – 1855) bleibt nach 1855 nur noch die Theologische Fakultät, die Gründung der Brünner technischen Hochschule verzögert sich: erst im Jahre 1873 ensteht die deutsch dominierte Hochschule, neben der seit 1899 die tschechische technische Hochschule exisitert. [6] Vor allem Moderne Dichtung (1890-1891) und Der Mensch (1918). [7] Getrennt marschieren. München 1935 (Erzählungen). [8] Der Dozent für Philosoph an der damaligen Brünner Universität J. L. Fischer schrieb zwar keine Belletristik, regte aber gemeinsam mit dem Katholiken Otto F. Babler Kontakte mit Deutschen, Tschechen und Juden auf dem Boden des Olmützer Vereins Filzofická Jednota an.