U rsprünglich wurde ein Virus als Erreger der transmissiblen spongiformen Enzephalopathien (TSE) vermutet, zu denen Scrapie beim Schaf, BSE beim Rind und höchstwahrscheinlich auch die neue Variante der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (vCJD) beim Menschen zählt. Schon bei Scrapie fiel jedoch auf, dass die Erreger erstaunlich widerstandsfähig waren gegen ionisierende Strahlung oder andere Methoden, welche Nukleinsäuren zerstören. Nukleinsäuren, also RNA oder DNA, sind unabdingbarer Bestandteil von Viren. Hinzu kam, dass niemals auch nur Spuren von Nukleinsäuren in den betroffenen Hirnarealen nachgewiesen werden konnten. Dafür aber umso mehr präzipitierte Proteine, welche für die neuropathologischen Strukturen im Gehirn verantwortlich waren, die Jakob 1921 und Creutzfeldt 1920 als erste aufgefallen waren. Der Amerikaner Stanley Prusiner hat als erster aus der Not eine Tugend gemacht und die Proteine zum Erreger erklärt. Er nannte sie kleine „proteinaceous infectious particles“ (Prione), wofür er 1997 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde. Heute nehmen die meisten Experten an, dass Prione die gesuchten Erreger der TSE sind. Die Besonderheit der Prione besteht darin, dass sie sich von einem normalerweise im Gehirn vorkommenden Protein kaum unterscheiden. Dieses Protein, PrP(C) genannt, befindet sich auf der Oberfläche von Neuronen. Seine Aufgabe ist noch nicht bekannt. Es ist aber wichtig für die normale Funktion des Gehirns, denn GenTiere ohne das normale PrP(C)-Protein erkranken schwer. Diese KnockoutTiere erkranken jedoch niemals an TSE, unabhängig davon, wie viele krankheitsspezifische Prionproteine PrP(sc) man ihnen in das Gehirn injiziert. Deshalb glauben die Wissenschaftler, dass normales PrP(C) im Gehirn vorhanden sein muss, um eine TSE auszulösen. Nach der „Protein only“-Hypothese führt das Zusammentreffen von pathologischem PrP(sc) und normalem PrP(C) dazu, dass das PrP(C)-Molekül seine Konformation ändert und zum PrP(sc) wird. Das entstandene PrP(sc) kann dann weitere PrP(C) in die PrP(sc)Konformation zwingen und so eine Kettenreaktion auslösen. Der Prozess führt schließlich zur Ablagerung von „schwer verdaulichem Proteinmüll“ im Gehirn und zu den bekannten neuropathologischen Veränderungen (Untergang von Nervenzellen, Vermehrung von Astrozyten, spongiforme Verände- rungen). Die Diagnose der TSE gelingt meistens erst nach dem Tod. Einen spezifischen Labormarker gibt es nicht. Auch eine frühzeitige Immunreaktion, die – wie bei Virusinfektionen – mit der Bildung von Antikörpern einhergehen würde, findet vermutlich nicht statt. Dies dürfte daran liegen, dass der Erreger sich von einem normalen Bestandteil nur in der dreidimensionalen Gestalt, der Konformation, unterscheidet, nicht aber in der Zusammensetzung der Proteine, also der Ami- nosäuresequenz. Auch die von den Forschern angefertigten monoklonalen Antikörper erkennen beide Varianten des Proteins. Es gibt aber Bemühungen, Antikörper zu finden, die spezifisch an das krankheitsauslösende PrP(sc) binden. Bindungsstelle könnten Abschnitte des Proteins sein, die sich in der PrP(sc)-Konformation an der Oberfläche befinden, beim PrP(C) aber im Innern verdeckt sind. Dennoch ist auch mit den jetzigen monoklonalen Antikörpern eine Unterscheidung von PrP(C) und PrP(sc) möglich. Die bisherigen Tests nutzen dabei die unterschiedlichen biologischen Eigenschaften von PrP(C) und PrP(sc) aus. Der Erreger PrP(sc) ist nämlich äußerst widerstandsfähig gegen die enzymatische Zersetzung durch Proteinasen. In den BSE-Schnelltests der Firma Prionics (und auch in den beiden Konkurrenztests) wird das homogenisierte Gewebe zunächst mit Proteinase versetzt. Dadurch werden die normalen PrP(C)Moleküle zersetzt, während die PrP(sc) P O L I T I K AA 3314 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 49½½½½8. Dezember 2000 Prionen-Forschung und -Diagnostik Vom BSE-Schnelltest bis zum Nachweis von Prionen im Blut Eine Übersicht über den derzeitigen Stand der Wissenschaft und mögliche Diagnoseverfahren Medizinreport Für den BSE-Schnelltest wird ein etwa 0,5 Gramm schweres Stück Gewebeprobe mit einer speziellen Flüssigkeit homogenisiert. Foto: dpa weitgehend intakt bleiben (Grafik). Mithilfe der Elektrophore werden beide Proteine dann getrennt. Die PrP(sc) wandern mit andern Proteinen gleicher Größe dann bis zu einem bestimmten Punkt, wo sie dann mit Antikörpern nachgewiesen werden. Die PrP(C)Bruchstücke befinden sich an anderer Stelle des Elektrophorese-Gels, das vor der Markierung mit Antikörpern abgeschnitten wird. Nach Angaben der Firma Prionics, deren Schnelltest in Deutschland hauptsächlich angewendet wird, liegen Sensitivität und Spezifität bei 100 Prozent. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jeder Fall von BSE auch erkannt wird. Voraussetzung für ein positives Ergebnis ist, dass sich bereits eine gewisse Menge PrP(sc)-Präzipitate im Gehirn abgelagert haben. Dies ist erst im Endstadium der Erkrankung, bei Rindern frühestens nach 20 Monaten, der Fall. Vorher müssen PrP(sc) bereits im Körper vorhanden sein – auch im Blut, denn ein anderer Weg vom Gastrointestinaltrakt (wohin die Prionen mit der Nahrung zunächst gelangen) in das Gehirn ist kaum möglich. Damit wäre aber ein Szenario denkbar, in dem Menschen, die heute bereits an vCJD erkrankt sind, als Blutspender eine große Anzahl anderer Menschen infizieren. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass es in den 70er- und 80er-Jahren vereinzelt Fälle einer iatrogenen Übertragung von Prionen gegeben hat. Leukozytendepletion als Risikovorsorge bei Blutspenden Bis 1987 erkrankten (vor allem in Japan) über 80 Menschen nach der Transplantation von kontaminierter Dura mater an einer sporadischen Form der CJD. Weitere 55 Kinder erkrankten an der sporadischen CJD in Frankreich, den USA und Großbritannien nach der intramuskulären Injektion von Wachstumshormonen. Das infektiöse Material stammte aber jeweils aus menschlichen Gehirnen (Dura mater, Hypophyse). Eine Übertragung durch Bluttransfusionen hat es bisher nicht gegeben, auch nicht bei Patienten, die nachweislich Blutspenden von CJD-erkrankten Menschen erhalten haben. Dennoch hat die FDA schon 1987 alle Empfänger von menschlichen Hirnprodukten (also etwa Wachstumshormonen) von der Blutspende ausgeschlossen. Nach Bekanntwerden des ersten Falles einer vCJD in Großbritannien hat die FDA als Erste reagiert. Seit August 1999 sind alle Personen, die sich zwischen 1980 und 1996 länger als sechs Monate in Großbritannien aufgehalten haben, von der Blutspende ausgeschlossen. Andere Länder wie Kanada, Neuseeland und Japan haben sich dieser Maßnahme inzwischen angeschlossen. Anfang November forderten der Arbeitskreis Blut vom Robert Koch-Institut (RKI) und das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) ein ähnliches Verbot für Deutschland. Außerdem wurden alle Blutspendedienste aufgefordert, bereits jetzt eine Leukozytendepletion in Blutspenden durchzuführen, wofür ihnen bisher (aus Kostengründen) bis zum 1. Oktober 2001 Zeit gelassen wurde. Die Leukozytendepletion entfernt die weißen Blutkörperchen aus dem Blut. Das Verfahren sollte ursprünglich die Verträglichkeit von Blutspenden verbessern. Inzwischen wird aber diskutiert, dass PrP(sc) möglicherweise mithilfe von Leukozyten ins Gehirn gelangen könnten. Großbritannien hat die Leukodepletion bereits im Juli 1998 eingeführt. Im Mai dieses Jahres beschloss man, britische Spender nicht mehr für die Herstellung von Plasmaprodukten zu- zulassen. Aufgeschreckt wurden Transfusionsmediziner Ende September durch einen Bericht im Wissenschaftsmagazin Lancet. Britischen Forschern war es gelungen, ein Schaf durch eine Bluttransfusion eines anderen Schafes mit TSE zu infizieren. Das Blut stammte von einem BSE-infizierten Schaf. BSE führt beim Schaf zu ähnlichen Zeichen wie vCJD beim Menschen. Anders als BSE beim Rind, Scrapie beim Schaf und die sporadische CJD beim Menschen, ist bei BSE des Schafes und bei der vCJD nicht nur das Gehirn befallen. PrP(sc) ist auch in anderen lymphoretikulären Organen wie Tonsillen und Appendix vorhanden – und offensichtlich auch im Blut in ausreichender Konzentration, um eine Erkrankung auszulösen. Bisher gibt es keinen Hinweis, dass einer der vCJD-Erkrankten in Großbritannien sich durch eine Bluttransfusion angesteckt haben könnte. Dennoch besteht dringender Bedarf an einem Test. Die bisherigen Methoden sind hierfür nicht sensitiv genug, es gibt jedoch mehrere Ansätze. Am weitesten ist nach einem Bericht von Lancet Mary Jo Schmerr vom National Animal Disease Center in Dayton im US-Staat Iowa. Ihr gelang es mit Hilfe von organischen Lösungsmitteln und einer speziellen Chromatographie, die Erreger im Blut so stark zu konzentrieren, dass sie mit einem Western-Blot nachweisbar waren. Mit dem Test wurden Prionen im Blut von Schafen und Elchen (sie erkranken ebenfalls an einer Prionenerkrankung, dem chronic wasting syndrome) nachgewiesen. Laut Lancet wäre der Test im Prinzip auch für vCJD anwendbar. Noch sensitiver wäre möglicherweise ein Test, den Forscher des Max-PlanckInstituts für Biophysikalische Chemie P O L I T I K Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 49½½½½8. Dezember 2000 AA 3315 BSE-Schnelltest: Die verflüssigte Gewebeprobe wird einer Protease-Behandlung unterzogen, bei der PrP(C) zerstört wird (Kolben 2 und 4, Kolben 1 und 3 sind unbehandelt). Das verdauungsresistente Prionprotein PrP(sc) wird nun in einem Immunoblotting-Verfahren nachgewiesen. Grafik: Prionics entwickelt haben. Dabei werden die Prionen mit fluoreszierenden Antikörpern markiert. Die entsprechende Farbreaktion kann mit einem Laserlicht induziert und gemessen werden. Nach einer Pressemitteilung der Klinik können sogar einzelne Prionen in Körperflüssigkeiten nachgewiesen werden. Im Liquor von an CJD erkrankten Patienten wurden so bereits Prionen nachgewiesen. Unklar ist die Bedeutung der Ergebnisse, die Adriano Aguzzi und Mitarbeiter am Universitätsspital Zürich in Nature vorstellten (23. Oktober 2000). Die Gruppe überzog kleine Magnetkügelchen mit verschiedenen Plasmaproteinen, um festzustellen, an welchen Eiweißen Prionen bevorzugt binden. Dabei stellte sich überraschend heraus, dass Plasminogen selektiv pathologisches PrP(sc), nicht aber normales PrP(C) bindet. Diese Erkenntnis könnte nun zur Entwicklung eines Tests führen. Die Methode wäre im Prinzip sogar geeignet, um infizierte Blutproben vom Erreger zu trennen. Von einem klinischen Einsatz ist die Methode aber noch weit entfernt. Die Studie wurde mit Prionen aus Mäusehirnen durchgeführt. Es ist noch nicht sicher, ob die vCJD-Prionen ebenfalls erkannt werden. Möglich ist auch, dass die Prionen im Blut sich von denen im Gehirn unterscheiden. Dennoch: Ein Bluttest wäre ein großer Fortschritt, und sei es, um die gegenwärtige Unsicherheit bezüglich einer möglichen Epidemie zu klären. In Ermangelung eines Tests prüfen britische Forscher, ob sich Erreger in 18 000 archivierten Gewebeproben von Appendizes und Tonsillen finden. Dabei finden herkömmliche immunhistochemische Verfahren Anwendung, die nicht sehr sensitiv sind. Aber 1998 waren bei einem Patienten mit vCJD mit dem Test Prionen in den Tonsillen entdeckt worden. Der Patient war acht Monate vor dem Ausbruch der Krankheit tonsillektomiert worden. Bisher handelt es sich um einen Einzelfall. Unter den 3 170 Proben, die Mitte des Jahres ausgewertet waren, wurden keine weiteren Infektionen gefunden. Dies ist zwar beruhigend, schließt aber wiederum nicht aus, dass eine Epidemie größeren Ausmaßes bereits begonnen hat. Rüdiger Meyer AA 3316 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 49½½½½8. Dezember 2000 N ach der Einschätzung pessimistischer Experten der medizinischen Wissenschaft sind etwa 80 Prozent aller ärztlichen Entscheidungen eher subjektiv-intuitiv geprägt und überwiegend aus der Praxis abgeleitet als wissenschaftlich und objektivierbar begründet. Vielfach stehen die notwendigen Informationen und Handlungsanleitungen nicht spontan und unmittelbar zur Verfügung, um die richtige, dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens entsprechende Entscheidung zu treffen. Zudem wächst die Informationsfülle stetig und exponentiell, sodass dringend Orientierungs- und Entscheidungshilfen notwendig sind, um Durchblick im Dschungel der medizinischwissenschaftlichen Informationen zu gewinnen. Denn jedes Jahr werden in Abertausenden von Fachzeitschriften mehrere Millionen von Fachartikeln veröffentlicht. Auch wissensbeflissene Ärzte und Wissenschaftler blicken hier nicht mehr durch. Deshalb haben Wissenschaftler in Großbritannien und in Kanada die Methode der evidenzbasierten Medizin (EbM) entwickelt, um mithilfe wissenschaftlicher, objektivierbarer und überprüfbarer Studien und auf anerkannte Nachweise gestützt eine „gute“ Medizin zu entwickeln (möglichst standardisiert). Auf ihrer Basis soll es dem Arzt ermöglicht werden, eine möglichst hochstehende Medizin nach dem aktuellen Wissensstand zu praktizieren, ohne selbst jeden Tag viele Stunden neueste Untersuchungen zu studieren, zu prüfen und daraus praktische Handlungsanleitungen zu gewinnen. Der weltweite Trend, evidenzbasierte Medizin in der Praxis zu implementieren, und die Tatsache, dass auch in Deutschland EbM nach einiger zeitlicher Verzögerung inzwischen auf fruchtbaren Boden fällt, waren Anlass für das 2. Symposium über „Evidenzbasierte Medizin“ (veranstaltet von der Ärztekammer Berlin, dem Deutschen Netzwerk EbM und der Bundesärztekammer) Anfang Oktober in Berlin und für einen Meinungsaustausch über die Voraussetzungen, die Möglichkeiten und Grenzen der evidenzbasierten Medizin. Die meisten EbM-Befürworter berufen sich zwar auf die umfassende Definition des Pioniers der evidenzbasierten Medizin, David Sackett, der diese bereits in den 80er-Jahren begründete. Unter dem Begriff „evidenzbasierte Medizin“ subsumieren die Experten dennoch zum Teil gegensätzliche und nur wenig deckungsgleiche Inhalte und Folgerungen. Sacketts Definition Ministerialdirektor Dr. med. Hermann Schulte-Sasse, Leiter der Abteilung „Gesundheitsversorgung, Krankenversicherung“ im Bundesgesundheitsministerium, Bonn, erinnerte an die Definition von Sackett: „Wir verstehen heute darunter den bewussten, expliziten und vernünftigen Einsatz der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Evidenzbasierte Medizin zu praktizieren, bedeutet, die individuelle klinische Erfahrung mit den besten zur Verfügung stehenden externen Nachweisen aus der systematischen Forschung zu integrieren.“ EbM ist also ein Instrument der Objektivierung und Entscheidungsfindung. Sie kann zum Zeitgewinn des stets unter Zeitnot arbeitenden Arztes beitragen T H E M E N D E R Z E I T Evidenzbasierte Patientenversorgung Ein rationales Entscheidungsinstrument In Berlin diskutierte ein Expertenkongress über Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen der EbM. und ist geeignet, die Qualität der medizinischen Behandlung zu belegen und zu verbessern. Sie hat auch in Deutschland bereits eine lange Tradition; sie hat sich bewährt und ist im Alltag unverzichtbar, so das Bekenntnis von Dr. med. Rüdiger Pötsch, Allgemeinarzt aus Mühldorf/Inn, Mitglied des Vorstandes der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Dr. med. Günther Jonitz, Initiator und maßgeblicher Gestalter des Berliner Symposiums, Präsident der Ärztekammer Berlin, umschrieb die Botschaft der evidenzbasierten Medizin, indem er den Patienten mit einbezog: „EbM stellt die systematische Verbindung primärärztlicher Tugenden des ärztlichen Erfahrungsschatzes, des Wissens und Könnens ebenso wie deren klare Patientenorientierung durch Anamnese und Status, mit der Bewertung wissenschaftlicher Informationen und unter Einschluss epidemiologischer Erkenntnisse dar.“ Nach diesen Definitionen ist die evidenzbasierte Medizin systemneutral und unabhängig von jedweden politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Blickwinkeln. Dennoch ist es vor allem im deutschen Gesundheitswesen Usus, EbM-basierte Medizin ebenso wie medizinische Leitlinien nicht nur als Instrumente zur Entscheidungsfindung zu empfehlen, sondern sie auch zu instrumentalisieren. Es sei deshalb nicht überraschend, so Schulte-Sasse, dass sich mit evidenzbasierter Medizin unterschiedliche Hoffnungen und Erwartungen, aber auch Vorbehalte, Ablehnung und Ängste verbinden können. Der Ministerialbeamte wies darauf hin, dass Krankenkassen ebenso wie Politiker die Ärzteschaft oftmals mit EbMVerfahren konfrontieren, wenn sie daran gemessene Über-, Fehl- und Unterversorgung als ineffizienten Umgang mit knappen Ressourcen thematisieren und Ansprüche zurückweisen, noch mehr Geld ins System zu stecken. Andererseits sei es bei medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften und Interessenvertretungen der Vertragsärzte üblich, mithilfe der EbM nach Einschränkungen des Pflichtleistungskatalogs der Gesetzlichen Krankenversicherung zu rufen und um Obsoletes, Überschießendes und individuell Wählbares zu reprivatisieren und um individuelle Gesundheitsleistungen privatärztlich anbieten zu können. Schulmediziner bezichtigen alternativmedizinisch orientierte Ärzte, sich von der objektivierbaren, akzeptablen Grundlage des ärztlichen Handelns, nämlich der Wissenschaftlichkeit und damit der EbM, verabschiedet zu haben und nur noch „Schamanismus“ oder sogar „Scharlatanerie“ zu betreiben. Vor allem die Kassenärzte fürchteten die EbM als ein vereinfachendes, standardisierendes Verdikt, um Unwirtschaftlichkeiten aufzudecken, sie mit Regress zu bedrohen, um so die berufliche Unabhängigkeit und medizinische Entscheidungsfreiheit einzu- schränken. Keine Kochbuchmedizin Von diesen Extrempositionen war jedoch beim Kongress wenig zu vernehmen. Übereinstimmung gab es aber bei einem Axiom: Evidenzbasierte Medizin ist keine praktische Anleitung für eine „Kochbuchmedizin“, sondern sie propagiert vielmehr eine Integration von individueller klinischer Erfahrung und der besten zur Verfügung stehenden Evidenz aus medizinischer Forschung und Erkenntnis. Die Protagonisten des neuen „Handlungs- und Glaubensbekenntnisses“ EbM weisen zudem darauf hin, dass die beste zur Verfügung stehende Evidenz im Idealfall aus randomisierten kontrollierten Studien und Doppelblindversuchen stammt, aber auch – je nach Situation – aus anderen Quellen abgeleitet werden könne. Evidenzbasiertes ärztliches Handeln ist in jedem Fall individuell und relativ, lässt sich auch nicht durch ausgeklügelte Instrumente beschränken und auf eine Linie bringen. Vielmehr, darin waren sich die Experten einig, ist das ärztliche Handeln oftmals stark beeinflusst von individuellen Präferenzen und von Schulmeinungen, die sich von Akteur zu Akteur erheblich unterscheiden können. Deshalb ist „richtiges“ Handeln bei vielen individuellen Entscheidungssituationen nicht standardisierbar und zwangsläufig, sondern hängt ab von den ambivalenten Bewertungen der Betroffenen, so eine Quintessenz des Kongresses. Allerdings kann das dazu führen, so der Hinweis von Prof. Dr. Dr. med. Günter Ollenschläger, Köln, dass festgefügte medizinische Schulmeinungen und einseitige Handlungskonzepte, wenn sie nicht einer Qualitätsverbesserung und einer optimalen Patientenbehandlung dienen, durch Einsatz evidenzbasierter medizinischer Maßnahmen ins Leere laufen oder übergangen werden. In jedem Fall sind evidenzbasierte Medizin und medizinische Leitlinien Instrumente, um mehr Rationalität und Qualität in die medizinische Versorgung zu bringen. EbM ist ein unterstützendes Instrument und dient als Prüfraster, um zu entscheiden, welche Leistungen innerhalb eines Leistungssystems (GKV/PKV) erbracht und finanziert werden sollen. Die Methoden der evidenzbasierten Medizin knüpfen systematisch an der besten verfügbaren externen Evidenz an. In der Gesetzlichen Krankenversicherung wird diese Methode instrumentalisiert, um sie im Rahmen des Leistungsrechts der GKV zu implementieren und gesetzlich zu fundieren (§§ 2, 12 und 70 SGB V). Im Sozialgesetzbuch V wird postuliert, jedem gesetzlich versicherten Patienten stehe ein umfassender gesetzlicher Anspruch auf qualitativ hochwertige Leistungen zu, die dem jeweiligen aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnis entsprechen. Erstmals AA 3318 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 49½½½½8. Dezember 2000 T H E M E N D E R Z E I T Regina Kunz, Günter Ollenschläger, Heiner Raspe, Günther Jonitz, Friedrich-Wilhelm Kolkmann (Hrsg.): Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis, Schriftenreihe der Hans-Neuffer-Stiftung, Köln, Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, Köln, 2000, 432 Seiten mit 20 Abbildungen und 74 Tabellen, broschiert, 78 DM ist im „GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000“ in § 137 e SGB V gesetzlich vorgeschrieben worden, dass ein Koordinierungsausschuss (der noch nicht gegründet ist) auf der Grundlage evidenzbasierter Leitlinien Kriterien für eine zweckmäßige und wirtschaftliche Leistungserbringung für mindestens zehn Krankheiten pro Jahr beschließen soll, bei denen Hinweise auf Unter-, Überoder Fehlversorgung bestehen. Ein Dilemma Die Leiterin der Stabsstelle „Grundsatzfragen der medizinischen Versorgung/ Leistungen“ der Ersatzkassenverbände, Dr. med. Elke Herz, Siegburg, postulierte: „Evidenzbasierte Medizin ist eine Methode, die auf den Grundsätzen der klinischen Epidemiologie basiert. Diese biostatistisch-epidemiologische Betrachtungsweise bedingt eine Messbarkeit von Untersuchungswerten. Allerdings gibt es eine Vielfalt von medizinischen Bereichen, die sich nur schwer quantifizieren lassen.“ Die Ersatzkassen-Sprecherin ebenso wie Pötsch als Repräsentant der KBV verwiesen auf die Arbeit des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, der schon seit mehr als zehn Jahren auf EbMKriterien bei der Entscheidungsfindung zurückgreife. Herz behauptete, dass für die meisten Dienstleistungen im Gesundheitsbereich „nur eine mäßige oder gar überhaupt keine wissenschaftlich begründete Evidenz“ vorliege. Nur für etwa zehn bis 20 Prozent aller medizinischen Verfahren lägen beispielsweise randomisierte Doppelblindstudien vor. Pötsch, Mitglied des Arbeitsausschusses „Ärztliche Behandlung“ (gegründet 1997) des Bundesausschusses, wies auf ein Dilemma hin: Zwar bediene sich der Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen der Bewertungs- und Prüfkriterien, die den Methoden der EbM entsprechen, doch spielen vielfach in die Entscheidungsfindung auch politische und wirtschaftliche Überlegungen hinein (Beispiel: Ablehnung der Kostenübernahme durch die Krankenkassen bei Verordnung von Viagra, obwohl dieses Präparat medizinisch indiziert wäre). In jedem Fall sei es geübte Praxis des Bundesausschusses – und dies im Konsens mit der Kassenärzlichen Bundesvereinigung und den Spitzenverbänden der Krankenkassen –, dass medizinische Verfahren anhand der Qualität der Wirksamkeitsnachweise überprüft werden müssen. Die beiden anderen gesetzlich vorgeschriebenen Kriterien – die Einhaltung der Notwendigkeit und der Wirtschaftlichkeit – können jedoch ohne Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit eines Verfahrens nicht erfüllt werden. Dr. rer. pol. Harald Clade AA 3320 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 49½½½½8. Dezember 2000 T H E M E N D E R Z E I T KOMMENTAR rztinnen und Ärzte werden durch eine evidenzbasierte Medizin (EbM) in die Lage versetzt, sich selbst die wissenschaftlichen Informationen zu besorgen, zu bewerten und relevante Erkenntnisse in die Behandlung der Patienten einzubringen. Gegebenenfalls kann der Arzt begründen, warum er etwas nicht tut. Sie werden aufgefordert, ihr eigenes Handeln, ihre Ergebnisse kritisch zu hinterfragen und gleichzeitig Wege zu finden, kontinuierlich auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Ziel der evidenzbasierten Medizin ist die optimale Diagnostik und Therapie auf dem Boden weitgehend gesicherter Erkenntnisse oder – wo keine brauchbaren Studien vorliegen – das Erkennen der Relativität des ärztlichen Handelns. Mithilfe der EbM kann der Arzt die Qualität von Fortbildungsveranstaltungen und von wissenschaftlichen Originalarbeiten erkennen und bewerten. Folge: Keine Resignationen mehr angesichts der Flut an wissenschaftlichen Informationen. Er kann mit Kollegen erfolgreich diskutieren, ob eine bestimmte Therapie oder diagnostische Maßnahme für die Patienten relevant ist. Die ärztliche Freiheit wird durch gesichertes Wissen gestärkt. Ihr ärztliches Können bleibt dauerhaft gut. Als Mitverantwortlicher für die Organisation im Gesundheitswesen profitiert der Arzt durch die bessere Erkenntnis darüber, welche medizinischen Maßnahmen sinnvoll, angemessen und notwendig und damit bezahlbar sind. Gibt es zu bestimmten Fragen keine gesicherten Erkenntnisse, wird offenkundig, wo gezielte klinische Forschung fehlt. Wo es keine objektive Wahrheit gibt, wird zumindest die Grauzone der Entscheidung offenbar; die Wahrhaftigkeit nimmt zu. Evidenzbasierte Medizin stellt die Abkehr von der bisherigen autoritär gesteuerten Medizin dar. Durch den konsequenten Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse sind Fehlsteuerungen durch einzelne Personen erschwert. Durch den klaren Bezug auf patientenbezogene Ergebnisse werden die Humanität und Ethik im Gesundheitswesen gestärkt und die Glaubwürdigkeit von Arzt und Wissenschaft erhöht. Evidenzbasierte Medizin führt zu einer Neuorientierung, und zwar in Richtung eines lernenden Systems, das sich daran misst, wovon der Patient einen konkreten Nutzen hat. Der EbM-praktizierende Arzt sollte nach David Sackett vier Grundanforderungen erfüllen: erstens die Beherrschung der primären ärztlichen Tugend, Anamnese und klinischen Status zu erheben. Ohne diese wird der Arzt nicht wissen, was für die Patienten und für den Arzt im Vordergrund steht und wo am besten mit der Behandlung begonnen wird. Auch das Wissen ersetzt nicht das ärztliche Können. Zweitens: die Bereitschaft, ein Berufsleben lang selbstständig zu lernen und sich fortzubilden – wenn nicht, wird das Wissen schnell veraltet sein. Drittens: die Bewahrung der ärztlichen Demut, sonst fällt der Arzt vermeintlichen Höhenflügen oder Fortschritten in der Medizin zum Opfer. Der Arzt sollte vor allem mit Begeisterung, aber auch mit Respektlosigkeit an die Sache herangehen, denn ohne diese würde ihm der Spaß entgehen, der mit den Inhalten und Geisteshaltung der evidenzbasierten Medizin verbunden ist. Dr. med. Günther Jonitz Präsident der Ärztekammer Berlin Evidenzbasierte Medizin Vier Gebote Ä