JLZ DER STANDARD Beim Bier verwischen sich Tschechiens Regionalgrenzen In Tschechien, wo am Wochenende Parlamentswahlen stattfinden, unterscheiden sich die Regionen kulturell und politisch teils beträchtlich. Dass man in Böhmen Bier und in Mähren Wein trinkt, ist freilich ein Stereotyp, das der Realität nur bedingt standhält. Große Vergangenheit: Regionalminister František Luid hisst im Stadtturm von Kyjov die Flagge Mährens zum Gedenken an die Ankunft der Slawenapostel Kyrill und Method vor 1150 Jahren. Foto: AP/Salek Gerald Schubert aus Prag Im Jahr 2004 geriet die südmähri-sche 500-Seelen-Gemeinde Uher-cice plötzlich in die Schlagzeilen. Zwischen Österreich und Tschechien gab es diplomatische Verstimmungen wegen 200 wertvoller Stühle, die im örtlichen Renaissanceschloss gebunkert waren. Die Nazis hatten sie gegen Kriegsende aus Schönbrunn und der Hofburg hierher gebracht, um sie vor alliierten Bombenangriffen zu schützen. Die Sicherheit war allerdings trügerisch: Nach dem Krieg wurde das Schloss verstaatlicht - und mit ihm die kaiserlichen Sitzmöbel. 2004 wollte sie der damalige tschechische Außenminister Cyril Svoboda an Österreich zurückgeben, wurde jedoch zunächst von der eigenen Regierung gestoppt. Der „Sessel-Krieg" war geboren. Erst zehn Monate später gab das Kabinett grünes Licht für die Restaurierung und Rückgabe der Stühle. Diese waren nämlich in einem miserablen Zustand - genau wie das Schloss selbst, das in den 1950er-Jahren als Stützpunkt für Grenzsoldaten gedient hatte: Die Grenze zu Österreich ist nur zwei Kilometer entfernt. Der Verfall von Schloss Uherci-ce steht symbolisch für die Probleme der leidgeprüften Region. Die asphaltierten Wege, auf denen früher Armeefahrzeuge patrouillierten, sind heute ein Paradies für Radfahrer. Ansonsten aber herrscht jede Menge Tristesse, wo einst der Eiserne Vorhang war. Auch die Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg hat hier tiefe Narben hinterlassen. „Es sind strukturschwache Gegenden - sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht", sagt der Historiker Ondřej Matějka, der mit seiner Bürgerinitiative Antikomplex für einen unverkrampften Blick auf die Vergangenheit wirbt (siehe Interview). Der 38-jährige Steuerrechtsexperte Tomáš Frkal hat seine Kindheit direkt am Grenzstreifen verbracht. Er stammt aus Uherči-ce, heute ist er Chef der Prager Niederlassung einer internationalen Buchhaltungskanzlei. „Prag war die einzige Stadt, die mir gute Arbeitsmöglichkeiten bot", erinnert sich Frkal. Auch heute ist Prag das wichtigste Ballungszentrum, doch viele, die hier leben und arbeiten, bleiben ihren Herkunftsregionen treu. Sie haben in der „občanka", dem Personalausweis, den fast alle Tschechen immer mit sich führen, noch die alte Adresse stehen und fahren an den Wochenenden regelmäßig „nach Hause". Weltmeister im Bierkonsum Vergleicht man die beiden größten Landesteile, also Böhmen und Mähren, dann stößt man oft auf Stereotype. Böhmen, so heißt es etwa, ist ein Bierland, in Mähren hingegen erzeugt und trinkt man Wein. Es stimmt natürlich, dass sich die größten Brauereien im böhmischen Landesteil befinden, etwa in Budweis oder in Pilsen, und dass Mähren die besseren klimatischen Voraussetzungen für den Weinanbau bietet. Doch was wo getrunken wird, hängt nicht zuletzt vom Geldbeutel ab: Die Tschechen sind immerhin Weltmeister im Bierkonsum, und das haben sie den mährischen Land- gasthäusern gewiss nicht weniger zu verdanken als Prag mit seinen modernen Gourmettempeln. Ähnlich bunt ist die politische Landkarte Tschechiens. Als Tomas Frkal in den 1990er-Jahren nach Prag kam, fiel ihm bald auf, dass die Christdemokraten hier nur eine marginale Rolle spielen. In Südmähren hingegen waren sie stets tonangebende Kraft gewesen. Die Grenze einfach zwischen Böhmen und Mähren zu ziehen würde jedoch zu kurz greifen, meint Tomas Kostelecky, der Direktor des soziologischen Instituts der Tschechischen Akademie der Wissenschaften: „Man kann eher sagen: In Süd- und Mittelmähren sowie in Teilen Südböhmens sind die Menschen religiöser als in Nordböhmen, Nordmähren und Schlesien." Schlesien verblasst In den Industrieregionen Nordböhmens und Nordmährens ist erwartungsgemäß die Linke stark. Auch in Teilen Schlesiens, das laut Kostelecky aber kaum noch als eigenständige Region wahrgenommen wird: „Die regionalen Besonderheiten haben sich hier an der mährisch-schlesischen Grenze längst verwischt. Die meisten Tschechen könnten die Grenze auf einer blinden Karte wahrscheinlich gar nicht einzeichnen." Große Unterschiede gibt es jedoch zwischen ländlichen Gebieten und Urbanen Ballungszentren. Anders als in Österreich tendiert die Landbevölkerung in Tschechien zu linken Parteien, während größere Städte häufig rechts wählen. „Die Menschen auf dem Land haben im Schnitt niedrigere Einkommen, durch die höhere Arbeitslosigkeit steigt die Abhängigkeit von staatlichen Sozialprogrammen. Das kommt traditionell der Linken zugute", so Kostelecky. Das ökonomisch erfolgreiche Prag hingegen ist seit 1990 eine Hochburg der Konservativen. „Die Trennlinien verlaufen immer mehr quer durch die Gesellschaft" Die ehemaligen Sudetengebiete zählen zu Tschechiens Problemregionen. Das Wahlverhalten dort sei aber nicht mehr so typisch wie früher, sagt der Historiker Ondřej Matějka zu Gerald Schubert. standard: In Ihrem Ausstellungsund Buchprojekt „Das verschwundene Sudetenland" präsentieren Sie alte Fotos aus den Sudetengebieten und gleich daneben jeweils aktuelle Aufnahmen aus derselben Perspektive. Inwiefern unterscheidet sich heute das Sudetenland vom Rest Tschechiens? Matějka: Der Unterschied zwischen dem Sudetenland und dem Binnenland ist immer noch zu sehen - sowohl in der Landschaft als auch in der Gesellschaft. Große Teile der ehemaligen Sudetengebiete sind sehr strukturschwach. Die Bewohner haben oft keinen wirklichen Bezug zu der Region, in der sie leben. Dazu kommen die ökonomischen Probleme mit ihren sozialen Folgewirkungen. Häufig handelt es sich um sterbende Industrieregionen mit hoher Arbeitslosigkeit, die Menschen haben wenig Hoffnung .auf eine bessere Zukunft. Es gibt auch viele Roma-Ghettos dort, und die Beziehung der Mehrheitsbevölkerung zu den Roma ist bekanntlich sehr angespannt. standard: Gibt es gar keine positiven Entwicklungen? Matějka: Doch, es hat sich viel getan, seit wir vor mehr als zehn Jahren mit unserem Projekt begonnen •haben. Inzwischen kann man auch in den ehemaligen Sudetengebieten viele Beispiele für bürgerliches und zivilgesellschaftliches Engagement finden. standard: Inwiefern hängen die Probleme in der Region mit der Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen? Matějka: In den ehemaligen Sudetengebieten ist es nach wie vor schwierig, eine Gemeinschaft mit kontinuierlicher Entwicklung und einem sozialen Zusammenhalt aufzubauen. Diese Regionen sind oft sehr dünn besiedelt. Es leben hier viel weniger Menschen als vor dem Krieg, und die, die hier leben, haben häufig noch nicht Fuß gefasst. Wenn man sich ansieht, ob in den einzelnen Gemeinden die freiwillige Feuerwehr funktioniert, ob die Kirche lebt, ob die Menschen überhaupt Feste feiern, zum Beispiel den Fasching, dann merkt man: All das gibt es außerhalb des Sudetenlan-des viel öfter - also überall dort, wo nach dem Krieg nicht innerhalb von zwei Jahren fast die ganze Bevölkerung ausgetauscht wurde. standard: Kann man also sagen, dass auch die Tschechen durch die Vertreibung der Deutschen viel verloren haben? Matějka: Absolut. Es ist auch nicht so einfach, das wieder gutzumachen. Viele unsichtbare Güter wie gesellschaftliche Normen und Traditionen sind verlorengegangen - und natürlich auch viel Know-how. Materielle Güter wie etwa Fabriken sind geblieben, aber sie allein bringen noch keinen Reichtum. Das kann man gut am Vergleich mit Bayern ablesen, wo sich viele Sudetendeutsche niedergelassen haben. Standard: Am Freitag und Samstag wird in Tschechien gewählt. Welche Erfahrungen gibt es bisher mit dem Wahlverhalten in den ehemaligen Sudetengebieten? Matějka: Es sind Regionen, in denen oft Protestparteien gewählt werden. Die jüngste Volkszählung hat gezeigt, dass die Gebiete rund um Karlsbad oder Aussig außer der hohen Arbeitslosigkeit auch eine geringe Anzahl von Hochschulabsolventen und eine besonders hohe Scheidungsrate haben. Bis zu einem gewissen Grad gibt es in solchen Regionen eben auch ein typisches Wahlverhalten. Aber das ist relativ. Gerade bei der letzten Präsidentschaftswahl, wo der Wahlkampf zwischen Milos Zern an und Karl Schwarzenberg ja stark polarisiert hat, war das nicht so. Es gab in den Grenzgebieten auch sehr viele Stimmen für Schwarzenberg, obwohl sich Ze-man den Sudetendeutschen gegenüber sehr kritisch geäußert und diese Karte gegen Schwarzenberg ausgespielt hat. Die Trennlinien in dieser Frage sind also durchlässig. Und sie verlaufen nicht nur zwischen den Regionen, sondern immer mehr auch quer durch die ganze Gesellschaft. ONDŘEJ MATĚJKA (34) ist Historiker und Leiter der tschechischen Bürgerinitiative Antikomplex, die sich für einen kritischen Umgang mit der eigenen Geschichte einsetzt. In zahlreichen Projekten thematisiert Antikomplex Geschichte und Gegenwart des deutsch-tschechischen Zusammenlebens. DEUTSCHLAND I ö Böhmen O Mähren C2 Schlesien ^%%^J\**ii ^ Siedlungsgebiete der Sudetendeutschen bis 1945 Quelle: UN 3849 APA der Standard