IS Psychoanalytische Literaturinterpretation Praktiken und Probleme psychoanalytischer Literaturinterpretation - am Beispiel von Kafkas Erzählung Das Urteil Von Thomas Anz »Gedanken an Freud« In dem enthusiastischen Rückblick auf den rauschhaften Glückszustand der vorangegangenen Nacht, in der er seine Erzählung »in einem Zug geschrieben« hatte, notierte Kafka am 23. September 1912 in sein Tagebuch: »Gedanken an Freud natürlich«. (KKAT 460f.) Gedanken an Freud hatten später auch zahllose Kafka-Interpreten. Sie sind in ihre Interpretationen von Kafkas "Werken, gerade auch in die der Erzählung Das Urteil, eingegangen. Und sie sahen sich durch Kafkas eigene Bemerkung gerechtfertigt. Diese ist jedoch so vage, dass sie fast alle Fragen offen lässt und wie Kafkas gesamtes Werk zu immer neuen Deutungen einlädt. An welche Bestandteile der psychoanalytischen Theorie hat er gedacht? An die Mechanismen der Traumarbeit, die Symboldeutung, die Theorie des ödipalen Konfliktes ? Und hat sein Denken an Freud die Niederschrift des Textes beeinflusst oder fielen ihm erst nach der Niederschrift Parallelen zwischen dem eigenen Text und der Psychoanalyse auf? Und schließlich: Wusste Kafka selbst, woran er genau dachte, als er an Freud dachte? Auf alle diese Fragen gibt es vielleicht nur eine haltbare Antwort: Woran Kafka vor, bei oder nach der Niederschrift seiner Erzählung wirklich dachte, können wir nicht wissen. Diese Antwort ließe sich mit erheblichen Konsequenzen für die Literaturwissenschaft und vor allem auch für psychoanalytische Interpretationen verallgemeinern und ver- ■'V ■ Psychoanalytische Literaturinterpretation 127 schärfen: Was Autoren gedacht, gefühlt, erlebt oder beabsichtigt haben, als sie ihre Texte schrieben, entzieht sich generell unserer Kenntnis. Das Bewusstsein anderer lässt sich nicht beobachten. Wahrnehmbar sind für Kultur- wie für Naturwissenschaften nur sprachliche oder körperliche Repräsentationen des Bewusstseins. Noch suspekter erscheinen in dieser Perspektive Aussagen, wie sie für die Psychoanalyse konstitutiv sind. Denn sie definierte sich von Beginn an als eine Disziplin, die den Anspruch stellte, sogar sinnvolle und kontrollierbare Aussagen über Unbewusstes machen zu können, also über Vorgänge im Inneren des Subjekts, die in psychoanalytischer Sicht nicht einmal durch konventionell geregelte sprachliche Äußerungen repräsentiert sind, sondern durch diese vielmehr entstellt werden. Man könnte daher geneigt sein, Literaturwissenschaftlern, die sich bei ihren Textinterpretationen mit dem Bewusstsein oder sogar mit dem Unbewussten eines Autors befassen, in Anlehnung an einen Schutzmann in Kafkas Werk zuzurufen: »Gibs auf!« (KKAN II 539) Vielleicht müssten wir dann sogar eine weitergehende Konsequenz ziehen und darauf verzichten, sprachliche Äußerungen auch in der alltäglichen Kommunikation verstehen zu wollen. Dennoch stellen wir ständig Vermutungen darüber an. Wir wollen wissen, was andere denken, fühlen und beabsichtigen, fragen uns, ob ihre Äußerungen authentisch oder inszeniert, wahrhaftig oder vorgetäuscht sind. Soll Wissenschaftlern im Umgang mit Texten untersagt sein, was Menschen täglich im Umgang mit sprachlichen Äußerungen praktizieren? \ ,"v ' ' ' '«. ; • . ? - iSiji I *"*ik I I 128 Thomas Anz Beobachtungen zur psychoanalytischen Interpretationspraxis Die erkenntnis- und kommunikationstheoretische Debatte über die angedeuteten Probleme kann hier nicht weiter geführt werden. Ich komme zwar im Folgenden gelegentlich auf sie zurück, gehe jedoch einen anderen Weg. Auf der Basis langjähriger Beobachtungen dessen, was psychoanalytisch orientierte Interpreten von Literatur getan haben und noch heute tun, reproduziere, simuliere, beschreibe und unterscheide ich im exemplarischen Blick auf Kafkas Erzählung einige typische Möglichkeiten, Praktiken und Probleme solcher Interpretationen. Die Unterscheidungen sind durch die Beobachtung motiviert, dass Literaturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen, die mehr oder weniger dominant mit Begriffen und Theorieelementen der Psychoanalyse umgehen, oft nicht wissen, was sie Um. Das hat in der Praxis psychoanalytisch orientierter Literaturinterpretation zu erheblichen Konfusionen und Verständigungsproblemen geführt. Interpreten, die psychoanalytische Begriffe und Theorien verwenden, tun ganz Unterschiedliches, verfolgen sehr heterogene Erkenntnisziele und gelangen dabei zu jeweils verschiedenen Einsichten. Sie dabei zu beobachten heißt, darauf zu achten, welche Begriffe sie zu welchem Zweck, in welchen Argumentationszusammenhängen und mit welchen Effekten verwenden; es heißt auch, auf die Implikationen dessen zu achten, was sie explizit sagen.1 Dafür ein Beispiel: Einer der jüngsten und umfangreichsten Beiträge, die Das Urteil im Rückgriff auf die Psychoanalyse deuten, trägt den Titel Erzählte Psychoanalyse bei Franz Kafka (Kaus, 1998). Der Titel deutet die These an, Kafka habe sein psychoanalytisches Wissen in eine Erzählung umgesetzt. Die Interpreta- 1 Dieses ist bislang am umfassendsten im wissenschaftsanalytischen Blick auf psychoanalytische Musil-Interpretationen geleistet worden (siehe Pfohl-mann, 2002). tion vt Kafka noch nicht kennen konnte, ■ c j I Schüler sie erst Jahre später verwen se also besagen, Kafka habe späten sichten erzählerisch vorweggenom.^w,. ^ nur die häufig anzutreffende Praxis von Interpreten, bestimmte Erzählinhalte oder auch erzähltechnische Merkmale in die eigene psychoanalytische Sprache zu übersetzen? Das Kooperationsmodell psychoanalytischer Interpretation Psychoanalytische Literaturinterpretationen sind so alt wie die Psychoanalyse selbst. Freud hat bekanntlich einen seiner zentralen Begriffe, den »Ödipuskomplex«, einem prominenten literarischen Text zu verdanken. Die Geburt der Psychoanalyse war zugleich die der psychoanalytischen Literaturinterpretation. Am 15. Oktober 1897 schrieb Freud an seinen Freund Wilhelm Fließ von einer Entdeckung: »Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht, gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit.« Den herme-neutischen Gewinn der Einsicht führt Freud sogleich in Ansätzen psychoanalytischer Literaturinterpretation vor: Wenn das so ist, so versteht man die packende Macht des Königs Ödipus [...], die griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat. Jeder der Hörer war einmal im Keime und in der Phantasie ein solcher Ödipus und vor der hier in die Realität gezogenen Traumerfüllung schaudert jeder zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, der seinen infantilen Zustand von seinem heutigen trennt. (Freud, 1962, S. 193) 130 Thomas Anz Zielen diese Bemerkungen vor allem auf die Wirkung von Literatur, so geht die daran gleich anschließende Deutung des Hamlet auf Details des Textes ein und entziffert an seiner manifesten Oberfläche einen darunter verborgenen, latenten Sinn. Das Zaudern des Protagonisten, den Onkel zu töten und so dessen Mord am Vater zu rächen, wird durch die dunkle, das eigene Gewissen belastende Erinnerung erklärt, »er habe sich mit derselben Tat gegen den Vater aus Leidenschaft zur Mutter getragen«. Am Ende erzwinge sich ein »unbewußtes Schuldbewußtsein« die Bestrafung, indem Hamlet »dasselbe Schicksal erfährt wie der Vater, von demselben Nebenbuhler vergiftet wird« (ebd., S. 194). Freud und seine Schüler suchten zunächst in ihren Auseinandersetzungen mit Literatur vor allem anschauliche Bestätigungen ihrer theoretischen Konzepte. Freuds ausführliche Interpretation von Wilhelm Jensens 1903 erschienener Novelle Gradiva geriet zur kleinen Einführung in den damaligen Stand der Psychoanalyse. Hier nannte der Analytiker die Dichter »wertvolle Bundesgenossen« im gemeinsamen Projekt der Erkundung des Seelenlebens. Sie seien »Vorläufer der Wissenschaft und so auch der wissenschaftlichen Psychologie« (Freud, 1969b, S. 14 und 43). Insofern Literatur und Psychoanalyse nach diesem Verständnis gemeinsam an dem Projekt der Erkundung des Seelenlebens beteiligt sind, folgt diese Art von psychoanalytischer Literaturinterpretation einem »Kooperationsmodell« (Rutsch-ky, 1981, S. 19). Literatur und Psychoanalyse gewinnen ihre Einsichten in der Perspektive dieses Modells unter unterschiedlichen Voraussetzungen. Freud bezeichnete das psychologische Wissen, das Autoren in ihre Texte eingeschrieben haben, wiederholt als »intuitiv« oder auch »unbewußt«. In den frühen Anmerkungen zu Hamlet steht der dafür bezeichnende Satz: »Ich denke nicht an Shakespeares bewußte Absicht, sondern glaube lieber, daß eine reale Begebenheit den Dichter zur Darstellung reizte, in dem das Psychoanalytische Literaturinterpretation 131 Unbewußte in ihm das Unbewußte im Helden verstand.« (Freud, 1962, S. 194) Literatur diente der Psychoanalyse, die mit Literatur im Rahmen eines derartigen »Kooperationsmodells« umgeht, »als Heuristik, d.h. zur Aufstellung von Hypothesen« (Groeben, 1972, S. 15), deren Geltungsprüfung die wissenschaftliche Aufgabe kontrollierter Beobachtung und begrifflich-theoretischer Präzisierung bleibt. Als Anregung zu oder Illustration und Bestätigung von psychoanalytischen Theoriebildungen fungierte Literatur noch weit über Freuds Interpretationen hinaus. Jacques Lacans viel beachtete und von Literaturwissenschaftlern imitierte (vgl. Gallas, 1981) Analyse von Poes Erzählung Der entwendete Brief ist dafür ein prominentes Beispiel (Lacan, 1973, S. 7-60). Literaturwissenschaftler mit psychoanalytischen Kenntnissen unterschiedlicher Art formulieren immer wieder Aussagen, in denen sie diese Kenntnisse mit dem mehr oder weniger bewussten, der Psychoanalyse ähnlichen Wissen des Autors, das in seine Texte eingegangen ist, vergleichen. In der interpretatorischen Praxis führt das meist zu einer Ubersetzung literarischer Psychologie in die Konzeption und Begrifflichkeit wissenschaftlicher Psychologie, die der' Interpret sich angeeignet hat und an deren Wahrheit er glaubt. Die Intentionen und Effekte solcher Übersetzungen können dabei divergieren: Sie fungieren als Bestätigungen oder Veranschaulichungen des eigenen psychoanalytischen Wissens und verschaffen ihm durch das Prestige des Autors, des Textes oder der Literatur überhaupt Dignität. Oder sie beanspruchen, eine bloß implizite Textpsychologie zu explizieren, zu präzisieren und damit auf das aktuelle Niveau wissenschaftlicher Reflektiertheit zu heben, In der von der Psychoanalyse behaupteten Analogie zwischen Dichtung und (Tag-)Traum entsprechen dem manifesten Trauminhalt, also dem im Wachzustand erinnerten und erzählten Traum, die dem Bewusstsein zugängliche Handlung und Struktur des literarischen Werks. Sie gelten als Produkte -:i.^'-'s*äf5ä»MI 132 Thomas Anz der Entstellung ursprünglicher Inhalte mit verbotenen Wünschen, als Kompromissbildungen zwischen diesen anstößigen Wünschen und deren Abwehr durch ein Bewusstsein, das sich diese Wünsche nicht erlauben darf und sich daher durch sie bedroht fühlt. Der Traum- bzw. Textdeuter kennt die Mechanismen der Entstellung (Symbolisierung, Verdichtung, Verschiebung usw.) und kann mit dieser Kenntnis den Entstellungsprozess, die »Traumarbeit«, bis zur Aufdeckung der ursprünglichen Wunschphantasien zurückverfolgen. Ziel der Traum- wie der Textdeutung ist also die Dechiffrierung des manifesten Traumes bzw. Textes und die Aufdeckung seines »psychodramatischen Substrats« (Matt, 2001, S. 66ff.). Eine Erzählung wie Das Urteil bietet sich solchen psychoanalytischen Umgangsformen mit Literatur geradezu an. Schon dass der Text in seinem Verlauf den Lesenden, ohne das als mögliche Irritation zu thematisieren, zunehmend mit Unwahrscheinlichem und Unverständlichem konfrontiert, gibt ihm traumähnliche Merkmale. Beiläufige Verwendungen von Attributen wie »wahrscheinlich«, »unwahrscheinlich« oder »unglaublich« in anderen Zusammenhängen lassen sich als (freilich nur angedeutete) Reflexion darauf lesen. Die merkwürdige Geistesabwesenheit des Sohnes, von der wiederholt die Rede ist, zeigen ihn überdies in einem psychischen Zustand, der dem eines Tagträumers ähnlich ist. Einige Kafka-Forscher haben die literarische Darstellungstechnik der Erzählung in ihrer Ähnlichkeit mit den von Freud analysierten Merkmalen der Traumarbeit beschrieben (vgl. Beharriel, 1973). Vor allem aber sind die Themen, Motive und Konstellationen, für die sich Psychoanalyse bevorzugt interessiert, hier leicht zu finden: die familialen Beziehungen zwischen Vater, Sohn und Mutter mitsamt jener Mischung von Liebe, Hass, Schuldbewusstsein und Bestrafungsphantasie, die für das ödipale Drama kennzeichnend sind.2 2 Es gibt kaum eine psychoanalytische Interpretation der Erzählung, die nicht auf die ödipale Konstellation in ihr eingeht. Einen vergleichenden Überblick dazu gibt Gerhard Neumann (1981), S. 211ff. Psychoanalytische Literaturinterpretation Ein Sohn schickt sich an, die mächtige Position i ters einzunehmen, nicht nur in der Firma, sondern i Privatleben. Der Sohn hat eine Frau, die er heiraten te, der Vater hat keine mehr, denn sie ist vor zwei gestorben. Wenn der sich besorgt zeigende Sohn de auf den Armen trägt, ihn ins Bett bringt und gut z ist der Rollentausch von Vater und Kind gänzlich vollzogen. Im manifesten Text sind um die Figuren Vater, Mutter und Sohn wenige weitere gruppiert: die Verlobte des Sohns, der »Jugendfreund« des Sohns und am Ende seine »Bedienerin«, die »Jesus!« ruft (19), als er die Treppe hinunter eilt. Zu den Entstellungsmechanismen, mit denen psychoanalytische Deutungen rechnen, gehören Aufspaltungen eines Gegenstandes oder einer Person in mehrere: So legt der Text selbst beispielsweise die Assoziation nahe, Georg Ben-demann und den Jugendfreund als Partial-Ichs einer Sohn-Figur zu lesen. Immerhin schreibt die Erzählung dem Vater die Sätze zu: »Wohl kenne ich deinen Freund. Er wäre ein Sohn nach meinem Herzen« (16). Was der Text selbst jedoch überhaupt nicht nahe zu legen scheint, für psychoanalytische Versuche, einen latenten Sinn zu rekonstruieren, aber gerade deshalb besondere Beachtung verdient, ist eine relativ überraschende Deutung: Von der Randfigur der Bedienerin einmal abgesehen, versteht diese Deutung die Verlobte und die Mutter des Sohnes als Aufspaltungen einer Figur. Durch Kontraste sind sie miteinander assoziiert: In der Perspektive des Vaters ist die eine Heilige, die andere Hure, durch die der Sohn »unserer Mutter Andenken geschändet« (17) hat. In der Chronologie des Geschehens taucht die eine auf, als die andere verschwindet. Der Einfall, die Verlobte als Verschlüsselung der Mutterfigur zu deuten, hat zumindest in psychoanalytischer Perspektive ein hohes Maß an Attraktivität. Denn im Hinblick auf ödipale Beziehungsmuster schildert der manifeste Text lediglich Konflikte, oder besser Machtkämpfe, zwischen 134 Thomas Anz Psychoanalytische Literaturinterpretation 135 Vater und Sohn, dies allerdings in subtiler Detailliertheit. Über das Verhältnis des Sohns zur Mutter schweigt der Text jedoch vollkommen - in psychoanalytischer Sicht geradezu auffällig. Interpretiert man allerdings die Beziehung des Sohns zur Verlobten als Verschlüsselung der begehrten Beziehung zur geliebten Mutter, dann liegen in der Geschichte jene ödipale Konstellation und Dynamik, wie sie in der Psychoanalyse immer wieder beschrieben werden, komplett vor. Was ist an der Verlobung des Sohns so überaus heikel, dass es ihm derart schwer fällt, sie dem Freund mitzuteilen? Warum sieht sich der Sohn genötigt, dem Vater mitzuteilen, dass er dem Freund die Verlobung angezeigt habe? Warum reagiert der Vater darauf so widersprüchlich und ausweichend, bis er ganz eindeutig seine Wut auf die Beziehung seines Sohnes zu der Verlobten artikuliert? Wie kommt der Vater zu jenem maßlos erscheinenden Urteil, das der ebenso maßlosen Verurteilung zum Tod vorausgeht? »Ein unschuldiges Kind warst du eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch!« (19) Wieso übernimmt der Sohn das Urteil und tötet sich selbst? Das alles stimmt weitgehend überein mit den Phantasiebildungen, die nach psychoanalytischen Beschreibungen um das ödipale Drama herum angesiedelt sind. Das kindlich unschuldige Begehren nach der Mutter stößt auf den Widerstand des Vaters. Dessen übermächtige, strafende Autorität implantiert in das Kind ein Schuldbewusstsein, dem das Begehren als teuflische Tat erscheint, für die es die Strafe des Todes verdient. Das Urteil erscheint so als eine Variation des Ödipus- oder Hamlet-Dramas. Inzestuöse Wünsche gegenüber der Mutter, die hier zur »Braut« wird, verbinden sich mit mörderischen Impulsen gegenüber dem Vater: »wenn er fiele und zerschmetterte!« (18) Das Schuldbewusstsein wiederum geht mit einem anderen Wunsch einher: mit dem Wunsch, bestraft zu werden. Neben inzestuösen Wünschen sind es vor allem homosexuelle, die nach psychoanalytischer Perspektive der Ver- drängung unterliegen, weil sie mit starken sozialen Tabus konfrontiert sind. Daher gelangen sie in literarischen Texten zumeist nur entstellt an deren Oberfläche. Ihren Spuren gilt die besondere Aufmerksamkeit psychoanalytischer Literaturinterpretation. Im Blick auf Das Urteil ist man auch in dieser Hinsicht früh fündig geworden.3 Was man da gefunden hat, gibt dem Text gegenüber der Lesart nach ödi-palen Suchmustern eine partiell andere Bedeutung. Ein erhebliches Maß an Plausibilität hat auch sie. Psychoanalytische Interpretationen wenden ihre bevorzugte Aufmerksamkeit auf Irritationen, die von einzelnen Textdetails ausgehen. Schon das Ausmaß der Skrupel, mit denen Georg B endemann die Mitteilung der Verlobung hinauszögert, ist befremdlich. Doch noch irritierender ist die heftige Reaktion der Verlobten auf diese Skrupel: »Wenn du solche Freunde hast, Georg, hättest du dich überhaupt nicht verloben sollen« (10). Rasch atmend unter seinen Küssen bringt sie gleich darauf noch den Satz vor: »Eigentlich kränkt es. mich doch« (10). All das bereitet wenig Verständnisschwierigkeiten-, wenn man der erzählten Geschichte eine Bedeutung unterlegt, die der Text nicht ausdrücklich anspricht, wenn man sie also als Darstellung eines Konflikts zwischen hetero- und homosexuellen Wünschen liest, als Geschichte auch von den Schwierigkeiten eines in seiner Geschlechtsidentität unentschiedenen Mannes. Auch einige auffällige Aspekte in der Beziehung zwischen Vater und Sohn und die Widersprüche, die der Vater in der Einschätzung des Freundes zeigt, erhalten nach dieser Lesart einen plausiblen Sinn. Der manifeste Text stellt die Beziehung zwischen Sohn und Vater wiederholt ausdrücklich auch als Liebesbeziehung dar. »Glaubst du, ich hätte dich nicht geliebt«, erklärt der Vater (18), und der Sohn bestätigt am Ende: »Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt« (20). In psychoanalytischer Perspektive ist 3 Vgl. Florcs (1947); Tiefeiibrunn (1973); Hoffmann (1974); Kaus (1998), 136 Thomas Anz die Liebe zwischen Eltern und Kindern nur scheinbar frei von libidinösen Impulsen; die zwischen Vater und Sohn enthält homoerotische Komponenten. Der Ödipuskomplex wird in seiner Vollständigkeit nach Freud nur dann erkannt, wenn man »die ursprüngliche Bisexualität des Kindes« berücksichtige: d. h. der Knabe hat nicht nur eine ambivalente Einstellung zum Vater und eine zärtliche Objektwahl für die Mutter, sondern er benimmt sich auch gleichzeitig wie ein Mädchen, er zeigt die zärtliche, feminine Einstellung zum Vater und die ihr entsprechende eifersüchtig-feindselige gegen die Mutter. (Freud, 1975, S. 300) In der latent homoerotischen Beziehung zwischen Vater und Sohn wird nach dieser Sichtweise für den Vater nicht nur die Braut, sondern auch der Freund zu einem Rivalen im Ringen um die Liebe des Sohns. Im Hinblick auf die heterosexuelle Beziehung des Sohns zur Braut sind Freund und Vater hingegen gemeinsam die von Georg Betrogenen. Dass es um eine Liebesrivalität geht, macht sogar der manifeste Text deutlich, wenn er den Sohn beteuern lässt: »Tausend Freunde ersetzen mir nicht meinen Vater« (14). Sexuelle Komponenten dieser Liebe zeigen sich hinter der karitativen Besorgtheit des Sohnes um den Freund wie um den Vater jedoch allenfalls in Andeutungen oder werden als etwas Begehrenswertes dadurch entstellt, dass sie im Ton des Abscheus angesprochen sind: Der Vater hebt, die von ihm unterstellte Obszönität der Braut simulierend, vor den Augen des Sohnes »sein Hemd so hoch, daß man auf seinem Oberschenkel die Narbe aus seinen Kriegsjahren sah« (17). Oder er hält ihm in verbaler Drastik vor: »Wie du jetzt geglaubt hast, du hättest ihn untergekriegt, so untergekriegt, daß du dich mit deinem Hintern auf ihn setzen kannst und er rührt sich nicht, da hat sich mein Sohn zum Heiraten entschlossen!« (16) Psychoanalytische Literaturinterpretation 137 Derartige Interpretationsangebote, die sich an typische Muster psychoanalytischer Deutungspraxis anlehnen, sind in ihren Implikationen freilich selbst vieldeutig. Sie sollen hier zunächst im Rahmen jenes Modells verstanden werden, das der Literatur die Vermittlung der vom Autor intuitiv bzw. >unbewusst< gewonnenen Einsichten zuschreibt, die denen der Psychoanalyse entsprechen und von denen die Psychoanalyse sogar lernen kann, die jedoch erst von der Psychoanalyse auf der empirischen Basis klinischer Erfahrungen systematisch und in elaborierter Begrifflichkeit formuliert werden. Kafka erscheint dann gleichsam als kongenialer Zeitgenosse Freuds. Eine Variante dieses »Kooperationsmodells« mit freilich ganz anderen Implikationen liegt vor, wenn man auf der Grundlage von Interpretationsansätzen der vorgestellten Art danach fragt, ob oder wie der Autor psychoanalytisches Wissen, das er sich bis zur Niederschrift seiner Erzählung angeeignet hat, literarisch verarbeitete. Literarische Adaption psychoanalytischen Wissens Literaturwissenschaftliche Aussagen über das psychoanalytische Wissen eines Autors und darüber, wie er es in seine literarischen Texte transformiert hat, haben einen anderen Status als Ubersetzungen literarisch intuitiver Psychologie in psychoanalytisches Vokabular. Das psychoanalytische Wissen, auf das ein Literaturwissenschaftler sich in Aussagen über die psychoanalytischen Kenntnisse des Autors bezieht, ist ein historisches. Es ist Gegenstand und nicht theoretischer Bestandteil seiner Aussagen. Um das in literarische Texte eingegangene Fachwissen zu erkennen und zu beschreiben, muss der Literaturwissenschaftler sich psychologiegeschichtliches Wissen aneignen, doch nicht psychologisches Wissen in dem Sinne zu Eigen machen, dass er dessen Wahrheitsansprüche teilt. 138 Thomas Anz Psychoanalytisi Die philologische Suche nach Spuren von Kafkas Psychoanalyserezeption vor der Niederschrift seiner Erzählung Das Urteil war nur von begrenztem Erfolg. Die erste, beiläufige Erwähnung Freuds findet sich in einer Tagebtich-notiz vom 11. Juli 1912, die zweite, die ich eingangs zitiert habe, dann in dem Bericht über die Niederschrift der Erzählung. Erst ab 1917, dem Jahr, in dem Kafka den in Bohemekreisen berühmt-berüchtigten Psychoanalytiker Otto Gross persönlich kennen lernte und Hans Blühers psychoanalytisch orientierte Schrift Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft las, häufen sich seine Äußerungen zur Psychoanalyse in Tagebüchern und Briefen. Historische Vergleiche zwischen Literatur und Psychoanalyse Historische Vergleiche zwischen Literatur und Psychoanalyse sind auf philologische Nachweise gegenseitiger Kenntnis nicht angewiesen. Sie sind im Falle Kafkas schon dadurch legitimiert, dass literarische Moderne und Psychoanalyse zeitgleiche Phänomene sind und daher beide an zeittypische, Literatur, Kunst und Wissenschaft übergreifende Interessen, Problemlagen, Denk- und Wahrnehmungsmuster, Normen, Werte, Mentalitäten oder Diskursordnungen gebunden sind. Bemerkenswert sind die Ähnlichkeiten zwischen den Theorien von Otto Gross und Kafkas Erzählung (vgl. Anz, 1989, S. 32 ff.). Gross hatte mit seiner wiederkehrenden Formel vom »Konflikt des Eigenen und Fremden« die Mechanismen der Verinnerlichung patriarchaler Autorität beschrieben. Die »ins eigene Innere eingedrungene Autorität« führt nach Gross zum Widerstreit zwischen individuellen, insbesondere sexuellen Bedürfnissen einerseits und des »Anerzogenen und Auferzwungenen« andererseits (Gross, 1980, S. 14).4 Wenn Georg des Vaters übernimmt und sich das wie eine Veranscl , ersten Artikel von Gross, sein dürften, erschienen all sionistischen Zeitschrift D.. r .■■ ■. 1 >> i PI.'i i -i i ■,■ meinsamen Zeitschrift mit dem Titel Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens entstand 1917. Freuds Totem und Tabu hingegen, 1912/13 in der Zeitschrift Imago erschienen, lag bereits vor, als Kafka seine Erzählung schrieb. Das Therapiemodell: Der Autor als Objekt der Analyse Psychoanalytisches Wissen bezieht sich jedoch in der Interpretationspraxis häufig auch in der Weise auf Literatur, dass es diese im Hinblick auf die Psyche des Autors liest. Anknüpfend an psychopathographische Studien, in denen Psychiater eine Autorbiographie als Krankengeschichte schrieben, und an biographische Textinterpretationen, machen psychoanalytische Literaturinterpretationen vielfach Aussagen über das Unbewusste im Autor; sie legen ihn gleichsam auf die Couch und suchen seine manifesten Texte, analog zur Traumdeutung, nach verschlüsselten, latenten Bedeutungsschichten ab. Diese Suche folgt den gleichen Mustern wie im Rahmen des »Kooperationsmodells«, sie bezieht sich jedoch ausdrücklich auf unbewusste Konflikte in der individuellen Persönlichkeit des Autors. Die Funktion oder der Effekt dieser nach dem »Therapiemodell«5 ver- 4 Der hier zitierte Artikel, »Die Überwindung der kulturellen Krise«, erschien zuerst im November 1913 in der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion. 5 Vgl. die Unterscheidung zwischen »Therapiemodell« und »Kooperationsmodell« des psychoanalytischen Umgangs mit Literatur bei Rutschky (1981), S. 9-19. 140 Thomas Anz Psychoanalytische Literaturinterpretation 141 fahrenden Interpretationen von Literatur mit psychoanalytischem Wissen ist nicht die Heilung des (zumeist bereits toten) Autors, sondern die Aufdeckung verborgener Aspekte einer Lebensgeschichte.6 Von biographischen Interpretationen unterscheiden sich psychoanalytische Interpretationen, die nach diesem Modell verfahren, insofern, als sie, zumindest implizit, den Anspruch stellen, Bedeutungsaspekte eines Textes zu ermitteln, die dem Autor selbst nicht bewusst gewesen sind. Durch etliche Textsignale und Kommentierungen des Geschriebenen hat Kafka biographische und auch psycho-biographische Interpretationen geradezu herausgefordert. Wie der Anfangsbuchstabe K. im Namen seiner Roman-protagonisten verweist Georg Bendemann, wie Kafka selbst genau erklärte (KKAT 491 f., 11. Februar 1913), durch gleiche Buchstabenzahl im Vornamen und gleiche Vokalverteilung in »Bende« und »Kafka« auf die eigene Person. Und wenn es denn wahr ist, dass er seinem Freund Max Brod erklärte, er habe beim Schlusssatz der Erzählung »an eine starke Ejakulation gedacht« (Brod, 1966, S. 114), dann lieferte er mit dieser Assoziation wie mit zahlreichen anderen Einfällen zu seinem eigenen Text Interpreten ein Material, das mit den freien Assoziationen und Deutungseinfällen des Analysanden in der therapeutischen Analyse vergleichbar ist. Psychoanalytische Interpretationen eines einzelnen Textes nach dem »Therapiemodell« suchen ihre Anhaltspunkte -und Belege immer auch in lebens- und werkgeschichtlichen Kontexten. So wie ein Analytiker nicht nur einen einzigen Traum seines Patienten deutet, sondern diesen eventuell als Wiederholung und Variante anderer Träume, als Verarbeitung aktueller oder bereits lange zurückliegender Ereignisse 6 Dagegen stellt das Konzept der »Kultur-Analyse« Alfred Lorenzers (1986). Es rückt nicht den Autor, sondern den Leser in die Position des Analysanden, der durch Autoren und ihre Texte quasi therapeutisch verändert werden kann. und Konflikte versteht, sucht die autororientierte Werkinterpretation die gesamte Hinterlassenschaft eines Autors nach Assoziationsnetzen, Bildgruppen und wiederkehrenden Figurenkonstellationen ab. Im Falle Kafkas folgt sie damit den Interessen, denen der Autor selbst in seinen Tagebüchern, Briefen und Werken ständig nachging. Da wird also ein Autor analysiert, der sich permanent selbst analysierte, und dies sogar in Kenntnis psychoanalytischer Theorien. Der psychoanalytische Anspruch, in der Deutung von Kafkas Werken und seiner ganzen Person ein Ergebnis vorzulegen, das dem Autor selbst nicht bewusst war, ist in diesem Fall also besonders hoch. So ist es konsequent, wenn einige psychoanalytisch orientierte Interpreten nicht gewillt waren, die in Kafkas Werk dominante Bedeutung des Vaters und des Kampfes mit pa-triarchalen Autoritäten zu reproduzieren, sondern stattdessen die auch im Urteil eher marginale Bedeutung der Mutter hervorhoben (vgl. Margarete Mitscherlich-Nielsen, 1977). Eine neuere psychoanalytische Interpretation (Kaus, 1998) stellt die in der Geschichte psychoanalytischer Kafka-Interpretationen schon früh >entdeckte< homoerotische Komponente in der fiktiven wie realen Vater-Sohn-Bezie-hung heraus. Das Todesurteil des Vaters und seine Folgen liest diese Interpretation als paranoide Phantasie, als literarische Entfaltung eines Verfolgungswahns, wie ihn Freud im Blick auf den Fall Schreber als Abwehr homoerotischen Begehrens interpretiert hat. Der Wunsch, von einer begehrten Person intensive Zuwendung zu erfahren, findet in der Phantasie, von dieser Person verfolgt und tödlich bedroht zu werden, Erfüllung und perfekte Entstellung zugleich. Zu einigermaßen überraschenden Ergebnissen kommt jene Interpretationspraxis, die mehr oder weniger konsequent einer grundlegenden These in Freuds Traum- und Literaturtheorie folgt: dass die Phantasietätigkeit im Traum, im Tagtraum, im Spiel oder in der Fortsetzung kindlichen Spiels, der Literatur, einem dominanten Antrieb folgt, näm- 142 Thomas Anz lieh dem, Wünsche zu erfüllen, deren Befriedigung in der Realität versagt bleibt. In Freuds knappem, doch bedeutenden Vortrag Der Dichter und das Phantasieren, der übrigens fast völlig frei ist von Rekursen auf ödipale Konflikt-muster, stehen die Sätze: »Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit.« (Freud, 1969a, S. 173 f.) Nach allem, was man über Kafka weiß, kann man sich ihn nur schwer als einen glücklichen Menschen vorstellen. Doch ebenso schwer fällt es, sich Kafkas negative literarische Phantasien als Erfüllung jenes Glücks zu denken, das ihm in der Realität versagt war. Schon Kafkas eigenes Verständnis von Literatur steht dem entgegen. 1904 schrieb er an einen Freund: Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir uns zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt [...]. (B27f.) Zwischen dem Literaturverständnis Kafkas und dem Freuds scheinen unüberbrückbare Differenzen zu bestehen. Sie könnten Interpreten davon abhalten, literaturtheoretische Perspektiven Freuds auf Kafkas Werk zu übertragen. Zu bedenken bleibt allerdings, dass Kafkas Verlangen nach literarischer Tätigkeit bekanntlich geradezu obsessiv war. »Mein Glück«, schrieb er im Frühjahr 1911, liegt »seit jeher im Litterarischen« (KKAT 34). Den Prozess der Niederschrift gerade dieser Erzählung schilderte er als rauschhaften Glückszustand. Psychoanalytische Literaturinterpretation 143 »Die treibenden Wünsche«, so Freud im genannten Vortrag, »sind verschieden je nach Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen der phantasierenden Persönlichkeit; sie lassen sich aber ohne Zwang nach zwei Hauptrichtungen gruppieren. Es sind entweder ehrgeizige Wünsche, die der Erhöhung der Persönlichkeit dienen, oder erotische.« (Freud, 1969a, S. 174.) In der Erzählung Das Urteil scheint immerhin die geschilderte Ausgangssituation ehrgeizigen wie erotischen Wünschen durchaus zu entsprechen. Die von Kafka ausphantasierte Figur Georg Bendemann ist beruflich erfolgreich, und der Text gibt einen kurzen Einblick in die erotische Intensität seiner Beziehung zu der Verlobten. Berücksichtigt man darüber hinaus »Charakter und Lebensverhältnisse« des Autors, kann man die ersten Seiten der Erzählung als eine nahezu perfekte Wunscherfüllungsphantasie beschreiben. Das >Unglück< Kafkas, wie er es selbst in den Tagebüchern und Briefen eingehend beschrieben hat, bestand in seinen notorischen Schwierigkeiten, die Bindung an den Beruf in der Versicherungsanstalt mit der Bindung an seine Schriftstellerexistenz zu vereinbaren. »Mein Posten ist mir unerträglich, weil er meinem einzigen Verlangen und meinem einzigen Beruf das ist der Litteratur, widerspricht« (KKAT 579). Der Konflikt verschärft sich, als er im August 1912 Feiice Bauer kennen lernt. Am 20. September, zwei Tage vor der Niederschrift seiner Erzählung mit der Widmung »Für F.«, schreibt er ihr den ersten Brief. Die Erzählung imaginiert eine Verlobung, die in der Realität noch nicht vollzogen war, Kafka wünschte und fürchtete sie zugleich. Das Urteil handelt gleich zu Beginn vom Schreiben. An einem Sonntag, also während einer von beruflichen Verpflichtungen freigestellten Zeit, sitzt der junge Kaufmann allein in seinem Privatzimmer und hat gerade einen Brief beendet. Was Kafka in seinen realen Lebensverhältnissen zur Unmöglichkeit erklärt, lässt diese Geschichte anfangs IS» WH 144 Thomas Anz möglich erscheinen: allein zu sein, zu schreiben, einen Beruf und eine Frau zu haben. Man hat den in der Fremde isoliert und beruflich erfolglos lebenden Freund Bende-manns, der sich mit seinen »Eigentümlichkeiten« für »ein endgültiges Junggesellentum« eingerichtet hat, auch als Alter ego Kafkas, als Bild seiner isolierten, doch vom Elternhaus emanzipierten Schriftstellerexistenz interpretiert. Wie in der Lebensrealität Kafkas scheitert das ausphantasierte Glück jedoch auch in der Erzählung. Zumindest deren zweiter Teil scheint die an Freud angelehnte These, dass die literarische Phantasie eine imaginierte Wunscherfüllung ist, zu widerlegen. Dem lassen sich jedoch wiederum folgende Überlegungen entgegenhalten: Es gibt einige Wünsche Kafkas, deren Erfüllung die Erzählung auch im weiteren Verlauf imaginiert. Bendemann stirbt zwar, doch der Freund nicht. Mit Bendemann hat Kafkas literarische Phantasie den Berufstätigen und den potenziellen Ehemann in sich gleichsam erledigt und die Wünsche nach einer reinen Schriftstellerexistenz überleben lassen, Der drohende Verrat am Freund ist abgewendet. Die aggressiven, gegen den Vater gerichteten Wünsche sind ebenfalls erfüllt: »den Schlag, mit dem der Vater hinter ihm aufs Bett stürzte, trug er noch in den Ohren davon« (19). Und der phantasierte Tod Georg Bendemanns erfüllt das Bedürfnis nach einer Selbstbestrafung, deren Lustkomponenten psychoanalytische Masochismustheorien eingehend beschrieben haben (vgl. Reik, 1977). Die psychoanalytische Interpretationspraxis im Rahmen des Therapiemodells tendierte bislang dazu, das Werk eines Autors als Ausdruck einer individuellen Konfliktstruktur zu deuten. Das muss (und sollte) jedoch nicht so sein. Gerade das Beispiel Kafka kann zeigen, dass seine persönlichen Konflikte durchaus repräsentativ für eine ganze Schriftstellergeneration waren, die im Konflikt zwischen Schriftsteller- und Berufsrolle sowie in der Auseinandersetzung mit patriarchalen Autoritäten ihr Profil gewann. Kafka selbst analysierte sein Leiden als Leiden einer ganzen Psychoanalytische Literaturinterpretation 145 Generation und wandte sich in Übereinstimmung mit Otto Gross gegen psychiatrische und psychoanalytische Tendenzen, solches Leiden zu individuellen und therapiebedürftigen Einzelfällen zu verkürzen (vgl. Anz, 1984). Rezeptions- und Gegenübertragungsanalyse Text- wie autororientierte Kafka-Interpretationen psychoanalytischer Provenienz haben, nicht grundsätzlich anders als literaturwissenschaftliche Interpretationen, zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen geführt. Sogar da, wo sich Interpreten mit der Beschreibung ödipaler Konstellationen begnügten, brachte dies eine frappierende Vielfalt von Deutungsvarianten hervor. Nicht zuletzt solche Divergenzen zwischen Analysen, die alle mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Intersubjektivität auftreten, haben dazu provoziert, den psychoanalytischen Blick vom Autor und zum Teil auch vom Text abzuwenden und vorrangig auf den Leser oder die Leserin zu richten, auf kognitive und affektive Reaktionen, die Texte beim Lesen hervorrufen. Mögliche Objekte psychoanalytischer Aussagen sind dabei historische oder gegenwärtige Rezipienten literarischer Texte. Mögliche Objekte unter noch lebenden Rezipienten sind auch die Interpreten selbst. An die Stelle von Aussagen über ändere Rezipienten können, auf der Basis von Introspektion, Aussagen über psychische Prozesse bei der eigenen Lektüre treten. Bereits die frühen Ödipus- und Ä»rc/e£-Deutungen Freuds sind in Ansätzen Rezeptionsanalysen und versuchen die zeitüberdauernde Faszination dieser Stücke zu erklären: Beide Werke konfrontieren nach Freuds Erklärung den Rezipienten, damals wie heute, mehr öder weniger verhüllt, mit seinen eigenen verdrängten Kindheitswünschen. Die leserorientierte Psychoanalyse ergänzt die literaturwissenschaftliche Rezeptionsforschung um eine unbewusste 1 IIIJV 146 Thomas Anz Psychoanalytische Literaturinterpretation 147 Dimension. In der Rezeption »gemeinsamer Tagträume« (Sachs, 1924) antworten unbewusste Wünsche des Lesenden auf die des Schreibenden. Ahnlich wie es Freud am Beispiel der Techniken des Witzes beschrieben hat, dient die formale Gestaltung, die Autoren ihren Phantasien geben, der Überwindung von Widerständen und zensierender Abwehr des ins Unbewusste oder Vbrbewusste Verdrängten im Leser. So erst wird ihm der Genuss anstößiger Inhalte möglich. Nach der Rezeptionstheorie Norman N. Hollands »assimilieren« Leserinnen und Leser literarische Werke an ihr jeweiliges »Identitätsthema«, das aus ihren dominanten Bedürfnissen und den Mustern besteht, mit denen sie abgewehrt werden.7 Texte erscheinen hier als austauschbare Pro-jektionsflächen, deren Bedeutung erst durch individuelle Konfliktstrukturen einzelner Leser hergestellt wird, und können für diese Art von Leserpsychologie weitgehend oder ganz vernachlässigt werden. Dem entspricht die bereits Jahrzehnte zurückliegende Bemerkung Heinz Politzers, Kafkas Parabeln seien »>Rorschach-Tests< der Literatur und ihre Deutung sagt mehr über den Charakter ihrer Deuter als über das Wesen ihres Schöpfers« (Politzer, 1965, S. 43). Mittlerweile erscheinen allerdings isolierte Untersuchungen zur Psyche des Lesers ebenso problematisch wie diejenigen, die allein auf den Autor oder auf psychoanalytisch relevante Inhalte und Formen literarischer Werke fixiert, sind. Autoren, Texte, Leser und Literaturanalytiker sind wechselseitig voneinander abhängige Bestandteile eines kommunikativen Prozesses, der eine zum Teil bewusste, zum Teil unbewusste Dynamik aufweist und in seiner Komplexität zu entsprechend komplexen Untersuchungen herausfordert. 7 Vgl. die Zusammenfassung von Hollands Rezeptionstheorie bei Schönau (1991), S. 45-48. Weiterentwickelte Ansätze zur Analyse literarischer Kommunikation finden sich heute vor allem in »Übertra-gungs- und Gegenübertragungsanalysen«.8 In Analogie zur Interaktionsszene zwischen Patient und Therapeut reflektieren Literaturanalytiker hier kontrolliert, welches Bild ein Autor sich mit seiner literarischen Kontaktaufnahme zum Leser von diesem macht, welche Rolle und Reaktion der Autor (den man dabei nicht unbedingt kennen muss) dabei seinen Lesern (auch dem psychoanalytisch geschulten Interpreten selbst) nahe legt und welche prägenden Beziehungserfahrungen aus früherer Zeit auf diesen Interaktionsprozess >übertragen< wurden. Reflektiert wird zugleich die »Gegenübertragung«, also wie der Leser auf solche Rollen- und Reaktionszuweisungen auf der Basis der für ihn kennzeichnenden Beziehungsstile kognitiv und emotional reagiert. Für psychoanalytische Kafka-Interpretationen eröffnen sich hier noch weitgehend unbeschrittene Terrains. Wie es begangen werden könnte, lässt sich hier abschließend nur mit ein paar Anhaltspunkten andeuten. Relativ rasche Übereinkunft dürfte sich darüber erzielen lassen, dass Kafka mit literarischen Techniken gezielt eingesetzter Mehrdeutigkeiten und Verrätselungen eine Beziehung zum Leser aufbaut, die diesen in die Rolle des Deutenden drängt. Dieser Zuschreibung sind seine Leser, Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker eingeschlossen, massenhaft gefolgt, ohne die Mechanismen dieser Rollenzuweisung und ihre psychischen wie sozialen Implikationen eingehender zu reflektieren. Ein Spiegelbild seiner Rolle erhält der Leser in den Bemühungen von Kafkas Protagonisten, die widersprüchlichen und rätselhaften Texte und Zeichen patriarchaler Machtinstanzen zu interpretieren. Im Urteil sind es die Reden und Verhaltensweisen des Vaters, die besonders inter- 8 Vgl. Schönau (1991), S. 52-56, und Pietzcker (1992). 148 Thomas Anz Psychoanalytische Literaturinterpretation 149 pretationsbedürftig sind. Als Autor nimmt Kafka selbst diese Position der undurchschaubaren, unzugänglichen Autorität ein. Die um die Auflösung der Rätselhaftigkeit bemühten Leser befinden sich ihm gegenüber in der Position von Söhnen oder Töchtern, die sich der Autorität seiner Texte nur annähern können. Wie Kindern muss ihnen der Autor-Vater in seiner überlegenen, gottgleichen Größe unverständlich bleiben. Die Autoritätsposition des Autors wird jedoch durch jenes Signalsystem überdeckt, das eine Identität von Autor und Sohn suggeriert. Indem man als Leser für den Sohn und Protagonisten, dessen Perspektive der Autor dominieren lässt, und gegen den Vater Partei ergreift, glaubt man, auch für den realen Autor Partei ergreifen zu müssen. Als selbst vaterähnliche Autorität entzieht sich der Autor dadurch möglicher Aggressionen. Vielleicht lassen sich Kafkas Werke beziehungsanalytisch als >Briefe< an imaginierte Väter oder auch Mütter verstehen, bei denen der Autor einerseits mit dem Gestus eines unschuldigen und bemitleidenswerten Kindes um Verständnis wirbt, denen gegenüber er andererseits eine Konkurrenzposition undurchschaubarer und dadurch schwer angreifbarer Macht aufbaut. So gesehen, wiederholt sich in der durch den Text inszenierten Autor-Leser-Beziehung etwas von jenem Rollenwechsel in der Erzählung, bei dem der Sohn zum Vater und der Vater zum Kind wird. Die übermächtige Wirkung der Worte des Vaters auf seinen Sohn gleicht faktisch durchaus der Wirkung, die der . Autor auf seine Leser auszuüben versucht und vielfach auch ausgeübt hat. Der Machtanspruch des Autors Kafka war gewaltig, als er erklärte, ein Buch müsse uns wie ein Faustschlag auf den Schädel wecken, es müsse auf uns wirken »wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt«, es müsse »die Axt sein für das gefrorene Meer in uns« (B 27f.). Das ist von der Kafka-Forschung immer wieder zitiert, doch als Hinweis auf die Aufgabe, die emotionale Wirkung von Kafkas Texten genauer zu analysieren, kaum aufgegriffen worden. Es bleibt nach wie vor zu klären, was der Autor mit welchen literarischen Techniken mit den Emotionen der Leser zu machen versucht, was seine Leser dabei faktisch mit sich machen lassen und warum sie das gerne tun. Denn sie werden in der Regel nicht zur Kafka-Lektüre gezwungen, sondern lesen freiwillig.9 Literaturverzeichnis Anz, Thomas: Jemand mußte Otto G. verhaftet haben ... Kafka, Werfel, Otto Gross und eine »psychiatrische Geschichte«. In: Akzente 31 (1984) H. 2. S. 184-191. - Franz Kafka. München 1989. - Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 1998. - (Hrsg.). In Zsarb. mit Christine Kanz: Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz. Würzburg 1999. Beharriel, Frederick J.: Kafka, Freud and Das Urteil. In: Texte und Kontexte. 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