Brahms hatte in Düsseldorf indessen nicht nur Robert Schumanns Bekanntschaft gemacht, sondern auch seine Frau Clara. Sie war 14 Jahre älter als Brahms, hatte mit Robert zu der Zeit sechs Kinder und sich als Pianistin europaweit großen Ruhm erworben. Brahms war von ihr fasziniert. Schon im Anschluss an eine von Robert Schumann vorangetriebene erste Veröffentlichung eines Klavierwerks schrieb Brahms seinem Mentor: „Dürfte ich meinem zweiten Werk den Namen Ihrer Frau Gemahlin voransetzen?“ Nach Robert Schumanns Einweisung in eine Nervenanstalt in Endenich bei Bonn intensivierte sich der Kontakt zwischen Clara Schumann und Brahms. Er lebte zeitweilig im selben Haus in Düsseldorf. Seine innige seelische Verflechtung mit Clara und Robert Schumann kommt zum Ausdruck in seinen Klaviervariationen op. 9 über ein Thema von Robert Schumann, die dieser in Endenich kennen lernte und wundervoll fand. In den Takten 30–32 der 10. Variation erscheint als Mittelstimme ein Thema Claras, das Robert Schumann seinem op. 5 zugrunde gelegt hatte. Zwischen 1854 und 1858 pflegten Clara Schumann und Brahms einen umfangreichen Briefwechsel, dessen Zeugnisse sie im Einvernehmen später aber fast vollständig vernichteten. Von Brahms sind Briefe erhalten geblieben; sie spiegeln eine wachsende Leidenschaft. Anfangs blieb er beim „Sie“, schrieb „Verehrte Frau“, dann „Teuerste Freundin“, schließlich „Innigst geliebte Freundin“, zuletzt „Geliebte Frau Clara“. Im Brief vom 25. November 1854 heißt es plötzlich: „Teuerste Freundin, wie liebevoll blickt mich das trauliche ‚Du‘ an! Tausend Dank dafür, ich kann’s nicht genug ansehen und lesen, hörte ich es doch erst; selten habe ich das Wort so entbehrt, als beim Lesen Ihres letzten Briefes.“ Er, der Jüngere, hatte es nicht gewagt, ein „Du“ anzubieten, wird damit plötzlich konfrontiert, und findet erst langsam in diese intime Anrede. Im Brief vom 31. Mai 1856 schreibt er in aller Deutlichkeit: „Meine geliebte Clara, ich möchte, ich könnte dir so zärtlich schreiben, wie ich dich liebe, und so viel Liebes und Gutes tun, wie ich dir’s wünsche. Du bist mir so unendlich lieb, dass ich es gar nicht sagen kann. In einem fort möchte ich dich Liebling und alles mögliche nennen, ohne satt zu werden, dir zu schmeicheln. (...) Deine Briefe sind mir wie Küsse.“ Dieser Brief war der letzte vor dem absehbaren und doch unerwartet plötzlichen Ereignis, das die Beziehung verändern sollte: Robert Schumanns Tod am 29. Juli 1856. Hatte Brahms sich noch im Oktober des gleichen Jahres Hoffnungen gemacht, „seine“ Clara in der Phase der Trauer trösten zu dürfen, trat mit der Zeit Ernüchterung ein. Betroffen registrierte er eine von ihr ausgehende zunehmende Distanziertheit. Die ausgetauschten Briefe wurden sachlicher. Am 17. Oktober 1857 resümierte Brahms schließlich in einem Brief: „Leidenschaften gehören nicht zum Menschen als etwas Natürliches. Sie sind immer Ausnahme oder Auswüchse. Bei wem sie das Maß überschreiten, der muss sich als Kranken betrachten und durch Arznei für sein Leben und seine Gesundheit sorgen. (…) Leidenschaften müssen bald vergehen, oder man muss sie vertreiben.“ Zeitlebens blieb Brahms jedoch in freundschaftlichem Kontakt zu Clara und schrieb ihr noch 1896 kurz vor ihrem Tod: „Wenn Sie glauben, das Schlimmste erwarten zu dürfen, gönnen Sie mir ein paar Worte, damit ich kommen kann, die lieben Augen noch offen zu sehen, mit denen für mich sich – wie viel - schließt.“ Brahms in der Kritik seiner Zeitgenossen Brahms als Nachfolger Beethovens? Brahms wird noch heute vielfach als der „legitime Nachfolger Ludwig van Beethovens“ bezeichnet. Diese Bezeichnung, der Brahms schon zu Lebzeiten skeptisch gegenüber stand, hat ihren Ursprung vor allem im Musikstreit des 19. Jahrhunderts, der zwischen den Anhängern der konservativen, absoluten Musik und den sich als fortschrittlich betrachtenden „Neudeutschen“ entbrannte. Der Musikstreit Schon 1860 kam es zu offenen Differenzen zwischen den der Tradition verbundenen Verfechtern der absoluten Musik und den Anhängern der unter Franz Liszt gegründeten „Neudeutschen Musik“ (auch: Neudeutsche Schule genannt). Der Streit beruhte auf einem grundsätzlich unterschiedlichen Verständnis der Musik. Liszt und Richard Wagner hatten sich die „Zukunftsmusik“ auf ihre Fahnen geschrieben. Sie wollten die Entwicklung der Musik mit der Sinfonischen Dichtung und dem Musikdrama unbedingt vorantreiben. Ein in dem Kontext neues und zugleich drittes Stichwort bildete die sogenannte Programmmusik. Sprachrohr der Neudeutschen war die von Franz Brendel übernommene „Neue Zeitschrift für Musik“. Zu den Traditionalisten wiederum gehörten u. a. Joseph Joachim, Brahms und der Musikkritiker Eduard Hanslick, dessen Parteinahme für die Musik von Brahms zugleich Basis einer intensiven Freundschaft zwischen beiden war. Deren Ziel war, was Brahms mit seinem Lieblingsausdruck „dauerhafte Musik“ beschrieb, nämlich dass Musik dem historischen Wandel durch ihre spezifische Qualität entzogen sei. Mit einem Manifest, das auch Joachim und Brahms unterschrieben hatten, protestierten die Vertreter des konservativen Lagers gegen die ihren Vorstellungen zuwiderlaufenden Entwicklungen musikalischer Strömungen und heimsten prompt eine Verhöhnung ein. Der Text gelangte durch eine Indiskretion noch vor seiner Veröffentlichung in die Hände der Angegriffenen und war somit korrumpiert. Die Neudeutschen antworteten mit einer Persiflage auf das Manifest, bescheinigten damit dessen Verfassern, einen „Bruderbund für unaufregende und langweilige Kunst“ zu schmieden und setzten u.a. ein „J. Geiger“ (für Joseph Joachim), ein „Hans Neubahn“ (für Johannes Brahms – Anspielung auf den Artikel „Neue Bahnen“) und ein „Krethi und Plethi“ darunter. Damit war die Stimmung zwischen den zerstrittenen Parteien endgültig verdorben. Brahms und Wagner blieben zeitlebens auf kühler Distanz zueinander. Während Brahms sich vorsichtig zurückhielt, konnte Wagner es in einigen Äußerungen nicht lassen, seine Abfälligkeit über Brahms’ Musik zum Ausdruck zu bringen. Allerdings sah Brahms in Wagner keinen wirklichen Konkurrenten, da dieser fast nur Opern komponierte - eine Gattung, der sich Brahms nie zuwendete. Somit waren die Betätigungsfelder beider Musiker klar umrissen. Unter den mehr oder weniger mit Wagner in Verbindung gebrachten Komponisten betrachtete Brahms lediglich Felix Draeseke und Anton Bruckner als ernstzunehmende Rivalen auf den Gebieten der Chor-, Kammer- und Orchestermusik. Eduard Hanslicks Parteinahme für Brahms dürfte maßgeblich zu der Einschätzung beigetragen haben, er sei Beethovens Nachfolger, denn Hanslick war zu seiner Zeit einer der einflussreichsten Musikkritiker Wiens und stellte seine Herausgehobenheit ganz in den Dienst der Konservativen. Und noch eine Person offenbarte sich als glühender Verehrer dieser Richtung: Hans von Bülow. Er, der ursprünglich überzeugter Wagnerianer gewesen war, vollzog den Bewusstseinswandel, nachdem ihm Wagner seine Frau Cosima ausgespannt hatte. Bülows Haltung zu Brahms manifestierte sich vor allem in dem berühmt gewordenen Ausspruch, die erste Symphonie von Brahms sei die zehnte von Beethoven. Beurteilungen * Friedrich Nietzsche:...was liegt noch an Johannes Brahms! ... Sein Glück war ein deutsches Missverständniss: man nahm ihn als Antagonisten Wagners, - man brauchte einen Antagonisten! - Das macht keine nothwendige Musik, das macht vor Allem zu viel Musik! - Wenn man nicht reich ist, soll man stolz genug sein zur Armuth! ... Die Sympathie, die Brahms unleugbar hier und da einflösst, ganz abgesehen von jenem Partei-Interesse, Partei-Missverständnisse, war mir lange ein Räthsel: bis ich endlich, durch einen Zufall beinahe, dahinter kam, dass er auf einen bestimmten Typus von Menschen wirkt. Er hat die Melancholie des Unvermögens; er schafft nicht aus der Fülle, er durstet nach der Fülle. Rechnet man ab, was er nachmacht, was er grossen alten oder exotisch-modernen Stilformen entlehnt - er ist Meister in der Copie -, so bleibt als sein Eigenstes die Sehnsucht... Das errathen die Sehnsüchtigen, die Unbefriedigten aller Art. Er ist zu wenig Person, zu wenig Mittelpunkt... Das verstehen die "Unpersönlichen" die Peripherischen, - sie lieben ihn dafür. In Sonderheit ist er der Musiker einer Art unbefriedigter Frauen. Fünfzig Schritt weiter: und man hat die Wagnerianerin - ganz wie man fünfzig Schritt über Brahms hinaus Wagner findet -, die Wagnerianerin, einen ausgeprägteren, interessanteren, vor Allem anmuthigeren Typus. Brahms ist rührend, so lange er heimlich schwärmt oder über sich trauert - darin ist er "modern" -; er wird kalt, er geht uns Nichts mehr an, sobald er die Klassiker beerbt ...Fasslicher, für die "Armen im Geiste" ausgedrückt: Brahms - oder Wagner ... Brahms ist kein Schauspieler... (Der Fall Wagner, Zweite Nachschrift) * Wilhelm Furtwängler: Seine Werke werden mit höherem Alter immer knapper, dichter, gedrängter, in der Empfindung dabei immer schlichter. Und es zeigt sich gerade an ihm, dass es eine Entwicklung und Entfaltung nicht nur nach der Seite der Vielfältigkeit hin gibt, sondern auch nach der Einfachheit (...). (Aus einer Rede von 1931) * Arnold Schönberg: Von Brahms habe ich gelernt: Vieles von dem, was mir durch Mozart unbewusst zugeflogen war, insbesondere Ungradtaktigkeit, Erweiterung und Verkürzung der Phrasen Plastik der Gestaltung: Nicht sparen, nicht knausern, wenn die Deutlichkeit größeren Raum verlangt; jede Gestalt zu Ende führen Systematik des Satzbildes Ökonomie und dennoch: Reichtum.. (In "Nationale Musik, 1931) * Carl Dahlhaus: Brahms war weder ein Schumann- noch ein Beethoven-Epigone und dennoch ein musikalischer Konservator. Und sein Konservatismus war insofern ästhetisch legitim, als Brahms Traditionsbestände nicht blind übernahm, sondern sie in einen Prozess des Weiterdenkens hineinzog, ohne andererseits ihre Substanz auszulöschen. ("Brahms und die Idee der Kammermusik", 1990)