Ursula Wölfel Ursula Wölfel stammt aus Duisburg-Hamborn im Ruhrgebiet. Sie studierte Germanistik in Heidelberg und arbeitete nach dem Krieg als Schulhelferin im Odenwald. Nach abgeschlossener Lehrerausbildung und Pädagogikstudium unterrichtete sie als Sonderschullehrerin in Darmstadt. Seit 1961 lebt Ursula Wölfel als freie Schriftstellerin im Odenwald. Ihre Bücher wurden mit vielen nationalen und internationalen Preisen und Auszeichnungen gewürdigt und in 1.5 Sprachen übersetzt. Für ihr Gesamtwerk erhielt sie den 1991 erstmals verliehenen Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises. Fliegender Stern Mit Illustrationen von Bettina Wölfel CARLSEN Wo sind die Büffel? Fliegender Stern saß vor dem Zelt seines Vaters und dachte: Es ist schlimm, wenn man noch ein kleiner Junge ist. Warum dauert es nur so lange, bis man groß wird? Die großen Jungen wollten Steinewerfen und Bogenschießen üben. Auch der große Bruder Grau-Hengst war dabei. Fliegender Stern war mit ihnen gelaufen bis zu dem Hügel, hinter dem sie ihren Spielplatz hatten. Aber sie hatten ihn fortgeschickt und gesagt: »Du bist noch zu klein, du musst bei den Mädchen und den kleinen Kindern bleiben.« Die Kleinen hockten hinter Bergadlers Zelt und warfen mit Steinen nach einem alten Topf. Fliegender Stern konnte sehr gut den Topf treffen. Aber er wollte überhaupt nicht mehr mit den kleinen Kindern spielen. Er wollte lieber hier sitzen und sich langweilen. _ Ringsum standen die weißen Lederzelte in einem großen Kreis. Die Frauen und alten Leute saßen zusammen und redeten miteinander. Alle warteten auf die Männer, die auf die Jagd geritten waren. Ob sie wohl eine Büffelherde gefunden hatten? Dann würde es endlich bald wieder frisches Fleisch geben! Jetzt kam die Mutter. Sie trug das kleine Schwesterchen in einem ledernen Sack auf dem Rücken. Es schlief und die Mutter ging langsam und vorsichtig, um es nicht zu wecken. Die Mutter hieß Sonne-über-dem-Weg und Fliegender Stern fand, dass sie die schönste von allen Frauen und Müttern im Lager sei. »Warum spielst du nicht mit den anderen Kindern?«, fragte die Mutter. Fliegender Stern stand auf. Wenn die Mutter mit ihm sprach, durfte er nicht sitzen bleiben. »Sie wollten mich nicht mitnehmen«, sagte er. »Aber ich bin doch gar nicht mehr so klein!« Die Mutter wusste gleich, dass er versucht hatte mit den Großen zu gehen. Sie sagte: »Es sind jetzt sechs Winter vergangen, Fliegender Stern, und fünf Sommer, seit du auf die Welt 9 kamst. Du bist noch ein kleiner Junge. Geh zu den anderen Kleinen.« Fliegender Stern ging also zu den kleinen Kindern. Er spielte aber nicht mit, er sah nur zu, wie sie Topftreffen spielten. Das kleine Mädchen, das Rote Blume hieß, fragte ihn: »Warum spielst du nicht mit, Fliegender Stern?« »Ich will nicht«, antwortete er. »Dies ist ein Spiel für kleine Kinder. Ich bin schon zu groß dafür.« »Aber du darfst doch auch noch nicht allein reiten!«, rief der Junge, der Helles Wasser hieß. Und der Junge, der Ruft-den-Regen hieß, fragte: »Gehst du denn morgens mit den Großen an den Fluss? Kannst du schon schwimmen?« Fliegender Stern wusste nicht, was er antworten sollte, denn er durfte noch nicht allein reiten und noch nie hatten die Großen ihn morgens mit an den Fluss genommen. Nun fragte Grasvogel: »Du bist doch mein Freund, Fliegender Stern? Warum willst du nicht mehr mit mir spielen?« Wieder wusste Fliegender Stern nicht, was er antworten sollte, denn Grasvogel war wirklich sein bester Freund. Fliegender Stern schaute in das Grasland hinaus. Bis zum Himmelsrand war da nichts als eine weite, wellige Wiese. Nur hier und dort standen ein paar Büsche und ganz in der Ferne ein großer, uralter Baum. Plötzlich sah Fliegender Stern, dass sich hinter dem Baum etwas bewegte. Er machte die Augen schmal. Ja, da kamen die Männer von der Jagd zurück. »Sie kommen!«, schrie Fliegender Stern. Nun war er nicht mehr schlecht gelaunt. Er hatte die Reiter zuerst gesehen, eher als die alten weisen Männer und Frauen mit ihren scharfen Augen, eher als die Mütter und eher als die anderen Kinder. Er klatschte in die Hände und rief noch einmal: »Sie kommen!« Gleich liefen alle zusammen und Fliegender Stern zeigte ihnen, was er gesehen hatte. Er war sehr stolz. Bald konnte man die Reiter deutlich erkennen. Die Kinder liefen ihnen entgegen und auch die großen Jungen kamen dazu. Alle wollten wissen, ob es heute Abend etwas Gutes zu essen gäbe. Aber die Männer ritten stumm und mit gesenkten Köpfen ins Lager. »Wir haben keinen Pfeil und keine Kugel verschossen«, sagten sie. 10 11 Fliegender Stern lief neben dem Pferd seines Vaters her. Der Vater hieß Guter Jäger. Doch heute brachte er nichts von der Jagd nach Hause. »Wir sind weit geritten«, sagte er zu seiner Frau Sonne-über-dem-Weg, »fast so weit wie von einem Nachtlager zum anderen. Aber der weiße Mann hat uns die Büffel zu weit vertrieben.« Schon oft hatte Fliegender Stern etwas vom weißen Mann gehört. Immer, wenn die Erwachsenen von ihm sprachen, waren ihre Gesichter und Stimmen traurig. Fliegender Stern dachte: Wenn ich groß bin, will ich zum weißen Mann reiten und ihm sagen, dass die Büffel den Indianern gehören, weil wir sonst hungern müssen und kein Leder haben für unsere Kleider und Schuhe und Zelte. Und ich werde mit dem weißen Mann kämpfen und ihn besiegen. Die Mutter holte einen Topf mit wilden Rüben. Die hatte sie am Morgen gesucht. Sie tat aus einem Lederbeutel eine Handvoll getrocknetes Büffelfleisch dazu. Nun war der Beutel leer. Als Fliegender Stern schlafen sollte, hatte er noch großen Hunger. Niemand war satt geworden im Lager. Fliegender Stern dachte wieder an den weißen Mann. Draußen saßen noch die Erwachsenen am Feuer und sprachen leise miteinander und sangen ein trauriges Lied. Die Hunde knurrten und jaulten. Sie hatten Hunger wie die Menschen. Nur die Pferde grasten zufrieden. Unruhe und Trauer lagen über den weißen Zelten, als der Mond vom Himmelsrand aufstieg, der große, rote Sommermond. 12 Das braune Pferd Früh am anderen Morgen, als noch alle Sterne am Himmel standen, lief der Ausrufer durch das Lager und rief: »Steht auf! Steht auf!« Sie wollten weiterziehen zu einem See, in dem es viele Fische gab. Das hatten die Männer am Abend mit dem Häuptling besprochen. Die Mutter, der große Bruder Grau-Hengst und Fliegender Stern rollten das Zelt zusammen und der Vater packte es auf ein Pferd. Im ganzen Lager war ein lautes Rufen und Hin-und-her-Rennen, Hundegebell und Pferdegestampf. Die Kinder liefen dazwischen umher und freuten sich, weil es überall etwas zu sehen gab: wie der Zaubermann sein Zauberzelt, seine Trommeln und Kräuterbündel einpackte, wie der Feuermann das Feuer in einen hohlen Baumstamm tat und mit Moos zudeckte, wie die Väter und Mütter alle ihre Geräte und Waffen, ihre Töpfe und Säcke und Decken auf die Pferde banden. Aber Fliegender Stern war wieder nicht bei den Kindern. Er wollte zeigen, dass er nicht mehr klein war, er half den Eltern. Sie banden das Traggestell an das Pferd der Mutter. Das war wie ein Schlitten. Die Mutter packte ihre Küchengeräte hinein und ließ in der Mitte einen Platz frei. Dort sollte Fliegender Stern sitzen. Aber er hatte sich etwas anderes vorgenommen. Heute wollte er reiten wie die großen Jungen. Die hatten schon ihre Pferde losgemacht und ritten mit Geschrei und Gejuchze um den Lagerplatz. Fliegender Stern sagte zu seinem Vater: »Mein Vater Guter Jäger, bitte gib mir ein Pferd. Ich möchte jetzt zu den Großen gehören.« »Dann will ich dir ein gutes Pferd geben, Fliegender Stern«, sagte der Vater. Und er hob ihn auf das braune Pferd, das er im vergangenen Herbst eingefangen und zugeritten hatte. 14 15 Fliegender Stern war so froh, dass er nichts sagen konnte. Er nahm den Zügel und sah sich um. Helles Wasser, Rote Blume und Grasvogel standen in der Nähe. Fliegender Stern wünschte, dass bald die Sonne aufgehen möchte, damit alle im Lager ihn auf dem schönen braunen Pferd sehen könnten. »Nun zeige, dass du reiten kannst!«, sagte der Vater. Er gab dem Pferd einen Klaps. Es machte einen Sprung - und schon lag Fliegender Stern wieder im Gras. Er hatte nur an die Kinder und die Leute gedacht und nicht aufgepasst. Der Vater sagte nichts. Er wartete, bis Fliegender Stern aufgestanden war. Dann hob er ihn wieder aufs Pferd. Wie groß das war, und wie breit und glatt sein Rücken! Plötzlich hatte Fliegender Stern Angst. Jetzt wäre er am liebsten wieder hinuntergerutscht und hätte sich auf seinen alten Platz zwischen Mutters Tragstangen gesetzt. Aber die anderen Kinder sahen ihn. Auch Grau-Hengst war mit den anderen Großen gekommen. Wieder gab der Vater dem Pferd einen Klaps und die großen Jungen riefen: »Ho! Ho-Ho!« Das Pferd rannte los. Vor Schreck fasste Fliegender Stern so schnell nach der Mähne, dass er den Zü- gel verlor. Das Pferd fühlte sich frei und galoppierte ins dunkle Grasland hinaus. Fliegender Stern wickelte sich die Mähnenhaare um die Finger. Sie schnitten hart und tief ein, aber er wollte nicht loslassen. Diesmal würde er oben bleiben! Wenn nur das Pferd nicht immer weiter fortgelaufen wäre, immer weiter und weiter in die schwarze, endlose Ebene hinaus! Jetzt rasten sie an dem hohen Baum vorbei. Fliegender Stern dachte: Nun kann mich niemand mehr sehen und hören. Und er schrie, so laut er konnte: »Zurück, Pferd! Zurück!« Aber das Pferd erschrak nur und rannte noch schneller, gerade auf den Himmelsrand zu, auf den grüngelb schimmernden Streifen Licht, dort, wo der Himmel die Erde berührte und wo bald die Sonne aufgehen würde. Was mochte dort sein? Ein großes Wasser? Ein gewaltiges Feuer? Oder war dort vielleicht das Land des Großen Geistes, zu dem die toten Menschen gingen? Fort und fort trug ihn das braune Pferd und Fliegender Stern war ganz allein. Er hatte große Angst. Vorsichtig schob er sich über die Mähne am Pfer- 16 17 dehals hinauf. Er wollte die Zügel packen. Der Braune schüttelte sich und warf den Kopf zurück. Fliegender Stern machte schnell die rechte Hand los und fasste nach dem Zügel. Das Pferd fühlte den scharfen Ruck in seinem weichen Maul und warf sich nach rechts herum. Fliegender Stern flog in hohem Bogen auf die harte, trockene Sommererde und das Pferd lief ohne Reiter davon. Da lag er nun. Sein Kopf und seine Knie und Hände taten ihm sehr weh. Er legte sein Gesicht ins Gras und weinte. Aher bald kam das Pferd zurück. Es stellte sich neben ihn und stupste ihn mit der weichen Nase an der Schulter. Es war ein gutes Pferd, es lief nicht einfach von seinem Reiter fort. Fliegender Stern streichelte den schönen Kopf mit den großen blanken Augen. »Liebes Braunes«, sagte er, »ich kann doch nicht allein aufsteigen.« Und gleich musste er wieder weinen. Die Tränen liefen ihm in den Mund, sie liefen an seinem Hals entlang. Er hatte schon lange nicht mehr geweint. Aber hier sah es ja niemand. Plötzlich hob das Pferd den Kopf. Es scharrte mit den Hufen und wieherte leise. Fliegender Stern sprang auf und schaute sich um. Kam ein wildes Tier, ein Bär oder ein Wolf? Nein, ein Reiter, der Vater! Fliegender Stern rannte ihm entgegen, schwenkte die Arme und rief: »Mein Vater! Mein Vater Guter Jäger!« Guter Jäger hielt sein Pferd an und sagte: »Du bist weit geritten, Fliegender Stern. Nun steige schnell wieder auf. Alle warten auf uns.« Fliegender Stern ging zu dem Braunen und nahm die Zügel. »Du musst in die Mähne fassen und dich hochziehen«, sagte der Vater. Fliegender Stern griff in die Mähne. Seine Hände waren blutig und raten sehr weh. Er zog sich hoch - aber seine 18 19 Arme waren zu schwach, er kam nicht hoch genug, er konnte sein Bein nicht über den Pferderücken schwingen. Immer wieder glitt er ab. Er sah den Vater an. »Noch einmal«, sagte der nur. »Ich kann nicht«, flüsterte Fliegender Stern. »Bitte, hilf mir!« »Wer nicht allein aufsteigen kann, der soll auch nicht allein reiten«, sagte der Vater. Fliegender Stern ging zehn Schritte zurück, spuckte in die Hände, lief, sprang - und saß oben! Er sah zum Vater hinüber. Er lachte. »Nun kannst du allein aufsteigen und allein reiten«, sagte der Vater. »Ich will dir das braune Pferd schenken. Du darfst ihm einen Namen geben.« Fliegender Stern verneigte sich vor seinem Vater, wie er es gelernt hatte. Sie ritten nebeneinander zum Lager zurück. Fliegender Stern fragte: »Was ist, wenn man durch das ganze Grasland bis an den Himmelsrand reitet?« »Wenn man bis an den Himmelsrand reitet«, antwortete Guter Jäger, »dann wird wieder ein Grasland sein und ein neuer Himmelsrand. Und wenn man durch das andere Grasland reitet bis an den anderen Himmcisrand, dann wird wieder ein neues Grasland und ein neuer Himmelsrand da sein. Und wenn man immer weiter und weiter reitet, kommt man dorthin, wo der weiße Mann wohnt.« Dann schwieg der Vater und Fliegender Stern sah an seinem Gesicht, dass der Vater nicht mehr sagen wollte. So war es immer, wenn vom weißen Mann gesprochen wurde. Erst als sie das Lager schon sahen, sagte Fliegender Stern: »Ich will mein braunes Pferd Himmelsrand nennen.« »So soll es heißen«, sagte der Vater. »Das ist ein guter Name für ein Pferd.« Die anderen saßen schon auf den Pferden. Die Feuer waren gelöscht. »Fliegender Stern kann nun allein reiten«, sagte I der Vater. Alle nickten und die Mutter lächelte. Fliegender Stern lenkte sein Pferd zu ihr hin. »Nun bist du schon beinah ein großer Junge!«, sagte sie. Den ganzen Tag blieb Fliegender Stern in der Nähe der Mutter. Wenn sie rasteten, half er ihr das kleine Schwesterchen zu versorgen, und als sie 20 21 am Abend zum Lagerplatz am See kamen, brachte er ihr Wasser und suchte Holz für das Feuer. Dann schickte die Mutter ihn fort zu den anderen Kindern. Sie wollten noch Beeren und Wurzeln suchen. Die Männer und Burschen gingen mit Netzen und Angeln an den See. Aber sie fingen nicht viel. Alle mussten an diesem Abend wieder hungrig einschlafen. Aber darüber redeten sie nicht. Die Mutter war traurig, weil sie wusste, dass ihre Söhne nicht satt waren. Deshalb sagte sie zu Grau-Hengst: »Ich will dir morgen eine schöne neue Angelschnur schenken.« Und zu Fliegender Stern sagte sie: »Dir will ich eine kleine Angelrute schneiden.« »Und eine Schnur bekomme ich auch?«, fragte Fliegender Stern. »Ja, auch eine lange Schnur machen wir daran«, sagte die Mutter. Da war er vergnügt und schlief bald ein. Am schwarzen Wasser Als Fliegender Stern am anderen Morgen aufwachte, war es noch dunkel. Er dachte an sein braunes Pferd Himmelsrand und an die Angel, die er bekommen sollte, und er freute sich auf den Tag. Da packte ihn jemand an der Schulter. »Steh auf, Fliegender Stern!«, flüsterte der große Bruder Grau-Hengst und zog ihm die Decken weg. »Was ist?«, fragte Fliegender Stern und hielt die Decken fest. »Still! Unsere Mutter schläft noch! Die Männer sind fort zur Jagd. Komm nach draußen!«, flüsterte Grau-Hengst. 23 Fliegender Stern fror in der kalten Morgenluft. »Du sollst mit zum See!«, sagte Grau-Hengst. Fliegender Stern erschrak. Jetzt, im Dunkeln und ohne den Vater sollte er allein im eiskalten See schwimmen? »Ich bin noch zu müde«, sagte er. »Willst du nicht?«, fragte Grau-Hengst und lachte. »Du hast doch ein eigenes Pferd und sollst eine Angel bekommen. Ich dachte, mein Bruder Fliegender Stern sei jetzt ein Großer? Aber da steht er und klappert mit den Zähnen!« Jemand lachte im Dunkeln. Fliegender Stern merkte, dass Schneller Hirsch, Großer Felsen und andere von den Großen in der Nähe standen. Überall krochen sie jetzt aus den Zelten, reckten sich und gähnten. »Soll ich mich für meinen Bruder schämen?«, fragte Grau-Hengst. »Los!«, riefen die anderen und alle rannten zum See hinunter. Schneller Hirsch war immer der Erste. Sie mussten durch ein kleines Wäldchen. Fliegender Stern rannte, so schnell er konnte. Er wollte nicht der Letzte sein. Grau-Hengst lief dicht hinter Schneller Hirsch. Fliegender Stern sah ihn nicht mehr. Dann lag das schwarze, blin- 24 kende Wasser vor ihnen. Die Ersten sprangen gleich im Laufen über das Ufer hinaus. Sie schrien und prusteten und balgten sich. Jetzt sprangen die Letzten ins Wasser. Nur Fliegender Stern stand noch am Ufer. Er hielt sich an einem Baumstamm fest und starrte in das schwarze Wasser hinunter. Er konnte nicht springen. Grau-Hengst schwamm heran. Er rief: »Komm, Fliegender Stern!« Fliegender Stern schüttelte den Kopf. Die anderen schrien: »Fliegender Stern! Du bist gut gelaufen! Nun zeige, dass du wirklich ein Großer bist! Spring, spring!« Wieder schüttelte Fliegender Stern den Kopf. Am liebsten wäre er fortgelaufen. »Ich befehle es dir!«, rief Grau-Hengst. Fliegender Stern versteckte sein Gesicht hinter dem Stamm. Grau-Hengst stieg aus dem Wasser. Jetzt war es schon dämmerig und Fliegender Stern sah, dass Grau-Hengst zornig war. »Wirf mich hinein«, flüsterte er. »Das gilt nicht«, sagte Grau-Hengst. »Aber komm, gib mir die Hand, wir springen zusammen.« 25 Fliegender Stern ließ den Stamm los. Er machte die Augen zu und sprang mit Grau-Hengst über den Uferrand. Eisig war das Wasser. Fliegender Stern war steif vor Schreck und Angst und sank wie ein Stein bis auf den schlammigen Grund. Es brauste und donnerte in seinen Ohren. Grau-Hengst hatte ihn losgelassen. Er strampelte und schlug um sich - und dann sah er durch den Wasserschleier vor seinen Augen den Morgenhimmel und die Bäume. Er spuckte und sackte schon wieder ab. Doch jetzt packten ihn Grau-Hengst und sein Freund Großer Felsen. Sie zogen ihn ans Ufer. »Für heute ist das genug«, sagten sie und lachten. »Morgen wirst du schwimmen lernen.« Auch die anderen kamen ans Ufer. Niemand lachte den kleinen Jungen aus, weil er Angst gehabt hatte. Sie waren ja alle einmal kleine Jungen gewesen und hatten sich wie er vor dem Wasser gefürchtet. Sie rissen Zweige von den Bäumen und schlugen sich gegenseitig damit. So wurden sie trocken und warm und zeigten einander, wie tapfer sie Schmerzen aushalten konnten. Fliegender Stern riss einen Kiefernast ab und gab ihn seinem Bruder. »Schlag mich!«, sagte er. »Ho! Er hat sich die spitzesten Nadeln ausgesucht!«, riefen die anderen. »Aber fest!«, rief Fliegender Stern und Grau-Hengst schlug ihn, bis sein Rücken rot war. »Noch fester!«, rief Fliegender Stern. Und Grau-Hengst schlug noch fester, bis Fliegender Stern blutige Streifen auf dem Rücken hatte. »Weiter!«, rief Fliegender Stern. »Nein«, sagte Grau-Hengst. Er warf den Ast weg. »Wir wissen jetzt, dass du ein tapferer großer Junge bist!«, sagten die anderen. Sie liefen zurück zum Lager. 26 27 »Fliegender Stern ist ein Großer!«, riefen die Jungen so laut, dass man es in jedem Zelt hören konnte. Die Mütter und alten Leute nickten und alle freuten sich. Als der Vater von der Morgenjagd aus dem Wald zurückkam, sagte er: »Du wirst ein tüchtiger Mann werden, Fliegender Stern.« »Aber ich habe große Angst gehabt vor dem schwarzen Wasser und gestern, als das Pferd so weit mit mir fortlief, habe ich geweint.« »Ich weiß«, sagte der Vater. »Ich habe es gesehen. Aber daran sollst du nun nicht mehr denken. Bist du nicht doch in den See gesprungen? Bist du nicht doch auf dem Pferd wieder zurückgeritten? Auch erwachsene Männer haben manchmal Angst.« Die neue Angel Fliegender Stern bekam von seiner Mutter einen Angelstock mit einer Schnur und einem Haken aus Fischgräte daran. Auch ihr gutes Messer lieh sie ihm. Damit schnitzte er viele kleine und große Sterne in das Holz. Nun sah jeder, diese Angel gehört dem, der Fliegender Stern heißt. Als er fertig war, zeigte er die Angel seiner Mutter und sie schenkte ihm etwas von der roten und gelben Farbe, mit der sie sonst die Verzierungen an den Kleidern und Zelten färbte. Fliegender Stern malte die Sterne auf seiner Angelrute bunt an. Darüber war der ganze Morgen vergangen. Die 29 anderen Jungen waren längst alle am See. Einige hatten sogar ihren Müttern schon frische Fische gebracht. Fliegender Stern bat seine Mutter um einen Lederbeutel für seine Fische. »Bitte, gib mir einen großen!«, sagte er. »Glaubst du, dass du so viele Fische fangen wirst?«, fragte die Mutter. »So viele, dass wir sie gar nicht alle aufessen können!«, rief Fliegender Stern. »Du wirst sie trocknen müssen!« Da lächelte die Mutter und gab ihm den großen Lederbeutel. Als er zum See kam, fand er ihn gar nicht mehr schwarz und gefährlich, sondern blau und lustig. Im blanken Wasser spiegelten sich die Bäume und Mücken und Käfer summten in der Sonne. Die Burschen und Männer hatten sich mit ihren Angeln rings um den See verteilt. Als Fliegender Stern durch das Gebüsch rannte, drehte Schneller Hirsch sich um und legte den Finger auf den Mund. »Pst!«, machte er. Fliegender Stern sollte ihm die Fische nicht vertreiben. Fliegender Stern wollte ihn eigentlich fragen, wo Grau-Hengst sei, aber Schneller Hirsch war 30 der Anführer der Großen und Fliegender Stern merkte, dass er jetzt nicht angeredet werden wollte. Also schlich er weiter zwischen den Bäumen und Büschen am Ufer entlang. Er konnte so lautlos schleichen, dass man kein Blättchen rascheln hörte. Am gegenüberliegenden Ufer sah er eine Gruppe von Männern. Sie hatten Netze ausgelegt und nun gruben sie einen kleinen künstlichen Teich. Dorthinein wollten sie die Fische treiben. Andere hockten auf flachen Ufersteinen. Sie hielten Speere in der Hand und schauten gespannt ins Wasser. Fliegender Stern wunderte sich immer darüber, dass die Männer die flinken Fische mit dem Speer treffen konnten. Jetzt war er schon um den halben See herumgegangen und hatte Grau-Hengst immer noch nicht gesehen. Aber nun traf er die kleinen Jungen. Sie spielten in einer schmalen, sandigen Bucht. Hier floss ein Bach aus dem See heraus. Fliegender Stern blieb zwischen den Bäumen stehen. Ruft-den-Regen sah ihn zuerst. »Schau her, Fliegender Stern!«, rief er. »Den habe ich eben mit der Hand gefangen!« Und er zeigte ihm einen blau schillernden Fisch mit roten Punk- ten auf dem Rücken. Auch die anderen kleinen Jungen hatten schon Fische gefangen. »So? Die habt ihr gefangen?«, fragte Fliegender Stern. »Willst du nicht bei uns bleiben?«, fragte Grasvogel. Das hätte Fliegender Stern sehr gern getan. Er fand es lustig, Fische mit der Hand zu fangen, und er konnte das ebenso gut wie die anderen. Aber er sagte: »Ihr seht doch, dass ich eine Angel habe. Damit fängt man viel mehr.« »Ja«, sagte Grasvogel, »du bist jetzt ja auch ein Großer.« Er scharrte mit einem flachen Holzstück Sand und Steine zusammen. »Was baust du da?«, fragte Fliegender Stern. »Das wird ein Staudamm«, sagte Grasvogel. »Wir wollen einen künstlichen Teich bauen, wie die Männer dort drüben. Und wenn wir dann Fische hingen, lassen wir sie darin schwimmen.« »Der Damm ist viel zu schwach«, sagte Fliegender Stern. »Ihr müsst Grasbüschel und Zweige dazu nehmen.« Er legte seine Angelrute fort. Am Ufer lagen genug dürre Äste. Fliegender Stern brach sie in kleine Stücke, die steckte er in den Sand. Er flocht 32 33 frische Zweige dazwischen und stopfte dann Grasbüschel in die Lücken. Zuletzt häufte er Steine und Lehm darüber und klopfte den Damm mit den Händen fest. »Der hält!«, sagte er. »So müsst ihr das machen, ihr Kleinen.« »Ja, der ist gut«, sagte Grasvogel. Aber Fliegender Stern hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit verging. Plötzlich wurde es schattig in der kleinen Bucht. Erschrocken sprang er auf, nahm Angel und Lederbeutel und rannte fort. Es würde bald Abend sein und er hatte noch keinen einzigen Fisch gefangen! Grau-Hengst und sein Freund Großer Felsen saßen gar nicht weit von der Bucht entfernt mit ihren Angeln auf einer Kiefernwurzel. Jeder von ihnen hatte schon einen Berg glitzernder Fische gefangen. Als Fliegender Stern kam, rückten sie ein Stück auseinander und ließen ihn zwischen sich sitzen. Sie zeigten ihm, wie man einen Wurm am Haken befestigt und wie die Angelschnur ausgeworfen werden muss. Fliegender Stern gab gut acht und lernte das bald. Da saß er nun, den herrlichen Angelstock mit den bunten Sternen in der Hand, und wartete auf die vielen Fische, die er fangen wollte. Aber es kam keiner, kein einziger. Denn Fliegender Stern rutschte vor Aufregung hin und her und immer wieder musste er sich schütteln und mit den Schultern zucken, weil sich Fliegen auf seinen Rücken setzten. Er konnte einfach nicht so still dasitzen wie Grau-Hengst und Großer Felsen, die fingen nun auch nichts mehr, weil Fliegender Stern ihnen mit seiner Unruhe die Fische vertrieb. Schließlich sagte Grau-Hengst: »Es wird schon dämmerig, wir wollen gehen.« »Aber ich muss doch noch etwas fangen!«, rief Fliegender Stern. »Jetzt ist es zu spät. Du lernst schon noch angeln«, sagte Grau-Hengst und packte seine vielen Fische in seinen Lederbeutel. Großer Felsen sah, wie traurig Fliegender Stern danebenstand mit seinem großen leeren Sack. Er gab ihm einen besonders dicken, bunten Fisch und sagte: »Hier, damit du auch einen hast!« Fliegender Stern nahm den Fisch und tat ihn in den Beutel. Er schämte sich. Als sie ins Lager kamen, duftete es schon von allen Feuern nach gebratenem Fisch. 34 35 »Nun, was hast du gefangen?«, fragte die Mutter und nahm ihm den Beutel ab. »Gar nichts«, antwortete Fliegender Stern. »Diesen Fisch hat mir Großer Felsen geschenkt. Ich habe nämlich zuerst mit den Kleinen gespielt und nachher konnte ich nicht still sitzen und dann war es zu spät.« Niemand lachte ihn aus. »Ich glaube, ich bin doch noch ein bisschen klein«, sagte Fliegender Stern. Gefährliches Abenteuer Viele Wochen blieben sie im Lager am See. Fliegender Stern lief jeden Tag frühmorgens mit den Großen zum Wasser. Bald konnte er schwimmen. Schneller Hirsch zeigte ihm, wie man seine Füße pflegen muss, wenn man ein guter Läufer sein will. Der Vater Guter Jäger machte ihm einen Bogen und die Mutter gab ihm Pfeile mit stumpfen Spitzen. Fliegender Stern konnte bald so gut schwimmen, laufen und bogenschießen, dass er bei den Wettkämpfen der Großen mitmachen durfte. Auch das Stillsitzen beim Angeln lernte er. Aber für die Gro- 37