Valeria Hellberger Die Nationalitäten der Habsburger Monarchie 1848-1918 Verlag Christian Brandstätter Valeria Heuberger UNTER DEM DOPPEL ADLER Die Nationalitäten der Habsburger Monarchie 1848-1918 Verlag Christian Brandstätter 73 Inhalt 7 Die Nationalitäten 25 Die Deutschen 45 Die Italiener 55 Die Juden 63 Die Kroaten 13 Die Magyaren 91 Die Polen 101 Die Rumänen 117 Die Ruthenen/Ukrainer 75/ Die Serben 143 Die Slowaken 255 Die Slowenen 165 Die Tschechen 185 Die kleinen Völker 799 FlNIS AUSTRIAK ukksla1t Ilji/,,,nit* Vtírallihiu 1 i> S i ( o —1 / ,P>i7>rrrm , OlmfitrX I »••'■'•'"V'Hffl TtSpg&xg—----T"ilicVčów . « Knihovna FF MU Brno 2570712803 Übersichtskarte der ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN MONARCHIE mit den Grenzen für den politischen nnd gerichtlichen Verwaltungsdienst. Maßstab 1 : 4,000.000. 1 ^'v%^f^a.>'"-s.' J^sM/ '"'/ll/ '"ajin.i. >4> figp' 11 slyšil,,.,,/'., 1 Zeichenerklärung: rr??. Monarchiegrenze Oberlandesgerichts- ()reiize{ii< Österreich) •=r: Landesgrenze ... Gerichlstafelgrenze tf ®> Amtssitz des Ober- Tr?Äs Statthaltern-oder landesgerichtes v£/ Landesregierungs-^ Amtssitz der Gerichtssitz tafel In Wien, Budapest, Agrum iler Oberste Gerichtsund Cassath>nshof, 2570712803 Die Nationalitäten der Habsburgermonarchie 1848-1918 Österreich- Ungarn. Bildpostkarte. Farblithographie. Um 1900 Gegenüber unten: Österreich: Kaiserlied. Pahnm-SammeBnld ans der Serie IS. Bild 2. Farblitbograpbie. Um 1900 „ ... spöttisch, furchtlos und ohne Bedenken pflegte Chojnicki zu sagen, der Kaiser sei ein gedankenloser Greis, die Regierung eine Bande von Trotteln, da- Reichsrat eine Versammlung gutgläubiger und pathetischer Idioten, die staatlichen Behörden bestechlich, feige und faul. Die deutschen Österreicher waren Walzertätizer und Heurigensänger, die Ungarn stanken, die Tschechen warm geborene Stiefelputzer, die Ruthenen verkappte und verräterische Russen, die Kroaten und Slowenen, die er ,Krovoten und Schlawiner' nannte, Bürstenbinder und Maronibrater. und die Polen, denen er ja selbst angehörte, Courmacher, Friseure und Modephotographen." Joseph Roth, Radetzymarsch Werbemarke anläßlieb des 60jäbrigen Regierangsjubiläums Kaisei- Franz Josephs l. Farblitbograpbie von Bertold Löfflet: 1908 Oesterreich Im Jahre 1908 beging Kaiser Franz Joseph sein sechzigjähriges Regierungsjubiläum. Am 12. Juni, einem Freitag, fand aus diesem Anlaß ein pompös inszenierter Festzug statt, bei dem die Völker des Reichs ihrem Monarchen huldigten. Historische Szenen aus der Geschichte des Hauses Habsburg wurden von Teilnehmern an dem prunkvollen Defilee nachgestellt, vor allem aber hatten sich Hunderte Menschen aus den Kronländern eingefunden, um auf kunstvoll aufgeputzten Pferdewagen, in den buntesten Trachten an ihrem Kaiser vorbeizuziehen, ihm Lieder darzubringen, Tänze vorzuführen und den in die Tausende gehenden Zuschauern des Spektakels einen „Einblick in das Volksleben" zu gewähren. Die ganze ethnische Vielfalt der Monarchie fand dabei Berücksichtigung. Von Dalmatien im Süden, das mit dreihundert Teilnehmern vertreten war, bis Galizien und der ethnisch besonders vielfältigen Bukowina im Osten des Reichs war alles aufgeboten worden, um die Mannigfaltigkeit der Völker in den Kronländern aufzuzeigen. Für Mähren traten etwa Deutsche und Slowaken auf, für die Küstenlande - Triest, Istrien, Görz und Gradi-sca - Italiener, Deutsche, Slowenen, Kroaten und Furlaner, für Tirol Deutsche, Italiener und La-diner. Die Tschechen fehlten freilich, hatten sie sich doch durch die zuvor erfolgte deutschnationale Polemik verärgern lassen und deshalb auf ihre Teilnahme verzichtet. Ein Blick auf die Karte von S. 8/9 zeigt, daß die Habsburgermonarchie ein gewaltiges Territorium umfaßte und einen großen Teil der „Landmasse östlich von Triest" ausmachte. Dieses Konglomerat von Ländern, Königreichen, Herzogtümern und Grafschaften hatte sich in einem jahrhundertelangen historischen Entwicklungsprozeß herausgebildet: vergrößert durch Heiraten, verkleinert durch verlorene Schlachten. Obwohl nach dem Ausgleich von 1867 Deutsche und Magyaren in der österreichischen beziehungsweise der ungarischen Reichshälfte nicht die absolute Bevölkerungsmehrheit stellten, hatten beide Bevölkerungsgruppen aufgrund der vorangegangenen historischen Entwicklung die politische, wirtschaftliche und kulturelle Vormachtstellung inne. Die Deutschen der Habsburgermonarchie spielten dabei bis 1866 auch im gesamteuropäischen „Konzert der Mächte", im Rahmen des Deutschen Bundes, eine führende Rolle, der sie erst nach J^aiserlied. Die Nationalitäten Die Nationalitäten der Katastrophe von Königgrätz (Hradec Králové) entsagen mußten. In der cisleithanischen Reichs-hälfite war Deutsch die führende Sprache in der Verwaltung und im öffentlichen Leben; im inneren und äußeren Amtsverkehr war es ebenso vorrangig. Neben der deutschen Sprache kam aber auch etwa dem Italienischen - jeweils bis zum Verlust der oberitalienischen Provinzen - in der Lombardei, in Venetien, im Trentino, in Dalmatien und im ehemals venezianischen Teil Istriens eine ähnliche Vormachtstellung zu. Vielfältig war also das Habsburgerreich: von den Sprachen her, die seine Bewohner beherrschten, über die unterschiedlichsten Landschafts- und Klimazonen, die Bekleidung, das Brauchtum, die Eßgewohnheiten und letztlich die iVIentalität seiner Bürger. Von der Reichshaupt- und Residenzstadt Wen ausgehend, erstreckte sich das Reich nach Westen über die sanften Hügel des Wienerwalds, die Berge und Seen Oberösterreichs und der Steiermark, das verspielt-barocke Salzburg, die hohen Gipfel Tirols, die grünen Wälder und Almmatten Krains, verlief dann südwestlich über den Karst nach Triest, von dessen Hafen aus Schiffe in alle Welt in See stachen, und erreichte schließlich die Adria. Verließ man Wien in nördliche Richtung, so gelangte man zuerst nach Mähren, dann weiter nach Böhmen, das eine eigene Welt in sich war: mittelalterliche Märchenburgen, fruchtbares Ackerland, Fischteiche, Städte mit engen, kleinen Gäßchen, die schließlich in weite Marktplätze mit prachtvollen Renaissancearkaden mündeten, berstend vor geschäftigem Treiben; weiter dann in das „goldene Prag", durch die Gebirgstäler Schlesiens bis nach Krakau und hinein in die galizische Ebene. Die Ausläufer der Karpaten mit dichten, urwaldgleichen Wäldern reichen hier bis ins Tiefland; urwüchsig ist die Vegetation, archaisch muten auch die menschlichen Siedlungsspuren in dieser Wildnis aus Bäumen und Felsen an. Die Bukowina mit ihrem Zentrum Czernowitz (Černivci) schloß sich an; hier mischten sich, wie wohl sonst kaum auf so kleinem Raum, Religionen und Kulturen, lebten Rumänen und Ruthenen, Huzulen und Polen, Armenier, Deutsche und Juden. Letztere hielten hier ganz besonders die deutsche Sprache und Kultur in Ehren. Dieses kleine Kronland am Rande des Russischen Reichs verkörperte ein Europa en miniatuře, einen lebendigen Mikrokosmos, der stets Dresden"* ;V1 A'iiri 'nberg Xar/söc 'IVib/am yensbih íľei.1 Ingolstadt sbiaxf-fasst Ptttai Linz 1 Q s zsfei r havsbnick . ....... ZeJl S l e denbu NATIONALITÄTEN ■und Sprachen-Karte ■von ÖSTERREICH-UNGARN. Maßstab 1 7,500.000 MO JO 0 lOQ K: li. n Inden gemischten Sprachgebieten ist stets nur die überwiegende und vorwaltende Nationalität, in roHerfarbe ausgedrürkl. 15 Ostl. ].ange v. Greerovicži 20 •lau 25 S * oieJVfZ, telßaU wIENJ í A c a I1 r&tt\ oben (N Vr- vo \ kšcxta Ü0 50 o Lj „ Layroczne Q, SzatniárNan Yeszpre'm hdkersburg/ ^Kanizsa ^^"Wamsam\ _ /■iin/i/arBpen^ . ____cs Q O Agrum Sišselc X. MSzigl Sn^eisseÁbgKr[fJa VL ^ara V- Kecskemé* Ťulacsa \ rC Q a 1 (á°/foAj»neJ!Ô Vis )Thih-esiopel Ví^->~\-0 JGUatS Yaskolt cJ ■o zászJ ■Isbi. KarliburgJ) q o Bropí Heniu Brod O v Jfeusatz J'rjedor) / nSrvka 'mmduJsaü) Mat/la/^ i í t et „Ja/ee Zvonukč B Ott iií i e II ^%\\§Sebemc foch * RY~^@Perscfietz RvrinüQ Mo. enfceavin: 'Mrikori/ 5 Rukawst 45 Vergleichende numerische Grössenverhältnisse der Nationalitäten Österreich -Ungarn's. Deutsche 10.:)00.000°251% IiiÖstai:&8iC.noo-3eT/. ^ŽŘg^J^^^ 7.770.000-17 8% Ŕ^c^? : y-Sfô^^v -■ ľ/tfi&>t«W'^ XÔ0S000 • 172% \<,,,w»> mm *,879.0O0 Iöx>atenu.Serbcii • \bi Ostern- /ss% 3900oÖÖ| Polen ■ 9%d3evč0k.v Ost -Inu \(}:;í?7&700 r.3sa$š$l 3,668.000 Ruthenen -8 4-7. Gesamint-Anjahl mm^mml 2.940.000Rumänen • 67% d%5*OOBO \i):i,z-mtU^ľ:K.ooo Slovenen 1,325.000 ■ 3% &/,zmo^lr:.er 1900. Photographie -. .. ■■ ■ 21 Die Nationalitäten Die Nationalitäten Karikatur aus der Zeitschrift „Hans Jörg!" zur \ ligration der Tschechen nach Wien. Farblithographie von Vinzenz Kitzler. 1869 Zwei Kirchen befinden sich in diesem Stadtviertel: St. Barbara für die unierten, Rom unterstellten Ukrainer und St. Georg für die griechisch-orthodoxen Gläubigen. Die Ungarn wiederum waren vielfach als Mitglieder der Leibgarde Maria Theresias nach Wien gekommen, das für sie ja nicht die Kaiser-, sondern bloß die Königsstadt war. György Besseney (1747-1811), einer der bekanntesten Dichter und Denker der Aufklärung in Ungarn, verbrachte auf diese Weise auch Zeit in Wien. Diese „Welt der Sicherheit", wie Stefan Zweig die Donaumonarchie der Jahrhundertwende in „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers" bezeichnete, war Heimat für eine Vielzahl von Völkern gewesen, mit unterschiedlichen Sprachen, Religionen, Kulturen, politischen Vorstellungen und sozialen Normen. Inmitten Europas hatte das Habsburgerreich jahrhundertelang den beinahe mystischen Glanz des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation verkörpert, zeitweise die Geschicke der alten und neuen Welt gelenkt und in seinem Staatsverband eine Fülle von großen und kleinen Völkern vereint, deren Namen uns heute wie diejenigen exotischer Stämme anmuten, für unsere Urgroßeltern und Großeltern aber Teil ihres Alltagslebens waren: „An die graue Mauer eines Hauses gelehnt, hockt mitten in der Stadt ein Hirte in gesticktem, weißem" Pelz. Er hat seinen Stab an die Wand gelehnt, sein Binkel liegt neben ihm. Eine Lammfellmütze hat er auf dem Kopf. Ruhig schneidet er hier mitten in der fremden Stadt Schnitten von seinem Speck und ißt Brot dazu, schaut ruhig mit ernsten Augen um sich - die große Stadt hat keinen Schrecken für ihn: 22 er ist weit gegangen, es ist Mittag, er ißt. ,Ein Kro-wot', sagen die Leute, denn die Wiener nennen alles einen Krowoten, was weiß angezogen ist und wie ein Bauer aussieht. Ein Offizier geht vorbei und spricht ihn in seiner Sprache an. Der Mann ist gar nicht erstaunt, denn es versteht sich doch von selber, daß ein vernünftiger Mann seine Sprache kann. Er antwortet freundlich mit vollem Mund und bleibt sitzen und ißt weiter. Gleich bleibt eine Menge Menschen stehen. So ist das in Wien: erst gehen die Leute an allem vorbei, wenn aber einer stehenbleibt und schaut, dann bleibt gleich ein Dutzend stehen und schaut mit. Der Offizier erklärt: ,Das ist ein Huzule. Er kommt zu Fuß aus den Karpaten; seit zwanzig Tagen ist er unterwegs. Er besucht seinen Sohn, der in Wien beim Militär dient.' (Fragen Sie einen Berliner, was Huzulen oder Goralen sind, so wird er sagen: ,Huzulen sind ein Volksstamm in Afrika, und Goralen wachsen im Meer und man schreibt sie mit hartem K - Kappa.') Ja, so ein Land ist das und solche Leute trifft man in Wien alle Tage." (Otto Friedländer, Letzter Glanz der Märchenstadt. Das war Wien um 1900). Links: Austritt mit shnvischer und magyarischer Amme. Satirisches Blatt auf die Sationalitäten-konflikte und Aus-glticbsvcrbandhmgen. Farblithographie von Vinzenz Kitzler. 1869 Unten: Die Wiener Ringstraße von der Bellaria, im Vordergrund das Parlament, das noch unvollendete Rathaus, Universität und I otivkir-che. Photographie. Um 1880 717 iiiiininiit 7i7 ■ 111I Die Italiener Die napoleonischen Kriege hatten ganz Europa in Aufruhr versetzt. Landesgrenzen waren willkürlich verändert worden, neue Königreiche und Fürstentümer entstan den, den europäischen Völkern die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vermittelt worden. Um nach der Niederlage Napoleons die bisher gewohnte Staatsund Weltordnung erneut zu errichten, tagte in Wien 1815 ein Kongreß, der die Landkarte Europas -wenngleich unter den alten dynastischen Auspizien - neu zeichnen sollte. In der Schlußakte dieses Wiener Kongresses fand sich in Artikel 93 und 94 folgendes vermerkt: „ ... erkennen die Signatarmächte des gegenwärtigen Vertrages Se. M. den Kaiser von Osterreich, seine Erben und Nachfolger als rechtmäßigen Souverän der Provinzen und Gebiete an. [...] das österreichische und ehemals venetianische Istrien, Dal-matien, die ehemals venetianischen Inseln im adria-tischen Meer, die Bucht von Cattaro, die Stadt Venedig, die Lagunen sowie die anderen Provinzen und Distrikte des Festlandes der ehemaligen venetianischen Staaten am rechten Ufer der Etsch, die Herzogtümer Mailand und Mantua, die Fürstentümer Brixen und Trient, die Grafschaft Tirol, Vorarlberg, das österreichische Friaul, das ehemals venetianische Friaul, das Gebiet von Monfalcone, Stadt und Gebiet von Triest, Krain, Oberkärnten, Kroatien am rechten Ufer der Save, Fiume und das ungarische Küstenland, und den Bezirk von Castua. [...] 1) Außer den Teilen des Festlandes der venetianischen Staaten, welche im vorgehenden Artikel genannt wurden, die anderen Teile dieses Staates, ebenso das ganze übrige Gebiet zwischen dem Tes-sin, dem Po und dem adriatischen Meer, 2) das Veltliner Tal, Bormio und Chiavenna, 3) das Gebiet der ehemaligen Republik Ragusa." Oben: „Italiener". Aus: „Trentsensky's l ölkertrachten ". Kolorierte Lithographien nach Entivarfen von Moritz von Schzind and Matthäus Loder. U/n 1822/2S Gegenüber: „Salamatschi-Mann": Italienischer Warst- und Käseverkäufer in Wien. Bildpostkarte ans einer Serie mit „Wiener Typen". Um 1900 Das Haus Habsburg besaß umfangreiche Besitzungen in den von Italienern bewohnten Territorien im Süden und Südwesten des Reichs, die sich, wie etwa Triest, schon seit Jahrhunderten im Verband Österreichs befanden; manche Regionen - wie etwa Venetien seit dem Frieden *► von Campoformio, 1797, oder die Lombardei seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts - gehörten erst kürzere Zeit zu Österreich. Zwischen 1815 und 1859 stellten die Italiener mit beinahe fünf Millionen eine der größten nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen der Monarchie dar, und bis 1859 beziehungsweise 1866 siedelten sie in einem beinahe geschlossenen Gebiet. Dies sollte sich mit dem Verlust von Venetien ändern, die Italiener waren nunmehr in voneinander geographisch getrennten Regionen zu finden, die sie mit anderen Völkern - Slowenen, Kroaten, Deutschen, Ladinern und Furlanern - teilten. Der Prozeß des „Risorgimento", des Verlangens nach \ ereinigung aller Italiener in einem unabhängigen Staat, machte auch vor der italienischen Bevölkerung Österreichs nicht halt. Für Österreich war es daher immer schwieriger geworden, der von Piemont ausgehenden nationalen Einigungsbewegung Einhalt zu gebieten; Piemont hatte es verstanden, sich durch die Teilnahme am Krimkrieg auf Seiten der siegreichen Briten und Franzosen die Dankbarkeit der europäischen Mächte zu erwerben. Es erschien daher als der geradezu logische Anführer im Kampf um die Einigung Italiens und der Italiener. Österreich sollte im Zug der außenpolitischen Entwicklung nach 1856 daraufhin nicht nur Schlachten, sondern auch Territorien verlieren: 1859 die Lombardei, 1866 Venetien mit den Städten Mantua und Peschiera. Obwohl die Lombardei mit ihrer starken irredentistischen Bewegung nicht 45 Die Italiener II ösü. L.v.GrcciTwicH Städte mit 10—50% 0 Deutschen Italienern Nationalitäten- ei Sprachen-Karte von TIROL UND VORARLBERG. Farben-Erklärung: _Oebiete mit Uber 50°/o ' Deutschen i_i Italienern 1 I Lailinern u. Rhäto-Roman i I Friaulern Sationalitäten- und Sprachen-Karte von Tirol und Vorarlberg. Alts: Prof. Anton Leo Hichnanns geographisch-statistischer Taschen-Atlas von Osterreich-Ungarn. Wien 1900 einfach zu verwalten gewesen war, hatte sie doch eine reiche Provinz dargestellt, von der sich zu trennen dem Kaiserhaus - auch aus dynastischem Prestigegefühl - schwerfiel. Das Nationalbewußtsein der Italiener des Habsburgerreichs befand sich, je nachdem, wie lange sie ihm zugehörig gewesen waren, auf einer unterschiedlichen Entwicklungsstufe. Die Ziele der italienischen Nationalbewegung waren demgemäß auch nicht immer einheitlich, sie reichten von der Forderung nach völliger Unabhängigkeit bis zur Verwaltungsautonomie. Im Fall von Triest und dem östlichen Trentino kam ein historisch bedingtes, jahrhundertealtes Regionalbewußtsein hinzu. In rein italienisch besiedelten Gebieten, wie dem Trentino, lagen die öffentliche Verwaltung und das Schulwesen in den Händen der Italiener, nur Polizeiangehörige und Militärs gehörten vielfach ande- Die Italiener ren Nationalitäten an. In den ethnisch und sprachlich gemischteren Gebieten hatte das Beamtenkorps stets auch Angehörige, die die jeweils regionale Sprache beherrschten - ein charakteristischer Zug des Verwaltungssystems der Monarchie. Im Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 hieß es demgemäß auch, daß die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen im Schulwesen, im Amtsverkehr und öffentlichen Leben vom Staat anerkannt werde. Den Italienern wurde also nichts in den Weg gelegt, dem Staat als Beamte, LTniver-sitätslehrer und im Heer zu dienen. Obwohl die Italiener in ihren Siedlungsgebieten fast durchwegs die politisch, ökonomisch und kulturell führende Schicht darstellten, wachten sie doch stets besorgt über die Beibehaltung ihrer privilegierten Stellung. Sie glaubten generell, sich gegen verschiedene Seiten verteidigen zu müssen: gegen das Slawentum im Küstenland und gegen das Deutschtum in Südtirol. Hermann Bahr beschreibt in seinen Tagebüchern die Krawalle in Innsbruck vom 3. November 1904, als an der dortigen Universität eine italienische juridische Fakultät hätte eröffnet werden sollen: Italienische Geschäfte wurden demoliert, deutsche und italienische Studenten lieferten einander wüste Prügeleien. Dabei waren die Italiener, ging es um die nationalen Anliegen anderer, etwa der Slowenen, keineswegs entgegenkommend. In den mehrheitlich italienisch bewohnten Gebieten Westistriens, in und um Capodistria (Köper), Parenzo (Porec) und Mitterburg (Pisino, Pa-zin) stellten etwa Slowenen und Kroaten voll Ingrimm massive italienische Beeinflußungsversuche bei Volkszählungen fest. Die italienischen Zählorgane, so hieß es in einer Beschwerde, fragten nicht: „Welche Sprache sprechen Sie, sondern er fragt: Paria lei italianor Oder er stellt ihm überhaupt die eine oder andere Frage in italienischer Sprache, und wenn er sie auch nur mit ,si' oder ,no' beantwortet, ist er schon mit italienischer Umgangssprache eingetragen, er ist Italiener, der italienische Schulen, italienische Kirchen und italienische Sprache in den Ämtern haben muß." In Dalmatien stellten die Italiener im politischen Bezirk Zara (Zadar) - in der gleichnamigen dalmatinischen Hauptstadt beinahe ausschließlich - die Bevölkerungsmehrheit. Im Königreich Ungarn machten die Italiener nach den Polen und Slowenen die zahlenmäßig kleinste Bevölkerungsgruppe aus. Um 1910 waren dies an die 240000 Personen, die vor allem in Fi-ume (Rijeka, St. Veit am Pflaum) siedelten. Fiume hatte bis zum Ende des 15. Jahrhunderts zum Herzogtum Krain gehört und war dann als eigene Verwaltungseinheit mit dem österreichischen Teil Istri-ens - der größere Teil Istriens blieb venezianisch -zu Triest gekommen. Erst 1776 war Fiume wieder von Triest getrennt worden und fiel an Kroatien, dann 1779 an Ungarn, das hiermit einen Seehafen Oben: Riva am Garda-see. Photographie. Um 1900 L ntcn: Arco. Photographie. Um 1900 46 4" Die Italiener Die Italiener Rechts: „Österreichische Riviera". Bildpostkarte. Um 1910 Unten: Triest: Piazza Grande mit dem Gebäude des Österreichischen Lloyd. Farbautocbrom. Um 1910 Gegenüber (von oben nach unten): Görz (Gorizia), Via Kastello. Photographie. Um 1910 Capodistria (Kopa), Rathaas. Um 1905 Fitmie (Rijeka), Via del Pozzo. Photographie. Um 1900 _österreichische Riviera. II IUI st Martin iRäIDISCaI ■±Jioril)Uronr ^. > *ÄrVJ rÚirtnH- ««iSwfi* fy o»tl Lw-Ofinwich Buchhandlung .Mandria" Abbszia. Nachdruck verboten mT>. erhielt. Es wurde zum corpus separatum erklärt und blieb bis 1809 bei Ungarn, wurde dann dem von den Franzosen geschaffenen Königreich Illyrien zugeschlagen, fiel 1815 erneut an Ungarn, war von 1848 bis 1868 Teil Kroatiens und kam dann wieder zu Ungarn, in dessen staatlichem Rahmen es von einem Gouverneur regiert wurde. Fiume hatte eine beinahe rein italienische Bevölkerung, zu der erst im 19. Jahrhundert auch Kroaten aus dem die Stadt umgebenden Umland kamen. Nach der ungarischen Volkszählung von 1910 hatte Fiume mehr als 46000 Einwohner, davon waren an die 24000 Italiener, mehr als 15 000 Kroaten und mehr als 6000 Magyaren, zumeist Beamte oder Kaufleute. Dazu kamen noch rund 2 000 Deutsche. Das kroatische Wahlgesetz vom 3. Jänner 1883 räumte Fiume das Recht ein, zwei Abgeordnete in den kroatischen Landtag nach Agram zu entsenden, obwohl davon kein Gebrauch gemacht wurde. Im Reichstag in Budapest waren jedenfalls keine Italiener zu finden. Das lag auch daran, daß das passive Wahlrecht an die Kenntnis des LTngarischen gebunden war, und die Italiener beherrschten diese Sprache eher selten. Dafür besaßen sie eine gewisse Territorialautonomie: Ungarisch war zwar die Amtssprache, das Italienische aber aufgrund des ungarischen Gesetzesartikels XLVn vom 6. Dezember 1868 bei den Gemeindebehörden als innere und äußere Amtssprache zugelassen. Neben den Siebenbürger Sach- afp ■ v sen waren die Italiener in Fiume die zweite seit dem Mittelalter auf ungarischem Territorium lebende Bevölkerungsgruppe mit Sonderrechten. Sie besaßen eigene - sogar höhere - Schulen mit italienischer Unterrichtssprache, weiters ein eigenes Pressewesen. Im kroatischen Küstengebiet einschließlich der bis 1881 bestehenden Militärgrenze, die in diesem Jahr Kroatien eingegliedert und somit Teil der kroatischen Autonomie wurde, lebten in den Orten Buccari (Bakar) und Carlopago (Karlopag) ebenfalls Italiener, weiters gab es um Zengg (Senj) eine kleine italienische Bevölkerungsgruppe. Hier waren die Italiener allerdings ohne Italienischunterricht oder eigene Zeitungen, Kroatisch galt als Amtssprache. Nach Bosnien-Herzegowina waren Italiener seit den 1880er Jahren als Arbeitsmigranten, vor allem als Steinmetze und Arbeiter beim Eisenbahnbau gekommen. Für die bosnische Bevölkerung, die bisher nur wenig mit Italienern zu tun gehabt hatte, galten diese dann auch als etwas besonders Auffälliges und Fremdes. Ivo Andric schildert in seinem Roman „Die Brücke über die Drina" solch einen italienischen Maurer, der von der Visegrader Bevölkerung nach dem Mord an Kaiserin Elisabeth, 1898, nur mehr „Luccheni" - nach dem Attentäter - genannt wurde. Neben diesen Arbeitsmigranten fanden sich in Bosnien aber auch italienische Ansiedler. Einige Gemeinden im Trentino befanden sich nämlich in einer derart schlechten wirtschaftlichen Lage, daß die österreichischen Behörden als Ausweg die Ubersiedlung nach Bosnien anregten; an die 300 Familien, um die 1 500 Personen, zogen auf diese Weise nach Bosnien, wo sie bis in unser Jahrhundert - erst im Mai 1940 erfolgte ihre Rücksiedlung nach Italien - leben sollten. Die wohl am deutlichsten erkennbare Sprachgrenze der Monarchie fand man in Tirol, zwischen „Welschtirol" und „Deutschtirol". Beide Bevölkerungsgruppen lagen dabei in einem permanenten Kampf um die Feststellung ihrer zahlenmäßigen Größe. Bei den Volkszählungen kam es regelmäßig zu Protesten von Seiten der Deutschen, da die La-diner nicht gesondert erfaßt, sondern zu den Italienern gezählt wurden. Die Deutschtiroler sahen darin eine Verfälschung des tatsächlichen Zustands. Wie hoch die Anzahl der Ladiner, die eine rätoromanische Sprache sprechen, nun aber tatsächlich war, ließ sich schwer sagen. Schätzungen gingen 49 Die Italiener Oben: Traditionelle Ampezzaner Tracht aus der Umgebung von Cortina dAmpezzo. Kolorierte Photographie. 1906 Rechts: Tracht aus Udine, Friaul. Photographie. Um 1910 von 20000 aus, die diesbezüglichen Unterschiede sollten aber - je nachdem, von wem die Zählung durchgeführt wurde - stark differieren. Der deutsche „Tiroler Volksbund" nannte für das Jahr 1910 etwa eine Zahl von 80000. Der Streit um die Ladi-ner diente also primär dazu, der jeweils deutschen oder italienischen Seite neue Munition für die vielen Scharmützel im nationalen Kleinkrieg zu liefern. Nur einmal, 1851, waren die Ladiner zahlenmäßig extra ausgewiesen worden, wobei sich eine Zahl von 9000 ergab. Danach hatte man sich aber darauf geeinigt, die Angabe der Umgangssprache auf die anerkannten Nationalitäten zu beschränken und Ladinisch als - ebenfalls romanische Sprache -gemeinsam mit dem Italienischen zu erheben. Dabei bestanden etwa 1908 im Bezirk Bozen drei und im Bezirk Bruneck acht Volksschulen mit ladini-scher Unterrichtssprache. Trotzdem war nicht vorgesehen, dem Ladinischen das Kriterium der „Schriftsprache" zu gewähren, wie sie bei einer eigenen Erhebung im Falle einer Volkszählung nötig war. Ahnlich lag die Situation bei den Furlanern, den Bewohnern Friauls, für die die Deutschen ebenfalls eine gesonderte Feststellung forderten. Dagegen sprach, so die Antwort der Statistischen Zentralkommission in Wien an das Innenministerium, die Rücksichtnahme auf die Italiener; natürlich, so die Statistiker, erkenne man den eigenständigen Charakter der Sprachen der Ladiner und Furlaner an, die Italiener würden diese Änderung des bisherigen Zustands aber als politische Herausforderung auffassen. Diese Entscheidung fiele weiters umso leichter, als bei Ladinern und Furlanern ohnedies umstritten sei, in welchem Ausmaß sie ein eigenständiges Nationalbewußtsein hätten. In einem Erlaß vom 26. Juli 1910 beschloß das Innenministerium, die gemeinsame Erhebung der italienisch—ladinischen Umgangssprache weiterhin durchzuführen. Offiziell hieß es dazu, daß bei den Ladinern „das Selbstbewußtsein nicht einmal soweit gediehen [wäre], dass die Ladiner ihrerseits das Verlangen nach abgesonderter Erhebung, wenigstens der Behörde gegenüber, auch nur ausgesprochen hätten". Der Kampf um die Verwendung des Die Italiener Deutschen oder Italienischen prägte auch die kommenden Jahre. In den gemischtsprachigen Gebieten war die äußere Amtssprache Deutsch, daneben verwendete man noch die „landesübliche Sprache". Im Eisenbahnbetrieb rekrutierte sich beinahe das gesamte Personal aus Italienern, die Aufschriften waren zweisprachig; ähnliches galt auch für das Postwesen. Hinsichtlich des Bildungswesens befanden sich die Italiener in der Monarchie in einer guten Position, die Zahl der Analphabeten war unter ihnen äußerst gering. Gab es für das Elementar- und höhere Schulwesen kaum Beschwerden, so sollte sich dies bei den Hochschulen ändern. Mit Vene-tien war Österreich zugleich auch der Universitätsstädte Padua und Pavia verlustig gegangen. Die unter dem Schlagwort „Trieste o nulla" beharrlich vorgebrachte Forderung der Italiener nach einer eigenen Universität in Triest verweigerte Wien allerdings, galten Universitäten doch als Hort von Obstruktion und Aufruhr. Man befürchtete, daß die ohnedies vorhandene irredentistische Bewegung durch eine eigene Hochschule noch mehr Elan gewinnen würde. Am 14. Februar 1913 beschloß schließlich der Budgetausschuß des Reichsrats doch die Errichtung einer italienischen juridischen Fakultät in Triest, der Kriegsausbruch 1914 verhinderte dann aber die für das Wintersemester 1915/16 geplante Eröffnung. In Vorarlberg machten die Italiener um 1900 mit 6000 Personen an die fünf Prozent der Bevölkerung aus. Sie lebten zumeist in den Industrieorten, von denen einzelne durchaus als gemischtsprachig anzusehen waren; zu nationalen Auseinandersetzungen mit den Deutschen kam es auch nur dort, wo Italiener in größerer Anzahl lebten. Bregenz war das Zentrum für den alljährlichen Strom der Wanderarbeiter, die von dort auch nach Konstanz und in die Schweiz weiterfuhren. Eine der italienischen Lieblingsspeisen, die berühmte Polenta, sowie Mais als deren Grundbestandteil fand durch die italienischen Arbeiter Eingang in die Küche Vorarlbergs. „Wälschkorn" nannte man Mais im vorarlbergischen Dialekt, und heute wird - wie im 1983 erschienenen „Kochbuch für Vorarlberg" - Polenta als durchaus „einheimische" Speise beschrieben. Den Italienern in der Monarchie ging es in ökonomischer Hinsicht weitgehend gut; hinsichtlich der Zahl der Auswanderer nach Übersee standen sie an letzter Stelle. Machten etwa 1913 11,4 Pro- Furlanische Tracht. Photographie. Um 1900 zent der Auswanderer nach Amerika Ruthenen und 21,9 Prozent Polen aus, so betrug der Anteil der Italiener nur 0,4 Prozent. In den Städten Dalmati-ens, aber auch in Görz und Triest nahmen Italiener im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben führende Positionen ein, sie waren vielfach Angehörige des Adels, reiche Geschäftsleute oder Beamte. Auch in den Wiener Ministerien konnte man zahlreiche, durchaus hochrangige italienischstämmige Beamte finden. Im Reichsrat bestand ein „Club italiano", der bis zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1907 sieben Abgeordnete, danach neunzehn umfaßte. Das italienische Stadtbürgertum von Triest stellte innerhalb des sozialen Gefüges der italienischen Bevölkerung der Monarchie etwas ganz Besonderes, wahre Weltbürger, dar. Triest, seit 1718 Freihafen und 1819 mit dem Ehrentitel „Cittä fedelis-sima" ausgezeichnet, beherrschte für die Monarchie 50 Links und rechts: .Wiener Typen": „Ziickerlmaiin" und .. Saiantutsdri-A Linn " mit seinem typischen Kaufnif.. Durri. diliri, do hin i, Salaniutschi". Bildpostkarten. Um 1900 Die Italiener Wiener Typen. Zuckerlmann. Wiener Typen. Durri, durri, do bin i, Salamutschi. den Schiffsverkehr im Mittelmeer und war letztlich auf allen Weltmeeren vertreten. Dreimal wöchentlich konnte man sich nach Venedig einschiffen, einmal in der Woche nach Marseille, Korfu, Ancona, Konstantinopel und Alexandria. Zweimal im Monat stachen Schiffe des Osterreichischen Lloyd nach Bombay und Kalkutta in See, einmal monatlich nach Shanghai und Kobe. Die Werft von Monfal-cone in Görz-Gradisca war ebenfalls italienisch dominiert. Seit den späten 1860er Jahren hatte sich die italienische Zuwanderung nach Görz und Gra-disca erhöht, der letzte deutsche Abgeordnete der geforsteten Grafschaft Görz war bereits 1866 aus dem Reichsrat ausgeschieden, seither wurde sie nur mehr von slowenischen und italienischen Abgeordneten vertreten. Im Landtag von Görz gab es bis 1914 21 italienische und 20 slowenische Vertreter; als nach 1867 Slowenisch Amtssprache geworden war, bestand das Problem, ausreichend Beamte mit Slowenischkenntnissen zu finden, die zu diesem Zweck dann aus Krain herangezogen wurden. Die Italiener des Habsburgerstaates waren zwar zu einem großen Teil wirtschaftlich konsolidiert, aus den ärmeren Regionen des Trentino kamen aber traditionellerweise Wanderarbeiter, die ihre Gebirgstäler regelmäßig jedes Jahr verließen, um anderweitig ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Charakteristisch für diese saisonale \\ anderung war, daß sie festen Zielen zustrebte und nicht wahllos, wo immer sich eine Arbeitsgelegenheit bot, erfolgte. Die Landwirtschaft wurde daheim einstweilen von den Frauen versorgt, während etwa die Männer des Val Rendena als Messer- und Scherenschleifer tätig waren. Aus der Gegend um Pieve Te-sino, knapp an der Grenze zu Venetien, kamen Buch- und Bilderhändler. Diese „girovaghi" genannten Wanderhändler zogen zwischen 1700 und 1830 mit ihren Drucken, den „stampe popolari" und den „santi", den Heiligenbildern, bis nach Polen und Rußland. Einer der bekanntesten Erzeuger dieser Produkte war Giuseppe Pasqualini, der Erfinder des Öldrucks, der - als erster in der Monar- de _ 1838 in Brünn eine florierende Erzeugung solcher Drucke betrieb. In dieser berühmt gewordenen Brünner „Bilderfabrik" stellte man Kopien bekannter Madonnen- und Gnadenbilder von Wallfahrtsorten sowie Landschaftsabbildungen her. Die aufgrund ihrer Herkunft aus dem Tal von Te-sino „Tesiner" genannten Bilderhändler führten ihre Ware in einem „cassella" genannten, über die Schulter gehängten Behälter mit sich, einem bis zu zwanzig Kilogramm schweren Holzkoffer, in dem sie die Blätter mit ihren unterschiedlichen Formaten in Wachstuch gehüllt mit sich trugen. Noch um 1880 gab es mehr als 600 „Tesiner", die in Osterreich, Ungarn, Polen und Rußland ihre Y\ are feilboten. Italiener aus der Monarchie waren aber auch als Forstarbeiter in Böhmen, Sägewerksarbeiter in Deutschland, Sesselmacher - caregheti - in Frankreich, dem Elsaß und dem Königreich Italien tätig; sie arbeiteten als „vetrai" - Glaser -, als \\ urstma-cher und Kaminkehrer in Norditalien, sie gingen als „paroloti", Kupferschmiede, in die Toskana und nach Umbrien, aus ihren Reihen kamen auch die bekannten „Katzeimacher", die in Wirklichkeit „Gazzel-", das heißt Siebmacher, waren. Beim Bau der Bregenzerwäl-derbahn, 1900-1902, fanden sich auch viele italienische Streckenarbeiter ein, über die lokale Blätter dann nichts Gutes zu berichten wußten. Messerstechereien und „sexuelle Ausschweifung", eben all die Klischees, die man mit den „heißblütigen Südländern" verband, wurden ihnen nachgesagt. Das Verhältnis der Deutschösterreicher zu den Italienern war ambivalent. Bewunderte man die verfeinerte italienische Kultur, so trat man ihnen doch auch mit einem Cesare Btittisti mit seinem Henker nach der Hinrichtung am 12. Juli 1916. Photographie gewissen Vorbehalt entgegen; hatte doch Österreich Kriege gegen Italien verloren, Provinzen abtreten müssen. Irgendwie schien man den Italienern, egal ob sie im bereits vereinten Königreich oder im eigenen Staatsverband lebten, nicht ganz zu trauen. „Welsche Tücke" war ein Schlagwort, das im Ersten Weltkrieg, nachdem Italien im April 1915 an der Seite der Entente in den Krieg gegen die Mittelmächte eintrat, nur allzusehr der Wahrheit zu entsprechen schien. Die Italiener im Habsburgerstaat hatten sich gerade in den Kriegsjahren durch repressive Maßnahmen der Behörden zurückgesetzt gefühlt, die Hinrichtung von Männern wie Cesare Battisti, der von den Italienern als wahrer Patriot betrachtet wurde, verschärfte die anti-österreichische Stimmung. Der Vorschlag von Kaiser Karl vom 16. Oktober 1918 zur Umwandlung der Monarchie in einen Bundesstaat wurde daher von italienischer Seite am 25. Oktober 1918 abgelehnt, für sie kam nur mehr die Vereinigung mit dem Königreich Italien in Frage. Nachdem die italienischen Truppen in zwölf Isonzoschlachten vergeblich gegen die österreichische Front angerannt waren, erreichte Italien am 4. November 1918 durch die - von jeder der beiden Kriegsparteien unterschiedlich ausgelegten - Bestimmungen des Waffenstillstands in der Villa Giusti bei Padua vom 3. November doch noch einen mühelosen Sieg über die k.u.k. Armee. Auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 konnte Italien allerdings nur einen Teil seiner bei Kriegseintritt 1915 erhobenen territorialen Forderungen durchsetzen, wenngleich Osterreich gerade die /Xbtretung Südtirols als schmerzlichen Verlust empfinden mußte. 52 55 Die Slowaken * * * * * **** * ♦ ♦ * * * Die Slowakei, das ehemalige Oberungarn, war eines der landschaftlich schönsten und ethnographisch interessantesten Gebiete der Donaumonarchie. Die spektakuläre Gebirgslandschaft der Tatra mit ihren „Meeraugen" genannten, unergründlich tief scheinenden Bergseen einerseits, eine jahrhunder tealte städtische Lebenskultur andererseits machten aus den nordungarischen Komitaten einen faszinierenden Teil des Königreichs der Stephanskrone. In Städten wie Leut-schau (Levoča), der Hauptstadt der Zips mit seinem prachtvollen Dom, Käsmark (Kés-márok, Kežmarok) an der Poprad und dem am Fluß Hernad gelegenen Kaschau, der größten Stadt des ehemaligen Oberungarn, fand sich ein standesbewußtes magyarisches und deutsches Bürgertum. Entlang des Mittellaufs der Gran liegen die alten Bergstädte Kremnitz (Körmöcbanya, Kremnica), Schemnitz und Neusohl (Besztercebánya Banská, Bystrica), die ebenfalls eine weit ins Mittelalter zurückreichende kulturelle Tradition aufwiesen. Die Slowaken, die slawischen Bewohner dieser vielfältigen Landschaft, waren vom südöstlichen Mähren bis nach Niederösterreich zu finden, lebten aber hauptsächlich im Nordwesten des Königreichs Ungarn. Wohlhabende Stadtbürger, Großgrundbesitzer oder Intellektuelle wie bei Magyaren und Deutschen fanden sich unter ihnen seltener, dazu war schon das Land, das sie bewohnten, zu arm und die Machtansprüche der politisch und wirtschaftlich dominierenden Magyaren zu drückend. Aufgrund der zumeist gebirgigen Lage ihres Siedlungsgebiets konnten die Slowaken aus dem von ihnen bewirtschafteten Boden nur wenig herausholen, dazu kamen - ähnlich wie bei den Rumänen in Siebenbürgen - ineffiziente Methoden bei der landwirtschaftlichen Nutzung, wie veraltetes Ackergerät oder die Aufbewahrung des Getreides nicht in einer Oben: Slowakischer Bauer ans da' Gegend von Neutra. Kolorierter Kupferstich von William Ellis. Aus: The Costume of the Heredi tan States of The House of Austria. London 1804 Gegenüber: Slowakisches Paar ans dem Kreis Hradisch, Mähren. Alls: Wilhelm Horn. Mährische Volkstrachten. Kolorierte Lithographie. Brünn 1831 Scheune, sondern in Erdgruben gleich am Feld. Vor allem im Gebirge fanden Slowaken daher ihren Lebensunterhalt als Hirten; sie hatten dabei eine eigene Kulturform ausgebildet, die in ähnlicher Form im gesamten Karpatenbo-gen bei ebenfalls als Hirten lebenden Völkerschaften, wie etwa den Goralen oder Huzulen, anzutreffen war. Die Sennwirtschaft mit ihrer Schafhaltung und Käseerzeugung, Molke, Schafkäse und Brot als hauptsächliche Nahrungsmittel der Hirten, die Verwendung von Musikinstrumenten wie dem Dudelsack oder der Lang-flöte, der Fujara, und die absolute Entscheidungsgewalt, die dem „Bacsa" genannten Oberhirten zukam, zählten dabei zu den charakteristischen Merkmalen. Die slowakische Tracht war an den aus zumeist grobem, blaugefärbtem Tuch hergestellten Kleidungsstücken zu erkennen. Mädchen trugen ein ärmelloses Hemd oder Oberhemd aus Baumwolle, das bunt bestickt war und lose über den Gürtel hängend getragen wurde, dazu kam eine weiße Schürze. Vor allem in der Umgebung von Preßburg fand sich bei den Männern eine farbenfrohe Sonntagstracht: ein Hemd mit weiten Armein und roter Verzierung entlang des Halsausschnitts, darüber eine blaue Jacke. Die Hosen waren auch tiefblau, oben schön verziert, sie steckten in langen Stiefeln, von denen ebenfalls blaue Schleifen herabhingen. Ein weißer, weiter Tuchmantel mit roter Einfassung und grünen A'erzierungen sowie ein kleiner bunter Hut mit einer weißen Feder vervollständigten das Erscheinungsbild. „Ein armes, aber betriebsames Gebirgsvolk", so wurden Slowaken noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts charakterisiert. LTm den oft geradezu elenden Lebensumständen zu entkommen, wählten viele den Weg in die Emigration nach L'bersee. Zwischen 1890 und 1913 stammten an die vierzig 143 Die Slowaken Die Slowaken Prozent der Auswanderer aus dem Königreich Ungarn aus den slowakisch besiedelten Komitaten Szepes, Säros, Zemplen, Ung und Abaüj-Torna. Und allein für das Jahr 1900 gab es Schätzungen, wonach bereits an die 300000 Slowaken in den Vereinigten Staaten lebten. Im Winter, wenn weder die Almwirtschaft noch die Felder zu versorgen waren, verrichteten Slowaken in ihren Dörfern Heimarbeit, sie fertigten Holzschnitzereien an und machten allerlei Zinn-und Kupfergerät. Aus den Komitaten Arva und Turöcz kamen Händler mit Safran, Ol und Leinwand, in der Gegend von Neusohl fertigte man Spitzen an, aus der Region um Neutra (Nyitra, Nitra) und Liptau (Liptö, Liptov) kamen Käse und Butter. Besonders die Fertigkeit im Drahtbindergewerbe - Trentschin (Trencsen, Trentein) war dafür weithin bekannt - prägte das Bild von den Slowaken als Hausierern, „Rastelbindern" und Mausefallenhändlern, die mit ihrer Ware in der gesamten Donaumonarchie, ja auch in Deutschland und beinahe ganz Europa umherzogen: „Wer kennt nicht den slovakischen Drahtbinder, der mit seiner Ehrlichkeit und Genügsamkeit sprichwörtlich geworden ist?", lautete die Frage des Verfassers eines ethnographischen Beitrags über die Slowaken aus den 1870er Jahren. Die Slowaken zählten zu jenen Völkern der Monarchie, die durch die Geschichte in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung stark beeinträchtigt waren. Zahlenmäßig stellten sie nach der Volkszählung 1910 im Königreich Ungarn mit rund zwei Millionen eines der kleineren Völker dar. Von ihrer Sozialstruktur her waren sie stark von der Landwirtschaft und dem Almhirtentum geprägt. So entfiel, wiederum nach der Volkszählung von 1910, ein Anteil von siebzig Prozent der Erwerbstätigen auf den Agrarbereich. Der Boden gehörte aber nicht den Slowaken, die ihn bearbeiteten, sondern zumeist einem magyarischen oder bereits seit langem magyarisierten slowakischen Adeligen. Die Magyaren brachten den Slowaken aufgrund dieser ökonomischen Schlechterstellung vielfach Verachtung entgegen, sie hielten sie für ein „Dienstbotenvolk": „Von Almosen lebend und den reichen Kollegen die Stiefel putzend", so sprachen Magyaren etwa über slowakische Stipendiaten in ungarischen Einrichtungen. Dabei machte so mancher dieser ehemals armen slowakischen Stipendiaten durchaus seinen Weg im Leben und Links: Slowaken uns Kremnitz. Photographie. Um 1910 Gegenüber: Oben: Preßburg. Bildpostkarte. Um 1895 Mitte: „Kremnirz". Holzschnitt von Ludwig Rauscher. Aus: Die östetTeicbisch-nngariscbc Monarchie in Wort und Bild: Ungarn (Band V/2). Wien 1900 Unten: „Gruss aus Holics". Bildpostkarte. Um 1895 144 145 Die Slowaken Die Slowaken „.Mi sans me slovakische Landsleut'": Slowakischer Wanderhändler in Wien. Bildpostkarte aus einer Serie mit.. Wiener Kaufrufen". Um 1895 brachte es beispielsweise zu einem hohen kirchlichen Amt. Studiert man weitere zeitgenössische Urteile der Magyaren über ihre slowakischen Nachbarn, so stellt sich aber heraus, daß sie mit diesen - zumindest aus ihrem Blickwinkel - noch am besten auskamen. Die Serben seien wild, die Rumänen verstockt und aufsässig, die Slowaken hingegen eher gutmütig, im Bedarfsfall auch tapfere Soldaten, und den Magyaren doch von allen slawischen und nichtslawischen Völkerschaften in ihrem Königreich noch das liebste Volk: „Die braven Slowaken bekannten sich immer als Ungarn: Räköczy und Bocskay dienten sie als die patriotischsten Truppen. Wenn der Panslawismus seine ohnehin erfolglosen Versuche aufgibt, wird das Slowakentum politisch in die ungarische Nation assimiliert, wenn es auch der Grammatik nach slawisch bleibt", meinte etwa der magyarische Publizist Güsztav Beksics Mitte der 1890er Jahre. Die Slowaken sollten ihre Beziehungen zu den Magyaren naturgemäß etwas anders sehen. Ein halbes Jahrhundert vor Beksics' optimistischer Äußerung, im Jahr 1848, hatten Slowaken von den „schrecklichen Machtansprüchen der Magyaren" hiriAhirrf)c lanbslruť — gesprochen und davon, daß die Magyaren „phantastische Träumereien über ihre Nationalvorzüge" hegen würden, hätten diese doch bereits auf dem ungarischen Landtag in Preßburg 1844 verlauten lassen, der Magyare „wäre zum Herrschen geboren". Das Streben nach nationaler Selbständigkeit wurde durch diese Art der magyarischen Politik allerdings unmöglich gemacht. Štefan Marko Daxner, ein slowakischer Politiker, formulierte zu Beginn der 1860er Jahre: „Ungarn existiert für uns nur insoweit, inwieweit wir in ihm existieren; es kann nur in dem Maße von uns anerkannt werden, inwiefern wir in ihm Anerkennung finden." Da diese Anerkennung auf friedlichem Weg nicht erreichbar schien, hatten die Slowaken denn auch an den Kämpfen des Jahres 1848 teilgenommen und sich dabei für das Kaiserhaus und gegen ihre magyarischen Herrn ausgesprochen, um ihren Traum von nationaler Autonomie und politischer Eigenständigkeit doch noch erfüllen zu können. In Wien lebende slowakische Intellektuelle leisteten hierfür ebenfalls ihren Beitrag. Sie waren durchwegs ausgesprochen austrophil eingestellt und sprachen sich, so wie beispielsweise Andrej Radlinský (1817-1879), eindringlich für die LTnterstützung der österreichischen Vormachtstellung aus. Radlinský gehörte zu den Absolventen des im Zuge der Gegenreformation 1623 in Wien von Kardinal Peter Pázmány gegründeten und bis heute im neunten Wiener Gemeindebezirk bestehenden Kollegs, das nach dem Kirchenfürsten „Pazmaneum" genannt wurde und dessen Zöglinge die theologische oder philosophische Eakultät der Wiener Universät besuchten. Diese Einrichtung spielte vor allem für die Entwicklung des geistigen und kulturellen Lebens der slawischen Völker der Monarchie eine bedeutende Rolle. Die Slowaken standen also treu hinter dem Kaiser und der dynastischen Ordnung, Radlinskýs \\ ahlspruch etwa lautete „za národ a trón", für das Volk und den Thron. Dieses loyale Verhalten schien den Slowaken zumindest für kurze Zeit Erfolg zu bringen, es kam zur Bildung zweier selbständiger Verwaltungsdistrikte um Preßburg und Kaschau, doch waren im politischen Tagesgeschehen letztlich doch weiterhin Restriktionen der ungarischen Behörden gegen slowakische Politiker und Publizisten die Realität. Erst nach dem Ende des Neoabsolutismus trat die Frage der nationalen Autonomie für die Slowaken wieder mehr in den Mittelpunkt, und es setzte unter ihnen eine verstärkte politische Tätigkeit ein. Die Bemühungen um die Normierung der slowakischen Schriftsprache standen dabei, ähnlich wie bei Serben oder Kroaten, in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt. Die sich in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts abzeichnende Trennung im gemeinsamen politischen Vorgehen von Tschechen und Slowaken hatte seine LTrsache auch in den Bestrebungen um die Kodifizierung der slowakischen Schriftsprache: Ohne seine eigene Sprache sei der Slowake eben kein Slowake mehr, mit diesem lapidaren Hinweis wurde der Vorschlag, das Tschechische auch in der Slowakei zu etablieren, zurückgewiesen. Bereits 1790 hatte Antonin Bernoläk (1762-1813) aus dem westslowakischen Dialekt eine Literatursprache geschaffen, die von den Slowaken, die sich mehrheitlich zur römisch-katholischen Kirche bekannten, auch akzeptiert wurde. Da sich unter den Slowaken aber auch Lutheraner befanden, orientierten sich diese in sprachlicher Hinsicht an der lutherischen tschechischen Bibelübersetzung. Erst 1843 sollte es den Gelehrten und Sprachrefor- mern Michal Miloslav Hodža (1811-1870), Ľudovít Stur (1815-1856) und Jozef Miloslav Hurban (1817-1888) gelingen, durch die Kodifizierung des mittelslowakischen Dialekts zu einer einheitlichen Literatursprache zu gelangen. Wien spielte dabei wie so oft im geistigen und politischen Leben der Slawen eine zentrale Rolle. Hodža beispielsweise ließ in Wien seine Proklamation „Bratia Slováci" (Brüder Slowaken) drucken, die als Grundlage für die Einberufung der ersten slowakischen Nationalversammlung in der nordslowakischen Stadt St. Nikolaus i. d. Liptau (Liptovsky svätý Mikoláš) diente. Auf dem Weg zur nationalen Einigung sollten die Slowaken aber auf Schwierigkeiten stoßen, galten sie doch im Vergleich zu Magyaren, Deutschen, Tschechen und Polen als „historisch junges Volk". Ihre Siedlungskontinuität im Donau- und Karpatenbecken reichte zwar Jahrhunderte zurück, die Periode ihrer staatlichen Existenz im Großmährischen Reich des frühen Mitttelalters, die den Slowaken als ihr „goldenes Zeitalter" galt, war freilich mit einer Dauer von knapp einhundert Jahren kurz bemessen gewesen, verglich man sie beispielsweise ..Slovakische Gcschin-verkäufer". Holzschnitt von Paul Bdgö. Aas: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Hort und Bild: Ungarn (Band 172). Wien 1900 146 147 Die Slowaken Die Slowaken mit der Herrschaftstradition des polnischen Königreichs. Die Slowaken besaßen auch nicht, wie etwa Serben oder Rumänen, den politischen und kulturellen Rückhalt eines von Konnationalen bewohnten, von der Monarchie unabhängigen Nachbarstaats. Die von Slawophilen getragene Hinwendung zu Rußland als Schutzmacht aller Slawen auf der einen Seite und der enge Kontakt zu tschechischen nationalen Parteien auf der anderen Seite konnten das Fehlen eines solchen Hinterlands nicht wirklich ausgleichen, wobei sich gerade die Beziehungen zu den Tschechen im Lauf der Jahrzehnte als ambivalent erweisen sollten. LTm ihren Forderungen mehr Nachdruck zu verleihen, versammelten sich am 6. und 7. Juni 1861 in Turócs-zentmárton (Turčiansky svätý Martin, Martin) an die 6 000 Slowaken, um in einem Memorandum die Gründung eines eigenen „Oberungarischen Nationalen Kreises" mit der alten Bergbaustadt Neusohl als Hauptstadt zu verlangen. Weder Wien noch Budapest hatten aber auch nur das geringste Interesse an der Verwirklichung einer solchen Forderung. Die slowakische Politik ging nun dahin, die politischen Differenzen zwischen Deutschen und Magyaren für die Durchsetzung ihrer Ziele einzusetzen und zum Beispiel vermehrt slowakischsprachige LTnterrichts-anstalten einzurichten. Im Memorandum der Slo-waken an den ungarischen Landtag von 1861 forderte man demgemäß, „daß die nationale Individualität der Slowaken und das Recht ihrer Sprache als einer vaterländischen, durch ein positives Gesetz und durch das Inaugural-Diplom anerkannt, und durch diese Anerkennung gegen die Angriffe der schlechtgesinnten Feinde unserer nationalen Eintracht sichergestellt werde". Die nationalpolitischen Führer hofften, daß die verstärkte Errichtung von Gymnasien und Lehrerbildungsanstalten vermehrt zur Ausbildung einer slowakischen Intelligenzschicht führen würde. Doch gerade diese „Hoffnungsträger des \blks" assimilierten dann vielfach zum Magyaren- oder auch Deutschtum, um den langersehnten gesellschaftlichen Aufstieg zu erlangen. Die Bildungsschicht blieb bei den Slowaken daher eher klein und machte etwa in den frühen 1860er Jahren zumeist Angehörige des niederen Klerus oder Lehrer aus. Die Mehrheit des slowakischen Volks, fast durchwegs katholische Bauern, stand diesen nationalen Bestrebungen auch vielfach gleichgültig gegenüber. Die ökonomisch bedingte Binnenwanderung der Slowaken in der Monarchie spielte für den Assimilationsprozeß ebenfalls eine wichtige Rolle. Die Entstehung neuer Industrieanlagen, vor allem um Budapest, lockte Zehntausende Slowaken von ihren Bauernhöfen in den städtischen Bereich, viele verdingten sich auch als Erntearbeiter in der Ungarischen Tiefebene. Die Jahre unmittelbar vor dem Ausgleich Österreichs mit Ungarn brachten für die Slowaken eine weitere Einengung in ihrer eigenständigen Politik, wobei 1867 als eigentliche Zäsur anzusehen war; Ungarn verstand sich in der Folge zunehmend als zentralisti-scher Nationalstaat. Schwache Ansätze zu einer Koalition der nicht-magyarischen Völker im Königreich der Stephanskrone sollten erst gar nicht in eine entscheidende Phase treten. Mit den Kroaten, deren politische und soziale Strukturen denen der Magyaren durchaus ähnlich waren, konnte man sich in Budapest relativ rasch verständigen. Die Slowaken hingegen mußten in dieser Hinsicht einfach zurückbleiben, besaßen sie doch nur eine schmale Führungsschicht und fehlte es dieser noch dazu an Rückhalt in breiteren Kreisen der eigenen Bevölkerung. Die slowakischen Politiker und Intellektuellen verzettelten sich dann noch in unfruchtbaren Streitgesprächen über die zukünftige Vorgangsweise: Sollte man sich doch mehr an Budapest orientieren und die Hoffnung, daß Wien sich für die Slowaken verwenden würde, aufgeben? Waren russophile und allgemein slawophile Tendenzen zielführender? Hatte der Plan für die Etablierung eines autonomen „Slowakischen Kreises" noch Links: Junges slowakisches Pmir 'ins Mähren. Kolorierte Photographie. Um 1900 Gegenüber: Slowakisches Bauern-inädchen aus Mähreu. Kolorierte Photographie. Um 1900 148 149 Die Slowaken Die Slowaken Slowakinnen in Fest- lind Alltagskleidung. Photographie. U?n 1910 Sinn? Aus diesem Disput entwickelten sich zwei unterschiedliche Richtungen im politischen Leben, die einerseits einen Weg der Anpassung an die ungarische Staatsidee, andererseits autonomistische Tendenzen vertraten. Das Nationalitätengesetz von 1868 sollte dann zeigen, wie Ungarn die künftige Stellung der Slowaken sah: Sie erhielten zwar Zugeständnisse im Bereich des kulturellen Lebens, diese waren aber weit von dem entfernt, was sich die Slowaken vorgestellt hatten. Die dominierende Schicht im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben blieben die Magyaren. Ab Mitte der 1870er Jahre setzte sich der Druck zur Magyarisie-rung dann voll durch. Die im Jahre 1863 gegründete nationale Kulturorganisation „Marica Slovenská", die die Hauptstütze des Nationalbewußtseins der Slowaken bildete, wurde zwangsweise aufgelöst. Das Yolksschulwesen wurde immer mehr magyarisiert; zwar wurden gemischtsprachige, slowakisch-magyarische Schulen eingerichtet, dies war aber nicht das, was die nationalbewußten Slowaken sich erwartet hatten. Sogar in den vier Komitaten mit neunzig Prozent slowakischer Bevölkerung -Arva, Trencsén, Liptó und Zólyom - ordnete man die meisten Schulen diesem gemischtsprachigen Typus zu. 1874/75 wurden die bisher bestehenden drei slowakischen Gymnasien geschlossen, höhere Schulbildung war an die genaue Kenntnis der ungarischen Sprache gebunden. LTnter den Nationalitäten im Königreich Ungarn lagen die Slowaken etwa 1910 bei der Zahl der Absolventen der achtklassi- gen Mittelschule an weit abgeschlagener Stelle, nur Ruthenen und Rumänen wiesen noch schlechtere Ergebnisse auf. Die slowakische Intelligenzschicht war auf diese Weise auch nur in geringem Ausmaß in höheren Positonen in der Verwaltung und im Kulturleben vertreten. Slowakisch sollte als .Amtssprache weitgehend von der magyarischen Sprache ersetzt werden. Bezieht man diese Ereignisse aus der Vergangenheit mit ein, dann werden nationale Exzesse in der heutigen Slowakei zwar nicht verständlich, aber doch zumindest erklärlich: Nunmehr ist Slowakisch die Amtssprache, bisher zweisprachig - magyarisch und slowakisch - ausgestellte Schulzeugnisse werden zum Beispiel nur mehr in der slowakischen Staatssprache ausgehändigt. Aus dem Gefühl jahrhundertelanger Unterlegenheit ist nun, seit die Slowakei mit 1. Jänner 1993 ein eigener Staat wurde, im nationalistischen Überschwang ein Gefühl der Überlegenheit geworden. Auf dem Wege des Wahlrechts vermochten die Slowaken in der Donaumonarchie an dem von ihnen als höchst nachteilig empfundenen System nur wenig zu ändern. Das 1874 reformierte, doch restriktiv angelegte Wahlrecht zum ungarischen Reichstag stellte keine ernsthafte Möglichkeit hierzu dar. Von diesem eingeschränkten Wahlrecht waren zwar sowohl Magyaren als auch NichtMagyaren betroffen, nur waren letztere eben allgemein, im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Sinn, in der schwächeren Position. Die Einteilung der Wahlkreise und das Wahlverfahren waren zusätzliche Hindernisse für die slowakischen Parteien bei der Umsetzung ihrer Programme und Forderungen. In den Komitaten brauchte man etwa nur die Verwaltungsgrenzen entsprechend der ethnischen Kriterien zu ändern, um je nach Bedarf aus einer regionalen slowakischen Bevölkerungsmehrheit eine Minderheit zu machen. Die dünne Schicht des slowakischen Bildungsbürgertums war zwar zunehmend in der Generalversammlung der Komitate vertreten, doch da ja die breite Masse des slowakischen Bauern- und Industriearbeitervolks vom Wahlrecht ausgeschlossen blieb, waren die Möglichkeiten, die nationalen Forderungen auf politischem Weg durchsetzen zu können, sehr gering. Als einer der möglichen Auswege aus dieser aussichtslosen politischen Lage wurde nun die verstärkte Hinwendung zu Rußland als Beschützer aller Slawen gesucht. Rußland sollte sich dabei zuerst der endgültigen Niederringung des Osmanischen Reichs am Balkan widmen, um die „unterjochten südslawischen Brüder" zu befreien; dann, als endgültiges Ziel, würde sich Rußland auch gegen die Monarchie wenden, um Slowaken, Tschechen, Ruthenen und alle anderen Slawen von der „Knechtschaft" der Deutschen und Magyaren zu erretten. Von dem Plan, sich ausgerechnet im gegen seine eigenen Völker äußerst repressiv vorgehenden Russischen Reich - denkt man etwa an die brutale Niederschlagung des polnischen Aufstands 1863/64 -seinen Verbündeten zu suchen, waren daher auch nicht allzu viele Slowaken überzeugt, was zur weiteren Zersplitterung des nationalen Lagers beitrug. Auf einem Kongreß in Budapest, 1895, wurde dann von slowakischen, serbischen und rumänischen Vertretern der polirische Schulterschluß gegen die Magyaren versucht. Neben der Forderung nach Autonomierechten für diese Nationalitäten stand auch das Streben nach dem allgemeinen, direkten und geheimen Wahlrecht auf der Tagesordnung. Über diese ersten Ansätze sollte das gemeinsame Vorgehen dieser Nationalitäten aber nicht hinausgelangen, verstand es die magyarische Politik doch ausgezeichnet, eine engere Zusammenarbeit durch ein Wechselbad aus Zugeständnissen und Verweigerungen zu untergraben. Den Slowaken erwuchs in diesen Jahren durch die Tschechen ein Verbündeter in ihren nationalen Anliegen. Linter den tschechischen nationalen Strömungen tauchte immer wieder die Vorstellung eines Zusammengehens von Tschechen und Slowaken zum gemeinsamen Kampf um die Unabhängigkeit auf. Slowakische Studenten an den Universitäten in Prag und auch Wien wurden zu begeisterten Verfechtern dieser Idee. Das Gebot der Stunde schien nun die enge Verknüpfung tschechischer und slowakischer Interessen zu sein. Daneben bestanden allerdings auch andere politische Einflüsse unter den Slowaken, die sich etwa an christlichsozialen und sozialdemokratischen Forderungen orientierten. Im Fall der Sozialdemokratie war es um die Jahrhundertwende die Ungarische Sozialdemokratische Partei, die sich der slowakischen Arbeiterschaft annahm, wenngleich die Parteileitung in Budapest es dabei mit der Vertretung der slowakischen Genossen nicht eben ernst zu nehmen schien. Enttäuscht hielten die slowakischen Sozialisten sich dann mehr an die tschechischen Kollegen. In den Jahren vor Kriegsausbruch begann sich Oben: Slowakische Bauernburschen mit geschmückten Pferden bei einem Umzug. Photographie. Um 1910 Unten: Slowaken ans Mähren in Festkleidung. Photographie. Um 1910 150 Die Slowaken eine weitere Trennung zwischen den verschiedenen politisch-weltanschaulichen Flügeln der slowakischen Parteien abzuzeichnen. Während die eine Gruppierung ihr Heil in einem engeren Zusammenrücken mit den Tschechen sah, vertrat die andere unter der Führung des Geistlichen Andrej Hlinka ein christlich-national ausgerichtetes Programm. Die Zusammenstöße mit den ungarischen Behörden verschärften sich insbesondere in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts, so kam es im Oktober 1907 in der Ortschaft Csernova (Cernovä) zu einem Blutbad, bei dem fünfzehn Slowaken von Gendarmen erschossen wurden. Der während des Ersten Weltkriegs immer lauter werdenden Forderung nach der Gründung eines Tschechoslowakischen Staats konnte Ungarn letztlich keine Alternative entgegensetzen. Tomas G. Masaryk und Edvard Benes verstanden es auch ausgezeichnet, die entsprechende Stimmung dafür unter den Ententemächten vorzubereiten. Die Entstehung von neuen Nationalstaaten anstelle des morschen Gebildes der Donaumonarchie schien dabei die beste Lösung und die Garantie für eine künftige friedlichere, harmonischere Entwicklung unter den Völkern des Donau- und Karpatenraums zu bieten. Die Anerkennung des Tschechoslowakischen Nationalrats in Paris als „kriegführenden Verbündeten" durch die Westmächte brachte eine Wende, die nicht nur das Schicksal Österreichs, sondern auch L'ngarns entscheiden sollte. Obwohl die alliierten Regierungen der Donaumonarchie zugesagt hatten, die Festlegung neuer Grenzen einer in Paris einzuberufenden Friedenskonferenz zu überlassen, rückten nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands am 3. November 1918 Tschechen, Slowaken, Ruthe-nen, Rumänen, Serben, Kroaten und Slowenen gegen das Habsburgerreich vor. Tschechisches Militär drang in die - nunmehr ehemaligen - oberungarischen Komitate vor und beabsichtigte, auch von Ruthenen bewohnten Komitate, wie beispielsweise Ung oder Ugocsa, zu besetzen. Im Dezember 1918 erhielt Prag dann die Erlaubnis zur Bildung einer zivilen Verwaltung. Die Bestimmungen des Friedensvertrags von Trianon vom 4. Juni 1920 machten aus dem einstmals mächtigen Königreich der Stephanskrone ein Rumpfungarn: Rund 49000 Quadratkilometer ehemals ungarischen Staatsgebiets fielen an die Slowakei, mehr als eine Million Magyaren verblieben als nationale Minderheit in der neugeschaffenen Tschecho-Slowakischen Republik. Oben: „Trencsentepliczer Volkstracht": Slowakisches Bauempaar. Kolorierte Photographie. Um 1900 Unten: Slowakisches Paar in Volkstracht. Photographie. Um 1910 Gegenüber: Slowakische Familie. Photographie. Um 1900 153 Die Tschechen Oben: Hannakin. Kolorierter Kupferstich von William Ellis. Aus: The Costume of the Hereditary States of The House of Austria. London 1804 Gegenüber Hannakenpaar aus der Gegend von Olmütz, Mähren. Aus: Wilhelm Horn, Mährische Volkstrachten. Kolorierte Lithographie. Brünn 1837 Das Königreich Böhmen galt als eine der „Perlen in der Krone Habsburg-Lothringens". \ erließ man Wien in Richtung Prag, so gelangte man zunächst ins Mährische, wo sanfte Hügel die Landschaft prägten, aufgelockert durch kleine Kirchen und Kapellen. Fischreiche Bäche und Flüsse trugen noch zum bukolischen Eindruck bei; Statuen des hl. Nepomuk, des zugleich strengen und doch gütigen Brückenpatrons, aus langsam verwitterndem, moosbedecktem Sandstein gehauen, bewachten die Wege entlang der Straße, die über die mährische Metropole Brünn, das barocke Olmütz (Olomouc) weiter in das goldene Prag führte. Überall, in jedem noch so kleinen Flecken, ließen sich Überreste des alten europäischen Kulturerbes finden: gotische Kirchen, Renaissancearkaden auf einem Marktplatz, barocke Bürgerhäuser und verspielte Schlösser mit verwunschenen Schloßgärten. Auch an Erholungsmöglichkeiten und Kurorten waren Böhmen und Mähren reich. In der sogenannten „mährischen Walachei", im Osten Mährens, lag etwa der „Molkencurort" Roznau am Fuße des Gebirgsstocks Radhost, der zahlreiche Bergsteiger anlockte. Die fruchtbare Ebene an der oberen March nennt man Hanna. Deren Bewohner, die Hannaken, waren ein tschechischer Volksstamm; Horaken hießen die Westmährer, die an den Abhängen des böhmisch-mährischen Berglands gegen die March zu lebten. Bedingt durch das gute, fruchtbare Ackerland waren die Hannaken wohlhabend und konnten es sich, so neidische Zeitgenossen, leisten, vier größere Mahlzeiten täglich einzunehmen und dreimal in der Woche Rindfleisch zu essen. Dabei blieb es freilich nicht, man verspeiste auch in Speck gekochtes Sauerkraut, Hirsesuppe mit geselchtem Schweinernem, Knödel mit Kraut und Mohnstrie- zel. In der Erntezeit gab es als Labung für die Schnitter Kolatschen, die mit Topfen und geriebenem Lebkuchen bestreut waren, auch der herb-süße Powidl, die „böhmische Krönungssalbe", durfte nicht fehlen. Üppiges Essen liebten die Tschechen im allgemeinen sehr, sie waren dafür bekannt: gebratene Enten und Gänse, knuspriger Schweinsbraten und Rinderbraten mit sämiger Sauce, dazu die köstlichen, flaumigen Knödel, danach Mohn- und Honigmehlspeisen, Buchteln, Dalken und Kolatschen, die nicht nur zur bloßen Sättigung einluden, sondern ein geradezu animalisches Wohlbehagen beim Essen hervorriefen. In klimatisch ungünstigeren und wirtschaftlich ärmeren Regionen ernährten sich die Bewohner hauptsächlich von Kartoffeln und Hülsenfrüchten. Kaffee wurde gerne und viel getrunken. Bier, das ..flüssige Brot", sah man geradezu als Nahrungsmittel an; im Unterschied dazu bevorzugten die Slowaken zumeist von jüdischen Spirituosenerzeugern hergestellten Branntwein. Horaken und Hannaken waren aber nicht bloß für ihre reichliche Küche bekannt, sie galten - neben den Bewohnern des böhmischen Chrudim - als gute Pferdezüchter. Ihre reiche Tracht machte die Hannaken über die Landesgrenzen hinweg bekannt: Die Männer trugen Hosen aus ziegelrot gefärbtem Kalbsleder, die an den Seitennähten durch grüne Schnurwindungen verziert waren; um die Körpermitte lief ein bestickter Ledergurt, dazu kleidete man sich in eine hellgrüne, an der Brust geschlossene und mit vielen runden, weißen Knöpfen verzierte Tuchjacke. Darüber fiel ein bis an die Knöchel reichender Überrock aus weißem Tuch beziehungsweise ein Mantel aus himmelblauem Stoff. Ein runder, breitkrempiger Hut, bei den Junggesellen mit bunten Schnüren verziert, vervollständigte die Kleidung. Die Frauen trugen einen 165 54 Die Tschechen Die Tschechen Oben: Hannakiscbes Paar in Festtracht. Photographie. Um 1910 Rechts:„Hannaken aus der Umgebung von Holeschan". Holzschnitt von Julius Berger. Aus: Die östeiTeichisch-iingarische A lonarchie in \ I ort und Bild: Mähren und Schlesien. Wien 1897 farbenfrohen kurzen Rock mit bunten Strümpfen, ein grünes Wolltuch und hatten bunte Tücher um den Kopf geschlungen. Typisch für die Landschaft Nordwestböhmens waren die großen, oft auf den Wirtschaftsdomänen der Klöster angelegten Fischteiche. Fische, Bier und Wdd aus den dichten Wäldern waren denn auch wichtige Ausfuhrartikel Böhmens ins benachbarte Nieder- und Oberösterreich und nach Wien. Die Tschechen lebten also in einer vielfältigen Landschaft, vom Böhmerwald im Südwesten zum böhmischen Hochland im Osten. Schmale Felskämme, gewaltige Granitblöcke, Torfmoor und Wald prägen dieses Gebiet. Zahlreiche Pässe überqueren vor allem den südlichen Teil des Böhmer- walds, die der lokalen Bevölkerung den Fernhandel und, damit verbunden, Wohlstand ermöglichten. Der „goldene Steig", der von Winterberg (Vim-perk) nach Philippsreut führte, war einer der bekanntesten Ubergänge, der für lange Zeit als einziger Handelsweg für den Salzimport nach Böhmen diente. Schon allein sein Name drückt aus, daß die Menschen, die entlang seiner Route lebten, durch den Handel mit dem „weißen Gold" zu Geld gekommen waren. Die böhmische Landschaft ließ aufgrund ihres Reizes solch profane, materialistische Gedanken allerdings schnell verschwinden. Adalbert Stifter hat etwa die Schönheit des Moldautals liebevoll beschrieben, das in der Umgebung von Krumau (Cesky Krumlov) besonders eindrucksvoll ist. Das Klima ist hier allerdings rauh, der Landwirtschaft nicht gerade zuträglich. Die Bewohner dieser Region mußten sich daher nach einer zusätzlichen Erwerbsmöglichkeit umsehen. Der Waldreichtum sorgte für eine florierende Holzindustrie, auf der Moldau transportierten Flößer die Baumstämme bis nach Prag oder, über Kanäle „Iglanerinen. Hanake und Jiizek aus Jabliiu-kau ". Farbholzschnitt von Hugo Charlanont. Aus: Die östeireichisch-ungarische \ lonarchie in Wort und Bild: Mähren und Schlesien. Wien 1897 166 167 Die Tschechen Balleinladungskarte mit den Wappen von Bub inen. Mähren und Schlesien. Farblithographie auf geprägtem und gestanztem Billet. 1913 durch Südböhmen, auf der Donau nach Wen. Der Uberfluß an Holz diente auch der Etablierung verschiedener Gewerbszweige. Der Hausindustrie kam dabei Bedeutung zu, man erzeugte Holzschuhe, schnitt und verkaufte Brennholz. Weltbekannt sollte allerdings die Glasindustrie um Gablonz werden. Bereits seit dem 17. Jahrhundert hatten sich die Bauern aus der Umgebung des Dorfes Gablonz (Jablonec) bei der berühmten Glashütte als Arbeiter verdingt; zunächst nur als Fuhrleute, dann als saisonale Hilfsarbeiter, schließlich kamen Handwerker und Fachleute für die Glaserzeugung aus ganz Böhmen und Mähren, vor allem aber aus Deutschland, hinzu. Setzte man die Wanderung durch Böhmen fort, so traf man im Norden auf das Riesengebirge mit seinen steilen Abhängen und markanten Gipfeln wie der Schneekoppe, dem höchsten Berg Böhmens. Almwiesen bestimmten hier das Landschafts-bild, üppige Weiden ermöglichten Viehzucht und Milchwirtschaft; die Hirten wohnten in „Bauden" genannten Sennhütten. Im Vorland des Riesengebirges lebten die Bewohner vom Anbau und der Verarbeitung von Flachs in Spinnereien und Webereien. Die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Konkurrenz aus dem europäischen Ausland hatte freilich zur Schließung von zahlreichen dieser Betriebe geführt, dafür nahm die Zahl von Glashütten und Spiegelmachern zu. Im Nordosten und Südosten Böhmens, bis nach Niederösterreich hinein, lebten Tschechen hauptsächlich vom Ackerbau; ihre Siedlungsgebiete waren aber unterschiedlich fruchtbar, daher gingen aus der Gegend nördlich von Tábor besonders viele Auswanderer nach Amerika, da sie dem Boden daheim nicht genug zum Leben abringen konnten. Die bis Melnik (Mělník) reichende Elbegegend bot sich dafür als ertragreiches Ackerbaugebiet und geeignet für umfangreichen Zuckerrübenanbau an; die Elbe selbst diente der Flößerei und dem Betrieb von Dampfmühlen. Ein dichtes Eisenbahnnetz durchzog Böhmen, dessen Züge die Industrialisierung erleichterten. Viele Großindustrielle waren in Prag oder Reichenberg (Liberec) beheimatet. In Joachimsthal (Jáchymov) entstand die älteste montanistische Lehran- Die Tschechen Zeichen-Erklärung: Stfidte mit 10—50°/o ~nu,irtx//- O Deutschen '' iJ$'vß*M. O fischen und Mlhrern I 1 W1 Nationalitäten- rau Sprachen-Karte von BÖHMEN. Farben-Erklärung: Gebiete mit Uber 50°'o Deutschen I I Cech en und Mährern stalt, nach 1848 dann die k. k. Montanlehranstalt in Pfibram, wo es auch berühmte Silberbergwerke gab. Deutsches und jüdisches Kapital trug maßgeblich zur Erschließung der Wirtschaftskraft und zum Ausbau des Eisenbahnnetzes bei. 1832 wurde auf der Strecke Linz-Budweis die erste Schienenbahn Europas in Betrieb genommen, die älteste Dampfeisenbahn der .Monarchie führte von Brünn über Prag nach Bodenbach (Děčín). 1856 erfolgte die Eröffnung der Bahnlinie Aussig (Ústí nad La-bem)-Teplitz (Teplice), dann die böhmische Westbahn von Prag nach Pilsen. Nach 1866 wurde die Kaiser-Franz-Josefs-Bahn von Prag nach Wien gebaut, die Osterreichische Nordwestbahn verlief von Böhmen nach .Mähren. Prag war das Zentrum für all diese \ erkehrswege. Die schnell anwachsende Nationalitäten- und Sprachen-Karte von Böhmen. Aus: Prof. Anton Leo Hichnanns geographisch-statistischer Taschen-Atlas von Osterreich- Ungarn. Wien 1900 168 169 Die Tschechen Bäuerin aus Mähren in Winterkleidung. Kolorierter Kupferstich von William Ellis. Aus: The Costume of the Hereditary States of The House of Austria. London 1804 170 Die Tschechen OslL I- 17 v. (;rc*rnwith Nationalitäten- und Spracüeu-Karte von MÄHREN und SCHLESIEN. Farben-Erklärung: Gebiete mit Uber 50»/0 I I Deutschen I I Cechen, MHhiern u. Slovaken I I Polen Zeichen-Erklärung. Stttdte mit 10—50°/,, Q Deutschen O Cechen oder Miihrern O Polen Magyaren • / S^Tnrrtrrtnv)/// x * III Zuwanderung vom Land in die Stadt wurde durch diese günstigen Verkehrsverbindungen erleichtert. Die böhmischen Länder besaßen, bedingt durch diese gute Infrastruktur, eine überdurchschnittliche Bevölkerungs- und Siedlungsdichte. Vom Kirchturm des heimatlichen Dorfs konnte man zufrieden auf eine gepflegte, liebevoll kultivierte, wie blank geputzt wirkende bäuerliche Landschaft: mit gleich mehreren anderen Ortschaften in unmittelbarer Nähe herniederblicken. Um die Mitte des 19. Jahr- hunderts bestanden in der gesamten Monarchie im Durchschnitt zehn Ortsgemeinden auf je 100 Quadratkilometern, in Mähren jedoch 16, in Böhmen sogar 25. Das nordböhmische Textilgebiet wurde etwa um 1850 aufgrund seiner Bevölkerungsdichte als „Klein-Manchester" bezeichnet. Ein grundlegender Unterschied zwischen der tschechischen Gesellschaft und der slowakischen oder von noch weiter östlich lebenden Völkern begann sich in diesen Jahrzehnten herauszubilden. Oben: Nationalitäten-und Sprachen-Karte von Mähren und Schlesien. Aus: Prof. Anton Leo Hickmanns geographisch-statistischer Taschen-Atlas von Osterreich- Ungarn. Wien 1900 171 Die Tschechen* Die Tschechen Oben: Angehörige der Sokol- Bewegung. Photographie. Um 1900 Rechts: „Die Familie der Slawen": Propagandakarte zur Förderung des Pan-slawismus. Um 1910 Die tschechische Familienstruktur war nach dem westeuropäischen Vorbild, das heißt nach der sich aus Eltern und einem Kind zusammensetzenden Familie, organisiert. Im südostmährischen und slowakischen Raum hingegen herrschte noch bis weit in das 19. Jahrhundert die aus mehreren blutsverwandten Ehepaaren und deren Kindern bestehende Großfamilie vor, die alle im gemeinsamen Haushalt lebten. In Osterreichisch-Schlesien, vor allem um die Kohlenreviere von Ostrau, lebten Tschechen vermischt mit Polen. Es war aber in erster Linie die Frage des Zusammenlebens zwischen Tschechen und Deutschen, die das Leben in Böhmen, Mähren und Schlesien beherrschte und prägte. Im Verhältnis der Tschechen zu Österreich spielte die Niederlage in der Schlacht am Weißen Berg von 1620 und deren Folgen für die tschechische Gesellschaft eine grundlegende Rolle. Die danach einsetzende Gegenreformation veränderte nicht nur das soziale Gefüge, große Ländereien wurden konfisziert und an oftmals landfremde, aber kaisertreue Adelige vergeben. Ein wesentliches Resultat der Gegenreformation war unter anderem, daß sich 96% der Bevölkerung mit tschechischer Umgangssprache zur römisch-katholischen Kirche bekannten. Tschechische katholische Geistliche waren es auch, die, ähnlich wie bei Slowaken und Slowenen, in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts das „nationale Erwachen" fördern sollten. Das Gefühl der Identität zwischen nationaler und konfessioneller Zugehörigkeit, wie es etwa bei den Polen am stärksten ausgeprägt war, fand sich allerdings bei den Tschechen nicht. Die Anzahl der Protestanten betrug bei den Tschechen Böhmischer Löwe. Slawische Naturgeschichte, Falken-Jüngline, der Dolmation. Polnischer Adler (Steinvogel.) unter allen Völkern der österreichischen Reichshälfte mit 2,5% den höchsten Anteil. Andere Bekenntnisse, wie etwa die Herrenhuter Brüdergemeinde, konnten nur einige Hundert Tschechen für sich gewinnen. Obwohl die evangelische Kirche also eher wenig Mitglieder hatte, bekannten sich doch einflußreiche Angehörige der Intelligenzschicht dazu, so zum Beispiel František Palacký oder Tomáš Garrigue Masaryk, der als junger Mann zur evangelischen Kirche konvertierte. Die tschechische Nationalbewegung wurde für andere kleinere Völker, etwa für die Slowaken, zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Vorbild. Am 1. Jänner 1831 erfolgte die Gründung der „Matice česká", deren vorrangiges Ziel die Herausgabe „guter böhmischer Bücher" war, ob nun wissenschaftlichen oder literarischen Inhalts. František Palacký, Joseph Jungmann und Svatopluk Presl waren auf diesem Gebiet die führenden Persönlichkeiten. In den turbulenten Jahren 1848 und 1849 trat dann die Polarisierung im Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen erneut mit aller Schärfe zutage. Beider Nationalbewegungen gerieten aufgrund ihrer diametralen Ansichten über die Frage nach der künftigen politischen Vorherrschaft heftig aneinander. Dabei hatten die deutsche Sprache und Kultur wesentlich zur Inspiration tschechischer Literaten beigetragen; ähnlich wie Petar Preradovic bei den Kroaten, verfaßte auch der bedeutende tschechische Dichter Karl Hynek Mächa (1810-1836) seine ersten Werke noch in deutscher Sprache. Das Ziel der tschechischen Geschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhundert bestand unter anderem darin, zur Wiedererweckung des nationalen Bewußtseins beizutragen. Die legendenumwobene Nationwerdung der Tschechen, der Mythos um Li- ..Slawische Naturgeschichte": Satirisches Blatt aus „Hans Jörgl" auf die erwachenden slawischen Xational-gefühle. Farblitbograpbie. Wien 1869 172 173 Tschechische Mädchen aus Böhmen, Mähren und Schlesien. Bildpostkarte. Um 1900 Die Tschechen Slovanské kroje ví Čechy bussa, spielte ebenso eine bedeutende Rolle wie die Rückblende auf die Hussitenzeit und den Dreißigjährigen Krieg. Aus Historikern wurden auf diese Weise vielfach Politiker, wie das Beispiel des mährischen Lehrersohns František Palacky zeigte. Die starke Hinwendung zur nicht-deutschsprachigen Literatur ab den 1870er Jahren verriet dabei auch das Bestreben, sich vom deutschen Kulturkreis abzugrenzen; Ubersetzungen der Werke von Victor Hugo oder Paul Verlaine ins Tschechische waren durchaus erfolgreich. Gerade das tschechische Bürgertum - die tschechische Gesellschaft war bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts wesentlich mehr strukturiert gewesen als etwa die slowakische -wurde zur Trägerschicht des nationalen Gedankens. Die geistige und soziale Mobilität der Prager Gesellschaft kam auch durch die verfeinerte, elegante Bekleidung zum Ausdruck. Das „Prager Tuch" wurde von Besuchern aus dem Ausland bewundert, für gute Qualität bei Stoffen waren die Prager bereit, viel Geld auszugeben: „Wer sich für nichts ausgibt, den halten die Leute für nichts", stellte man durchaus auch im Freundeskreis von Palacky fest. In den 1870er Jahren setzte dann verstärkt der Slezsko wirtschaftliche Fortschritt ein. „Der Tscheche, der einstens in den Städten und iMärkten hauptsächlich als Handwerker tätig war, ist nun Kaufmann geworden, und mächtige Industrien leiten ihre Gewinne in die Taschen der tschechischen Kapitalisten", wurde 1918 von Richard Charmatz in seinem Werk „Osterreich als Völkerstaat" über die soziale Entwicklung der Tschechen in den vorangegangenen Jahrzehnten festgestellt. 1869 war die Gründung der Gewerbebank, der „Živnostenská banka", erfolgt. Die Gemeindeverwaltung und die fünf Jahre zuvor ins Leben gerufene Bezirksselbstverwaltung trugen zur weiteren Entwicklung des nationalen und politischen Lebens der Tschechen bei. Der Aufschwung, den Bergbau und Industrie damals nahmen, strahlte bis nach Galizien und in die Bukowina aus. Daß im Unterrichtswesen die naturwissenschaftliche praktische Ausbildung einen hohen Stellenwert einnahm, mag mit ein Grund für die rasche Entwicklung im industriellen Bereich gewesen sein. Allein am tschechischen Wort für Industrie, „průmysl", ließ sich diese Bedeutung ablesen: průmysl kommt von myslit, denken. In einer 1857 erschienenen Zeitschrift hieß es dazu: „Industrie ist in deinem Kopf, dort klopfe an und du erfährst es." Die Tschechen Dieser Wachstumsschub in allen Lebensbereichen machte sich auch im politischen Umfeld bemerkbar. Der Beamtenapparat wurde immer mehr mit Tschechen durchsetzt, die sowohl in den österreichischen als auch den gemeinsamen Ministerien ihren Dienst verrichteten. Im nationalen Leben wurden dann in den 1860er Jahren „Meetings" bedeutend, Versammlungen, die nach irischem Vorbild diesen Namen erhalten hatten und als große, volksfestartige Veranstaltungen der Mobilisierung patriotischer Gefühle dienen sollten. Zentausende nahmen jeweils daran teil. Diese Versammlungen wurden dann in „tábory" -Volksversammlungen - umbenannt. Von 1868 bis 1871 fanden an die einhundert dieser Treffen in Böhmen statt, an die vierzig weitere in Mähren und Schlesien. Die 1862 gegründete Sokol-Bewegung war ein weiteres Instrument zur Mobilisierung der nationalen Gefühle. Die Mitglieder dieses pansla-wistisch ausgerichteten Vereins mit stark tschechisch-nationalistischer Stoßrichtung übten sich im Turnen und anderen Formen der Körperertüchtigung, ihre Auftritte stellten aber zugleich auch machtvolle nationale Demonstrationen dar. Die Sokol-Bewegung war gesellschaftlich sehr bedeutend und wies 1912 etwa 120000 Mitglieder auf. Gerade die 1870er Jahre stellten eine Periode mit permanenten nationalistischen Ausschreitungen dar. Die Enthüllung des Denkmals für den Hussi-tengeneral Žižka im Jahre 1874 bot Gelegenheit für Protest gegen die Politik Wiens, die die Magyaren bevorzugte und den Tschechen - trotz der wirtschaftlichen Leistungen, die sie vorweisen konnten - das Gefühl gab, bloß „ungeliebte Kinder" zu sein. Der „Volkstumskampf' wurde mehr und mehr in den Zeitungen ausgetragen. Für die Deutschen war dabei die „Deutsche Volkszeitung" ein wichtiges Sprachrohr, für die Tschechen „Hlas národa" (Stimme des Volkes) oder „Gas" (Die Zeit). Ein weiteres Reizthema betraf den Gebrauch des Tschechischen oder Deutschen im Schulwesen, worüber erbitterte Auseinandersetzungen entbrannten: Bildung wurde geradezu als Waffe gesehen und eingesetzt. Vor allem nach dem mißlungenen „Ausgleich" mit den Tschechen vom Jahre 1871, der an magyarischer und deutscher Obstruktion gescheitert war, radikaliserte sich das nationale Leben, und schon elf Jahre später, 1882, kam es zur Trennung der ehrwürdigen Karlsuniversität in Prag in einen deut- schen und einen tschechischen Teil. Die Separation zwischen den Tschechen und Deutschen ging so weit, daß sogar Bierlokale nach dem Kriterium der „ethnischen Absonderung" besucht wurden; gab es dennoch einmal einen Restaurationsbetrieb, den sowohl tschechische als auch deutsche Studenten aufsuchten, so konnte man sicher sein, daß die Bier-krügel sehr bald zweckentfremdet verwendet wurden. So harmlos-heiter im milderen Licht der Vergangenheit solche Vorkommnisse erscheinen mögen, sind sie doch ein Indiz dafür, wie tief die Spaltung ging. Daß man sich auf der politischen Bühne nichts schenkte und erbitterte Wortduelle lieferte, war eine Sache; doch wenn die Entfremdung schon so weit ging, daß sogar im Privatleben ein gemeinsamer Verkehr schwierig, ja unmöglich wurde, dann war die Lage wohl wirklich ernst. Dazu kam, daß die tschechische Gesellschaft seit den 1870er Jahren in einem starken Wandlungsprozeß begriffen war. Vom „Bauern-und Dienstboten- ren- ko. rojvriysu „Rozmysli Bildpostkarte mit tschechischem Volkslied. Um 1910 174 175 Die Tschechen Tschechisches Paar aus Chodait. Böhmen. Photographie. Um 1910 Die Tschechen volk" konnte nicht mehr die Rede sein. Die Volkszählung aus dem Jahre 1900, deren Ergebnisse erstmals im Hinblick auf Umgangssprache und Berufszugehörigkeit verglichen wurden, zeigte deutlich auf, daß der Ubergang vom Agrarsektor in den industriellen Bereich bei den Tschechen - neben den Deutschen - am signifikantesten war. Und die nächste Volkszählung, 1910, bestätigte diese Entwicklung noch, nun war sogar der Anteil an Industrie und Handwerk bei den Tschechen höher als bei der Bevölkerung mit deutscher Umgangssprache. Böhmen sollte nach dem Zerfall der Donaumonarchie in den zwanziger und dreißiger Jahren hinsichtlich seiner industriellen Leistungsfähigkeit das nunmehr kleine und verarmte Osterreich bei weitem übertreffen. Ein erstes Indiz für diese dynamische Entwicklung bedeutete bereits die Wirtschaftsausstellung 1891 in Prag, die von den Deutschböhmen boykottiert wurde, den Besuchern aber deudich vor Augen führte, wie effizient die tschechische Textilindustrie im Osten und Nordosten Böhmens und die Glasindustrie waren, wie modern die Herstellung von elektrotechnischen Produkten erfolgte. Maschinenbau, ja sogar die noch junge Automobilindustrie - all diese Erwerbszweige wurden in Böhmen schnell und mit großem Kapitalaufwand errichtet und vorangetrieben. Die Tschechen, so wurde ihnen bestätigt, waren eben aufgeweckt und begabt, dazu fleißig in der Art und Weise, daß sie zuerst handelten und dann darüber redeten, und nicht umgekehrt. Jahr für Jahr verdingten sich aber auch Zehntausende Tschechen als Arbeitskräfte in Niederösterreich und Wien. Die Wiener „Ziegelböhm'", die in elenden Massenquartieren im zehnten Wiener Gemeindebezirk hausten, wurden zu einem Symbol für die Anklage gegen soziales Unrecht und Ausbeutung. Sie waren es aber auch, die das Bild von Oben: Tschechische Bauern aus ChocLiu, Böhmen. Kolorierte Photographie. Um 1910 Links: Tschechische Bäuerin. Bildpostkarte nach einer Zeichnung von V.Maly. Um 1910 176 177 Die Tschechen Oben: „Erntezeit (ol>iiiiky) ". Holzschnitt von Adolf Liebscher. Aus: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild: Böhmen (I. Band). Wien 1894 Unten: „Das Hopfenbanzfest in Saaz". Holzschnitt von Rudolf von Ottenfeld. Aus: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild: Böhmen (I. Band). Wien 1894 Gegenüber: Hannahische Festtracht. Photographie. Um 1910 „den Tschechen" als einfachen, arbeitsamen Leute prägten und auf die die Wiener - die vielfach selbst erst vor einer oder zwei Generationen aus anderen Kronländern in die kaiserliche Residenzstadt gezogen waren - dann mit Verachtung und dem wohligen Schauer des Parvenüs, der seine Herkunft zwar nicht vergessen, aber doch verdrängt hat. blickten. Die Wiener hielten die Tschechen für dickköpfig und widerspenstig, wozu vielleicht auch ihre nur mühevoll zu erlernende Sprache - Herzmanovsky-Orlando wußte darüber zu berichten, daß diese zur Nachmittagszerstreuung eines habsburgischen Erzherzogs erfunden worden war - beitrug. Dabei war bereits 1761 das erste tschechische Blatt in Wien, „C.k. privilegované české vídeňské poštovní noviny" (K. k. privilegierte Wiener tschechische Postzeitung), erschienen. Der Aufschwung der tschechischen Gesellschaft ging auch auf das gute Schul- und Bildungswesen zurück. Die Tschechen lagen bei den Daten über die Allgemeinbildung unter den Völkern der Monarchie an der Spitze. Die Volkszählung von 1900 stellte fest, daß unter ihnen die geringste Zahl an Analphabeten zu finden war. Es war ihnen aber nicht immer leicht gemacht worden. Schulbildung in ihrer Muttersprache zu erlangen. In Niederösterreich, wo ja auch Tschechen lebten, wurde ihre Sprache 1914 nur in neun Volksschulen gelehrt, und dies auch nur auf der untersten Stufe, um die Kinder für den Deutschunterricht besser vorzubereiten, indem ihnen die Grundlagen des Deutschen in ihrer Muttersprache vermittelt wurden. Die erste tschechische Hauptschule entstand zwar bereits 1814 in Prag, im Jahr darauf die erste Realschule. Tschechische Gymnasien gab es aber erst ab den 1860er Jahren, als 1862 in Tábor die erste Einrichtung dieser Art entstand. In den folgenden Jahrzehnten verbesserte sich - außer in Schlesien - die Lage. Mähren nahm durch seine Lage eine „Zwischenstellung" ein. Zwischen Böhmen und Niederösterreich beziehungsweise Wien gelegen, stellte sich für die Mährer - Deutsche wie Tschechen - die Frage, zu welchem Zentrum sie mehr tendieren sollten. Brünn galt aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung als „Manchester von Osterreich", hatte aufgrund seiner geographischen Nähe zur Residenzstadt aber auch mit der abwertenden Bezeichnung als „Vorstadt" von Wien zu kämpfen. Auf regionaler Ebene waren die Städte Zentren des 178 Die Tschechen Die Tschechen „Sachtlager im Ziegelofen ". Photographie von Hermann Dnnrefiir Emil Klägers Buch „Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens". 1908 deutschen Bürgertums, nur in manchen Gemeinden wie Proßnitz (Prostějov) oder den Vorstädten Brünns konnte sich auch das tschechische Bürgertum durchsetzen. Proßnitz war die größte Stadt Mährens mit tschechischer Verwaltung und gewann dadurch Vorbildwirkung für das politische Leben der Tschechen in Mähren. Bis zum „Mährischen Ausgleich", 1905, stellten deutschstämmige Großgrundbesitzer und deutschmährische Liberale die Mehrheit im Landtag. Die Bestimmungen dieses Ausgleichs sahen die Bildung nationaler Kurien im Landtag vor, die aufgrund der Angaben aus einem dafür erstellten nationalen Kataster gebildet wurden. Die Großgrundbesitzer bildeten eine Kurie für sich. Zum Schutz für die - in der Minderheit befindlichen - Deutschmährer wurde festgelegt, daß von den 121 Abgeordneten zwei Drittel den Anträgen im Landtag zustimmen mußten. Das bedeutete, daß die Deutschen nicht überstimmt werden konnten. Die Erstellung eines nationalen Katasters war weiters maßgebend für die Ausübung des Landtagsund Reichsratswahlrechts; die Einteilung in tschechische und deutsche Wahlbezirke wurde danach getroffen. In Wien lebte um 1910 eine viertel Million Tschechen, es wurde daher als „zweitgrößte tschechische Stadt" bezeichnet. Die deutschsprachige Wiener Bevölkerung bekam es allmählich mit der Angst zu tun, daß sich die „liebe alte Wienerstadt" in ein gemischtsprachiges Babylon, einen wahren Moloch, verwandeln könnte. Die Angst vor Änderungen im gewohnten Alltagsleben, vor der als zu schnell und unheimlich erlebten Industrialisierung und dem Fortschritt in Wissenschaft und Technik im allgemeinen spielte bei der Entstehung von Vorurteilen sowohl gegen Juden als auch gegen Slawen eine große Rolle. Die Furcht vor der allzu rasanten iModernisierung und Beschleunigung des Lebenstempos brachte vielfach auch xenophobe Einstellungen der Wiener Bevölkerung hervor. Im Wiener Gemeinderat wurde etwa 1897 die Forderung erhoben, daß bei der Besetzung von Dienstposten ausschließlich Personen mit deutscher Nationalität heranzuziehen wären. Der christlichsoziale Bürgermeister Lueger beugte sich diesem Verlangen und verkündete einen faktischen Boykott für tschechische Gemeindebedienstete. Lueger war es auch, der eine Änderung des Gemeindestatus vornahm: Die Tschechen sollten sich demnach zur „Wahrung des deutschen Charakters der Stadt" verpflichten, wollten sie Vollbürger Wiens werden. Das Bürgerrecht sollte also nur Personen zukommen, die sich zur deutschen Nationalität bekannten und den „angestammten deutschen Charakter" der Metropole als gegeben annahmen. In Paragraph 10 des Gesetzes vom 24. März 1900, in dem es um die Bürgerpflichten ging, hieß es demgemäß: „Der aufgenommene Bürger hat vor dem Bürgermeister eidlich anzugeloben, dass er alle Bürgerpflichten nach Vorschrift des Gemeindestatuts gewissenhaft erfüllen, das Beste der Gemeinde möglichst fördern und den Charakter der Stadt Wien als Reichshaupt- und Residenzstadt, sowie den deutschen Charakter der Stadt nach Kräften aufrecht erhalten wolle." Natürlich erfolgten daraufhin Proteste von tschechischer Seite. Die Auseinandersetzungen gingen so weit, daß den Tschechen vorgeworfen wurde, vor Volks-zählungen bewußt Landsleute Dach Wien zu bolen, damit die Erhebung der Umgangssprache - nach der bei den Volkszählungen in Cisleithanien gefragt wurde - eine stets wachsende Zahl von Tschechen ergeben würde. Die Formulare für die Volkszählung sollten daher eine Rubrik enthalten, der die auswertenden Beamten die bisherige Aufenthaltsdauer in Wien entnehmen konnten. Dies, so die Verfechter dieses Plans, sollte verhindern, daß „fanatische Slawen" ein falsches Bild von der Bevölkerungszahl der Tschechen in Wien hervorriefen. Obwohl diese Forderung abgelehnt wurde, verdeutlicht sie doch das soziale Klima dieser Jahre. Die Volkszählung des Jahres 1900, bei der man nach der tschechisch-mährisch-slowakischen Umgangssprache gefragte hatte, wies einen Anteil von sieben Prozent Tschechen - rund 103 000 Personen - in Wien aus. Nur 47 Prozent der Wiener, so eine Erkenntnis aus den Zählungsergebnissen, waren auch tatsächlich bereits in Wien geboren worden. Vierzehn Prozent, mehr als 235 000 Menschen, gaben einen böhmischen Geburtsort an. Die tschechischen Zuwanderer konnten sich oftmals sehr schnell als Handwerker und Kleinunternehmer etablieren: „Das Haus gehört dem Pospíšil, jenes gehört dem Kratochvil und beide baut der Navrátil", lautete ein im Wien der 1880er Jahre zu hörender Liedtext mit - noch gutmütigem - Spott. Ein zunehmend gesteigertes Selbstbewußtsein war unter den Wener Tschechen zu finden, für dessen weitere Entwicklung der 1872 gegründete Komensky-Schulverein mitverantwortlich zeichnete. Es galt als ungeschriebenes Gesetz, daß alle tschechischen Vereine, ungeachtet ihrer weltanschaulichen oder politischen Ausrichtung, diesen finanziell zu unterstützen hatten. Von deutscher Seite wurde daher immer häufiger die Befürchtung geäußert, daß Wen zu einem zweiten „Konstantinopel" werden könnte: ,Jüdische Dekadenz" in Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft, slawischtschechische Vormachtstellung im Wirtschaftsleben und bei den Beamten - dies war das Material für die Alpträume des deutschnationalen Kleinbürgertums. Nach 1900 verringerte sich die tschechische Zuwanderung allmählich, da sich die wirtschaftliche Entwicklung in Böhmen in diesen Jahren wesentlich verbesserte. Gleichzeitig verstärkte sich aber die Tätigkeit nationaler tschechischer Vereine in Wien, zeigte die tschechische Presse in Böhmen ein vermehrtes Interesse an der Lage der Konnationalen in der Residenzstadt: Es wäre geradezu ungeheuerlich, daß tschechische Handwerksgesellen oder Dienstmädchen bei der Volkszählung als Umgangssprache „deutsch" anzugeben hätten, so einer der tschechischen Vorwürfe. Der „nationale Schutzgedanke" schaukelte sich auf beiden Seiten, bei den Deutschen und bei den Tschechen, vor der Volkszählung 1910 immer mehr auf. In einer Entscheidung des Reichsgerichts vom 19. Oktober 1904 wurde bezüglich der Feststellung der Umgangs- sprache beispielsweise erklärt, daß der „böhmische Volksstamm" nicht in Niederöstereich beheimatet sei und auch in Wien der „böhmischen Sprache der Charakter einer in Wien landesüblichen Sprache nicht beigelegt werden kann". Je näher man der Volkszählung kam, desto hitziger wurden die Diskussionen um die Verwendung des Tschechischen. Deutsche Hausbesitzer wurden sogar aufgefordert, Hausparteien, die sich im öffentlichen Leben durchaus des Deutschen bedienten, bei der Zählung allerdings „gegen Wahrheit und Gesetz" das Tschechische als Umgangssprache eintrugen, die Wohnung aufzukündigen. Es kam zu Wirtschaftsboykottmaßnahmen von beiden Seiten, „Svuj k svemu" - jeder halte zu den Seinen, lautete dabei die tschechische Losung. Der bei den Tschechen trotzdem so erfolgreich verlaufende Assimilationsprozeß stellte vielfach aber nicht nur das Ergebnis von Anpassung im ökonomischen Bereich dar, sondern entsprang auch der Wertschätzung der deutschen Kultur. Diese Hinneigung wurde den Tschechen aber nicht leichtgemacht. Die Währinger Bezirksvertretung erhob in einem Antrag vom 27. Jänner 1911 die Forderung, daß Bedienstete der Gemeinde Wien, die bei der letzten Volkszählung tschechisch als Umgangssprache angegeben hatten, sofort zu entlassen wären; die Gemeinde Wien sollte nur deutsche Beamte anstellen, nur deutsche Arbeiter beschäftigen, ja sogar Kostkinder des Magistrats sollten nur deutschen Familien zur Pflege übergeben werden. Es waren ^ar nicht so sehr die Gra- JFünflireuzertanz im Ii icner Prater Satirische Bildpostkurte. Um 1900 180 181 Die Tschechen Die Tschechen Oben: „Das Johannis-fest auf der Karlsbrücke ZU Prag". Holzschnitt von Josef Douba. Aus: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Hon und Bild: Böhmen (1. Band). Wien 1894 benkämpfe der „großen Politik", die das Zusammenleben vergifteten, die kleinen Bosheiten und Gemeinheiten des Alltages waren es vielmehr, die das Miteinander immer mehr erschwerten und schließlich sogar dazu führten, daß der Ausbruch des Kriegs als „Befreiung" erlebt wurde. Das „gewaltige Erlebnis" Krieg sollte dazu fuhren, daß all der kleinliche Hader und Zank zwischen den Nationalitäten endete und sich die Völkerfamilie geeint hinter dem Herrscherthron scharte - jeder dem anderem Schutz und Schirm in dieser „großen", wenngleich schweren Zeit. Diese Wunschvorstellung sollte allerdings nicht in Erfüllung gehen. Die tschechischen Parteien im Königreich Böhmen, wie etwa die sich am Kleinbürgertum orientierenden Jungtschechen und die liberalen, klerikalen Alttschechen, waren sich lange vor 1914 einig gewesen, daß sie einen böhmischen Staat mit tschechischer Staatssprache wollten; der Ausgleich mit Ungarn war dafür das Modell. Diesbezügliche Ausgleichsgespräche scheiterten jedoch immer wieder, konnte man sich doch beispielsweise nicht darauf einigen, wie die Gerichtssprengel aufzuteilen wären. Die Tschechen suchten daher in Rußland, aber auch in Frankreich Verbündete. 1891 besuchte Franz Joseph die Landesausstellung in Prag, eine Leistungsschau von Wirtschaft und Kultur, an der die Deutschböhmen die Teilnahme verweigert hatten. Im selben Jahr faßte das Prager Stadtparlament den Beschluß, deutsche Geschäfts- und Straßenschilder entfernen zu lassen, was zu heftigen Auseinandersetzungen vor allem mit der deutschen Studentenschaft führte. Der Ausnahmezustand beherrschte die Stadt. Die Sprachverordnung von Ministerpräsident Kasimir Graf Badeni aus dem Jahr 1897 über die Gleichstellung des Deutschen und Tschechischen im inneren und äußeren Dienstverkehr trug noch zur Verhärtung der Standpunkte bei und führte erst recht zur Obstruktion von Seiten der Deutschen. Das Organ der „Deutschen Volkspartei" in Graz, das „Grazer Tagblatt", sah gar die „raubgierige russophile Fratze in das deutsche Heim" lugen; im Reichsrat kam es zu Handgreiflichkeiten. Der umstrittene Paragraph 14, der Notverordnungsparagraph, trat in Kraft, der Reichstag wurde geschlossen. Für die Juden in Böhmen bedeuteten diese Streitigkeiten letztlich die Entscheidung zwischen dem Deutsch- und dem Tschechentum. Da die Juden der Monarchie traditionellerweise dem Deutschtum nahestanden, sprachen sich viele von ihnen, vor allem in Prag, für die deutsche Seite aus, was wiederum zu antisemitischen Attacken führte. Unter den Völkern Europas, die vor 1914 ohne einen eigenen Nationalstaat lebten, waren die Tschechen wohl dasjenige mit der am meisten ausgebildeten und differenziertesten Sozialstruktur. Der geistige Anschluß an Westeuropa war durch Wissenschaftler und Künstler längst vollzogen worden. Mit dem Kriegsausbruch übernahmen dann im Ausland lebende Intellektuelle und Politiker die Führung des nationalen Lebens, wobei auch mit slowakischen Emigranten in den Vereinigten Staaten enge Beziehungen bestanden. Ein beträchtlicher Teil der tschechischen Bevölkerung bejahte - bei aller Kritik - aber weiterhin die Staatsform der Monarchie. Der Kriegsverlauf sollte deren Weiterbestand aber als zunehmend unrealistisch erscheinen lassen; tschechische Truppenteile liefen zum Gegner über. Tomáš G. Masaryk schloß am 30. Mai 1918 in den LTSA den „Pittsburgher Vertrag" mit slowakischen Vertretern über eine künftige Vereinigung beider Völker in einem Staat. Der bereits 1916 in Paris von Masaryk und Edvard Beneš eingerichtete tschechoslowakische Nationalrat erhielt von den Ententemächten am 28. September 1918 die Anerkennung als vorläufige Regierung, am 28. Oktober erfolgte dann die Proklamation des unabhängigen tschechoslowakischen Staats in Prag. Die Nationalitätenfrage sollte allerdings weiterhin ungelöst bleiben: In Böhmen wandten sich die zur nationalen Minderheit gewordenen Deutschen, im ehemaligen Oberungarn die Magyaren gegen die Prager Regierung. Auch im neuen Gewand des unabhängigen Staates sollten die alten Nationalitätenkonflikte, die Streitigkeiten um die jeweilige Amts- und Schulsprache, um politische Autonomie und mehr Mtspracherecht, weiterhin bestehen bleiben. Links: Blick auf den Pidvertiinn in Prag. Photographie. 1900 Gegenüber: Unten: Der Wenzelsplatz in Prag. Photographie. Um 1900 183 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Heuberger, Valeria Unter dem Doppeladler : Die Nationalitäten der Habsburger-Monarchie 1848 - 1918 / Valeria Heuberger. - Wien : Brandstätter, 1997 ISBN 3-85447-685-X 1. Auflage 1997 Die graphische Gestaltung und der Entwurf des Schutzumschlages (unter Verwendung von kolorierten Lithographien von Moritz von Schwind und Matthäus Loder aus „Trentsensky's Völkertrachten", Wien 1822/25) stammen von Christian Brandstätter. Das Lektorat des Texts erfolgte durch Helga Sieche, das der Bildlegenden durch Michael Neugebauer. Die technische Herstellung besorgte Josef Embacher. Die Reproduktion der Abbildungen erfolgte bei Grafo in Wien, Druck und Bindung bei Theiss Druck in Wolfsberg. Die Abbildung auf Seite 1 zeigt das mittlere gemeinsame Wappen Österreich-Ungarns, die auf Seite 2 den Doppeladler mit den Wappen der Kronländer aus dem Jahr 1915. Bildquellennachweis: Austrian Archives/Dr. Christian Brandstätter, Wien: Seite 1, 2, 6, 7 o., 10, 11, 12 u., 14, 15, 18 o., 22, 23, 25, 26, 28 u., 29 o., 31 o., 38/39 u., 39 o., 42, 44, 45, 47, 48 u., 49, 52 1., 56, 57, 61 o., 63 o., 68 u., 70, 72, 73, 76, 91, 155, 173, 180, 182 u., 194 u., 195. Bildarchiv Verlag Christian Brandstätter: Seite 7 u., 8/9, 12 o., 13, 16, 17, 18 u., 19-21, 24, 27, 28 o., 29 u., 30, 31 u., 32-37, 38 o., 40, 41, 43, 46, 48 o., 50, 51, 52 r., 53, 55, 58-60, 61 u., 63 u., 64-67, 68 o., 69, 71, 74, 75, 77-85, 86 o. und M., 87 , 88/89, 89 o., 90, 92 u., 93, 94, 96-104, 106-144, 146-149, 151 u., 153, 154, 156-172, 174-79, 181, 182 o., 183-193, 194 o., 196-202. Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien: Seite 92 o., 105, 145, 150, 151 o. Dr. Valeria Heuberger: Seite 62, 86 u.; Heinz Urning, Wien: Seite 54, 95. Der Verlag dankt Dir. Mag. Herwig Würtz von der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Dr. Hansjörg Krug vom Wiener Antiquariat Christian M. Nebehay und Detlef Hilmer, München, für die Unterstützung bei der Bildrecherche. Copyright © 1997 by Verlag Christian Brandstätter, Wien - München Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Abdrucks oder der Reproduktion einer Abbildung, sind vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Verlages ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ISBN 3-85447-685-X Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m. b. H. A-1080 Wien, Wickenburggasse 26 Telephon (+43-1) 408 38 14, Telefax~(+43-l) 4087200 e-mail: books@cbv.co.at »Ann, hSs 1*3 ^-v "Ä JNESLAF 9 oJ |»un» «Iii- j 11 A«//>/ \ 2 F R o 11. TJtnuth, > o IT t^i/irttni s 5 v, * \Jgs*pr aL ,;h'dt£*7, näss* /T /d/ff\vm* 'KiTsdiliS"! .st. "Mtrrrtßriip Olmüu Jiiroxtem n'nwnxifr \ AiixtrrUtx Xittri/te. . I Rtivzowmt 1 jVzem Lentschim kifl'iits 'irtrnär*. 3fr (l.'tai'vf.«/! y» 5»-/ Übersichtskarte der ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN MONARCHIE mit den Grenzen für den politischen und| gerichtlichen Verwaltungsdienst-Maßstab 1 : 4,000.000. _50_100_l$0_900 Km. Taniof Eisenbahn N/.-illi.s/«" Kolon* i:v.wi«T SD. Ä ..<3 a i n Itrnili». Aiiroii Zeichenerklärung: •m. Monarchiegrenze Oberlandesgerichts- gretl ze (in Österreich) =rLandesgrenze ... Gerichtstafelgrenze (in l'njfirn) t55= kronlandsqrenze , * *>» Amtssitz des Ober- Statthalterei-ader landesgerichtes v£> Landesregierung*-^ Amtssitz der Gerichtssitz tafel In Wien, Budapest. Agrinn der Oberste Gerichts-unii Cassationshof.