Jakob Jehlitschka ist fünf Jahre jünger als ich, debütierte aber im selben Jahr mit einem autobiographischen Büchlein über seine Großmutter, das bald Schullektüre wurde. Ich fand damals, daß er seinem rührenden, stolzen und traurigen Buch auf rührende und traurige Weise glich. Er hatte hervortretende braune Augen, die wie tastend ständig in Bewegung waren, und lächelte ständig mit seinen großen, nach innen stehenden Schneidezähnen, was seinem Ausdruck etwas Verschrecktes gab. Er war groß und dünn, ohne Hintern, ohne Hinterkopf. Er selbst leitete seine Schüchternheit nicht von der kläglichen Physis ab, sondern von einer dramatischen Kindheit. Diese Kindheit machte ihn berühmt, solange er sie als Märchen erzählte. Aber der Reihe nach. Die Großmuttergeschichte ging, kurzgefaßt, so: Jakobs böhmische Eltern verschwanden in den Wirren des Kriegsendes. Der Vater war verschollen, die Mutter floh nach Sachsen, wo sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Der fünfjährige Knabe landete im Heim. Jakob litt, natürlich unter Einsamkeit und Verrat, dann unter Kälte und Hunger. Am meisten aber - das verriet er mir später, es stand nicht im Büchlein -, am meisten litt er unter der Grausamkeit seiner Mitschüler. Er habe nie begriffen, daß diese einsamen, verwaisten oder abgeschobenen Kinder nicht zusammenhielten, sondern einander folterten. Das ist das Thema seines Lebens geblieben. Wann immer er sich davonstehlen konnte, ging der kleine Jakob in den Klostergarten und starrte durch ein Mauerloch auf die Felder hinaus, da der Anblick von Weite ihn tröstete. Einmal an einem kalten, trüben Tag erspähte er unverhofft durch dieses Loch seine tschechische Großmutter. Er rief, doch sie verschwand im Nebel. Er meinte zu sterben. Aber dann setzte er sich in Bewegung und rannte die Mauer entlang bis zur Pforte. Die Frau bog um die Ecke und schloß ihn in die Arme. Es war wirklich die Großmutter. Sie hatte die Adresse des Heims herausgefunden und war, krank und schwer, auf geschwollenen Füßen aus ihrem Dorf vom böhmischen Erzgebirgskamm herabgekommen, um den Enkel zu holen. Der Direktor verlangte Bescheinigungen, die sie nicht hatte, und dieses Gespräch war besonders lustvoll erzählt: Wie der Direktor zunächst herablassend, dann heuchlerisch freundlich, zuletzt schroff ablehnte, bis die Oma eine Teigrolle unterm Rock hervorzog und auf den Tisch hieb. Wieso hatte das geholfen? »Ach, Mächtige sind immer feige, je mächtiger sie sind, desto mehr.« Stimmt das? Und konnte ein Fünfjähriger es verstehen? Woher kam die Teigrolle? Symbol? Für was? Diese Fragen leiteten später Jakobs zornige Phase ein, doch in der Märchenfassung zieht er ganz selbstverständlich mit Oma auf die tschechische Seite des Gebirges, und das Buch wird zur Abenteuergeschichte: Sie fahren auf der Ladefläche eines Lasters hinauf ins kalte Oberwiesental, übernachten bei ängstlichen Leuten, dann geht es per Pferdefuhrwerk nach Gottesgab, von dort zu Fuß unter dem Kamm entlang gegen den Wind, harter Schnee wie Nadeln im Gesicht, Zähne taub, Kälte zerschneidet die Finger, er schreit. Oma hüllt ihn in ihren Schal. Es folgen einige Jahre in diesem Ort mit Schneestürmen, Hochmooren und Falkenschrei, wo der kleine Jakob das Spitzenklöppeln lernt, um seine Oma, die Handschuhnäherin, zu unterstützen. Am Schluß bringt die Oma das Kind zurück zur Mutter, die inzwischen aus dem Gefängnis entlassen wurde. In der Geschichte hat Oma Krebs und begreift, daß sie den Buben bald nicht mehr wird versorgen können. Sie liefert ihn bei der ungeliebten Schwiegertochter ab, vergießt Ströme von Tränen über seinem Scheitel, schultert ihr Bündel und entschwindet auf geschwollenen Füßen im Nebel, so wie sie aufgetaucht war. HO in Ich habe es nur quergelesen. Erwachsene Schriftsteller verachteten das Buch. Ich erinnere mich an eine Kneipenrunde in Berlin, Jakob zum ersten Mal an einem Tisch mit mehreren arrivierten Literaten, naiv und verschämt. Meine Kollegen aus dem Johannes R. Becher-Institut hatten schon allerlei publiziert und übertönten die Zweifel an der eigenen Bedeutung mit ironischen Klassiker-Diskussionen - Was bleibt von wem? Fast alle waren die üblichen moralischen Kompromisse eingegangen, mit den üblichen künstlerischen Verlusten. Der sarkastische Weinreich mit den starren hellblauen Augen hinter spiegelnden Brillengläsern hatte sich in einen windelweichen Radioredakteur verwandelt, der elegante Elkin mit dem sonor-skrupulösen Ton und den zartbitteren Stirnfalten in einen Akademiker von bemerkenswerter intellektueller Schlüpfrigkeit. Nur ich hatte meine Studentenrolle beibehalten: das rüpelige Originalgenie. Ich sage: Rolle, weil ich schon damals zu ahnen begann, daß auch ich Erwartungen erfüllte. Mein unpolitischer Mißmut wurde vom Publikum als Protest gelesen. Vielleicht beruhte mein Erfolg sogar darauf, daß ich Feiglingen Erleichterung verschaffte - am Ende noch mit Billigung des Regimes, das wußte, wie wichtig für den verordneten Optimismus das Ventil des Selbstmitleids war. Jedenfalls haben die Feiglinge, denen ich vor der Wende Erleichterung verschaffte, mich nach der Wende nicht mehr gebraucht. Ein Westpolitiker sagte so jovial wie verständnislos zu mir: »Jetzt leben Sie in Frieden und Freiheit, können Sie da nicht etwas fröhlicher dichten?« Jakob traf ich zu Beginn meiner großen Jahre. Ich war selbstbewußt, Preisträger, Familienvater, stolz auf mein Ausdrucksvermögen. Paradoxes Glück: Als Dichter der Melancholie fühlte ich mich wohl, als Verzweifelter unabhängig. Privat hielt ich mit meiner Kritik am Regime nicht hinterm Berg. Leute wie Weinreich und Elkin, die als Studenten ähnlich geredet hatten, lächelten inzwischen geniert oder besorgt, je nachdem, wer mit am Tisch saß. Mir war's gleich, ich schimpfte und beobachtete dabei ihr Mienenspiel: den raschen Wechsel von Genugtuung und Erschrecken, Mitleid und Schadenfreude, Dankbarkeit und Heuchelei. Nur Jakob schien über meine Reden aufrichtig empört. Er war nicht nur wie wir alle Parteigenosse, sondern sogar Parteisekretär, er wollte die DDR verbessern durch Anstand und behutsame Kritik. Ich gab zu bedenken, daß Regierungen, die sich der Kontrolle der Untertanen entzögen, nicht therapierbar seien. Weinreich und Elkin verabschiedeten sich hüstelnd. Jakob arbeitete als Geodät in der Stadt Zittau. Von Zittau, das über einem JBraunkohleflöz liegt, hieß es, wer im Garten einen Baum pflanze, könne mit der gehobenen Erde seinen Kachelofen heizen. Inzwischen war die Stadt marode, von Tagebau eingeschlossen, eine traurige Insel in brauner Mondlandschaft. Jakob vermaß die Fördergebiete. Einmal besuchte ich ihn dort. Die Honorare machten ihn unabhängig, aber er nutzte es nicht. Er lebte mit einer unwirschen älteren Frau im zugigen Kontor einer ehemaligen Tuchfabrik und wirkte tapsig und kleinmütig. Er schrieb nichts. Das triumphale Gebirge im Buch war anscheinend nie Wirklichkeit für ihn gewesen. Wogegen nichts einzuwenden wäre, wenn diese Phantasie ihn denn befreit hätte. Aber sie hatte ihn im Gegenteil zum Gefangenen gemacht. »Wie, es gab gar keine böhmische Großmutter?« »Doch, aber ... in einer Gegend, die gespickt war mit verlassenen Dörfern, Uranminen und Straflagern ... Darüber konnte ich doch nicht schreiben! Unser Haus grenzte ans Sperrgebiet...« »Ändert das die Geschichte?« »Nein - ja ...«, sagte er gequält. »Sie war sehr komplex. Ver- 112 "3 V steh doch - ich mußte mit der Zensur verhandeln - Kompromisse. So viele Kompromisse, daß ich selbst nicht mehr weiß ...« »Vielleicht bringst du's heraus? Warum fährst du nicht hin? Soll ich dich begleiten?« Böhmen interessierte mich, weil mein Vater als junger Mann dort zwei Jahre verbracht hatte. Jakob sprach Tschechisch und besaß ein Auto. »Ernestine mag nicht, wenn ich wegfahre«, murmelte er. »Lieber, wenn du in der gammeligen Oberlausitz festsitzt, bist du als Schriftsteller am Ende.« »Ich bin sowieso am Ende. Ich hatte nie wirklich Talent.« »Unsinn«, sagte ich ohne Uberzeugung. »Ach ... meinst du wirklich?« Meine Lüge setzte eine Entwicklung in Gang, die ich nie für möglich gehalten hätte. Zunächst mal erschütterte sie den Zittauer Hausfrieden, denn die Lebenskameradin wollte Jakob nicht ziehen lassen; er knirgelte, sie schimpfte, er begehrte auf, und plötzlich war die Trennung da - Jakob sagte später, daß ich seine Raupenzeit beendet hätte. Wir starteten in seinem! F8, einem Zweitakter, dessen Holzkarosse von einem Pilz befäilen war, zur großen Böhmenreise. Zunächst gefiel mir die Route, doch bald ärgerte mich Jakobs Systematik. Er hatte Listen mit Sehenswürdigkeiten erstellt und verließ keinen Ort, solange nicht jeder Punkt abgearbeitet war. Unser erklärtes Ziel, das böhmische Erzgebirge, schien er sogar zu meiden, lieber vergeudete er Stunden, um im unaussprechlichen Ort F. das Geburtshaus des unbedeutenden Schriftstellers K. zu finden, dessen Werke er im ächzenden F8 mitführte, nur um sie vor der häßlichen Garage zitieren zu können, die jetzt auf dem Platz der abgebrannten Kate stand. An dieser Stelle gerieten wir in einen Streit, den Jakob verlor. Als wir Richtung Erzgebirge fuhren, rief er fast lustvoll: »Du hast recht! Du hast recht! Unglaublich, was man mitmacht. Warum erdulden wir Sklaverei?« Wir knatterten an Most vorbei, zehn, zwanzig, dreißig Kilometer Tagebau, qualmende Schlote, Dunst, eine stinkende Wüstenei. Hinter Chomutov im Ohretal bog Jakob nach rechts ab und fuhr durch immer dichteren Nebel bergauf, bis ein Gewitter den F8 von der Straße spülte. Es gab keinen Schlag und keinen Sturz, wir merkten einfach, wie wir rutschten. Rausspringen? Was wäre schlimmer, naß in die dunkle Wildnis oder trocken in den Abgrund? Dann kam der Wagen zum Stehen, leicht schräg in einem, wahrscheinlich, Graben. Über und um uns dröhnender Regen wie ein Wasserfall. Ich war so beeindruckt, daß ich nicht schimpfte. Auch von Jakob, dessen Sorge um die Karre Dauerthema war, kein Schrei, kein Gejammer, kein Fluch. Er drehte am Zündschlüssel, der Motor erstarb. Wir saßen fest. Wir schwiegen, weil wir im Lärm ohnehin nichts verstanden hätten. Hinter den beschlagenen Fenstern wurde es grau, dann dunkelblau. Wir würden die Nacht hier verbringen müssen. Ich stopfte den Mantel zwischen meine Schulter und die kalte Scheibe. Jakob aber, der zwanghafte Planer, geriet in eine seltsame Euphorie. Er lachte und redete vor sich hin, »unglaublich!« und: »Allerhand!« »Manchmal hat man Glück!«, sagte er, als der Regen nachließ. »Ernestine hat sich in einen polnischen Fassadenkletterer verliebt, der die Mauern unserer Bude reparierte. Vielleicht hoffte sie, ich würde um sie kämpfen. Aber ich hatte nur einen Gedanken: möglichst schnell umziehen, damit ich sie nicht aufnehmen muß, wenn sie zurückkehrt.« »Wie hast du das ausgehalten?« »Ich habe mich immer gefügt. Entkam ich einer Bedrückung, geriet ich in die nächste. Es war ein Weg von Lüge zu Lüge. Die 114 "5 einzige, die mich nie verraten hat, war Omi.« Er schluckte. »Statt dessen habe ich sie - aber das -« Es wurde eine Nacht der Beichte. Wir saßen eingezwängt in dem engen Wagen, ohne einander anzusehen. Der linkische Jakob, der immer an allem das Beste sah, offenbarte sich als fragiler Held unendlicher Gewissensdramen. Der Anfang war mir bekannt: Vati verschwunden, Mutti im Knast - Jakob nannte sie wirklich so, wie um eine Vertrautheit zu beschwören, die es nie gegeben hatte. Mutti konnte mit ihm nichts anfangen, seitdem suchte er Anschluß um jeden Preis. Daß ein Preis zu zahlen war, begriff er rasch: Wer was gibt, will was dafür haben. Er gab Gehorsam. Er wurde enttäuscht. Jede Enttäuschung verstärkte den Gehorsam. Sein Musiklehrer, ein verehrungswürdiger alter Mann, der noch die Kaiserzeit erlebt hatte, gab dem halbwüchsigen Jakob den Auftrag, beim Schulfest auf dem Akkordeon zu improvisieren. Jakob, stolz auf das Vertrauen, baute zu Ehren seines Förderers die Melodie von Deutschland über alles ins Präludium ein, unauffällig, aber doch so, daß der es merken mußte. Plötzlich sah er: Der alte Herr starb vor Angst. »Tu so was nie wieder«, flüsterte der Alte später. Und dann etwas Überraschendes: »Sei klug wie die Schlange und ohne Falsch wie die Taube...« Was dachte Jakob? Er dachte: Feigling. Was tat er? Behandelte ihn noch ehrender als zuvor, damit der sich nicht schämen mußte. Schämte sich statt dessen selber. So ging es immer weiter. An der Hochschule wurde er Marxist. Zu seinen ersten Schreibversuchen ermunterte ihn ein Parteisekretär. Ein Idealist! Jakob war Feuer und Flamme. Der Idealist redigierte das Großmutter-Typoskript unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für die herrschende Partei. Die Lügen, die sich ergaben, ließ Jakob zu, obwohl er sie bemerkte. Er schämte sich für die Partei, und was tat er? Trat ihr bei. Was tat sein Förderer? Floh in die BRD. Jakob wurde selbst Parteisekretär. Er wollte es besser machen. So ging es immer weiter, von einem Gewissenskäfig in den nächsten, in seltsam beseeltem Ton. »Wie ist meine Bilanz?« hörte ich Jakob fragen, wohl im Traum, denn es war in einer Wüste. Ich erwachte, weil mein Kopf gegen die Scheibe fiel. Es wurde bereits hell. Vor uns schälte sich ein toter Baum aus der Dämmerung, rindenlos grau, Flechten wie Spinnweben zwischen den dürren Ästen. Etwas dahinter noch einer, dann ein weiterer, seitlich, wir standen am Rande eines Talkessels vor einem Heer kahler Stämme. Der Nebel verschwand wie ein Spuk. Hinter einem grätigen schwarzen Bergkamm wölbte sich die Sonne und löste sich vom zerstörten Wald als wabernde rote Blase. In unseren letzten böhmischen Tagen war Jakob wie entfesselt, schwankend zwischen Grübelei, Empfindungslust und hysterischer Melancholie. »Wie ist meine Bilanz? Warum geht man, ohne zu sehen? Warum erduldet man Sklaverei?« Wir bezogen eine Pension in der Gegend von Pfebuz und suchten nach dem Großmutterdorf. Jakob hatte einen Namen im Kopf, der nicht stimmte, und als Erinnerung zwei Fotografien. Eine stammte von 1937 und zeigte neben bepackten Handwagen Bauern mit stumpfen, traurigen Gesichtern. Das war Jakobs tschechische Familie, die von den Nazis vertrieben wurde. Die deutschen Nachbarn stehen im Halbkreis um sie herum, ausdruckslos. Das zweite Foto zeigte die Großmutter. Ein volles, erstaunlich strenges Gesicht. Der kleine Jakob hat einmal die alte Frau über ihren kümmerlichen Enkel sagen hören: Ich muß Jakob liebhaben, weil niemand sonst es tun wird. »Sie hatte ja recht!« erklärte er tapfer. »Auch wo sie hart war, hatte sie recht.« Sie sagte etwa: »Jakob, sieh mal nach dem Duschahof, die neuen Siedler waren schon lang nicht mehr da.« Die Duschas waren vertrieben worden, junge Leute aus der Karpato-Ukraine hatten 116 "7 den Hof übernommen. Ringsum standen damals Gehöfte und Dörfer leer, die deutsche Bevölkerung war weg, die tschechische dezimiert, die Regierung suchte überall nach Bauern, aber Siedler aus dem Flachland kamen im Gebirge selten zurecht, und natürlich gab es auch Gauner, die nur die Häuser ausräumten. Omi fühlte sich zuständig und rang die Hände. Der Duschahof war einer der größten gewesen, mit zehn Stück Rindvieh; er lag sieben Kilometer entfernt bergab. Jakob hörte schon von weitem die Fensterflügel schlagen, der Wind fegte durchs Haus, die Häkelgardinen waren zerrissen. Jakob schloß die Fenster, wanderte durch die geplünderten Zimmer und fühlte sich eine halbe Stunde lang als Herr. Er kannte die Duschas und wußte, wo das Bonbonglas versteckt gewesen war. Die Plünderer hatten es nicht gefunden. Er aß so viele Bonbons, bis ihm schlecht war, und stopfte die übrigen in seine Taschen. Als er zurückkam, antwortete er wahrheitsgemäß: »Die Siedler sind weg.« »Was ist mit den Kühen?« »Die haben gebrüllt.« Er bekam die härteste Ohrfeige seines Lebens, wie eine Explosion. Als wir von Pf ebuz aus Richtung Grenze fuhren, sagte er auf einmal in einfältigem Ton: »Also, was mir einfiel ... peinliche Sache ... Am Montag ist im Betrieb ein Parteiverfahren ... gegen den Genossen soll eine Parteistrafe ... Eigentlich will ich nicht ... Ähem, könnte ich nicht mit dir nach Halle ... einfach später aus dem Urlaub zurück?« Ich wimmelte ihn ab, vielleicht etwas schroff. Jakob mit seinen Gewissensanalysen und moralischen Expertisen plötzlich als sozialistischer Spießer - aus wie vielen Farben ist der Mensch zusammengesetzt! Diesmal aber gab es eine Peripetie: Er schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte. »Was bin ich für ein Sklave! Warum gibt es keinen Ausweg aus dem Kreislauf der Sünde?« Sünde? »Keinen Ausweg!« keuchte er, »... meine Omi ... verlassen*..« Sein Gesicht wurde rot, er wandte sich ab und keuchte: »Die Hierarchie der Schmerzen!« Das Folgende war ein Gegurgel. »Ohrfeigen« verstand ich, und: »Parteistrafen«, und natürlich: »Verrat«, »im Buch!« Wo sonst, dachte ich, wir leben doch davon, daß wir um unserer Bedürfnisse willen unsere Wahrnehmung verraten, und je besser Autoren Bedürfnisse als Wahrnehmung ausgeben können, desto dankbarer ist das Publikum ... Aber ich sah Jakobs zuckenden Hinterkopf und widersprach nicht, schließlich, er schämte sich, Scham ist heilig, und soviel habe ich dann doch verstanden: Omi war in einem Altersheim in Chomutov verhungert. 118