1 Band 6. Die Weimarer Republik 1918/19–1933 Prof. Schultze-Naumburg und Walter Gropius, „Wer hat Recht? Traditionelle Baukunst oder Bauen in neuen Formen“ (1926) Wer hat Recht? Traditionelle Baukunst oder Bauen in neuen Formen Walter Gropius sagt: die lust am bauen, am gestalten unserer häuser und städte wächst in allen schichten der bevölkerung, die gewaltigen entdeckungen, die völlig veränderten mittel der technik, die in 2 generationen umwälzungen mit sich brachten, die vielleicht ein ganzes jahrtausend zuvor überflügeln, haben die bauende welt vor eine solche fülle neuer probleme gestellt, daß die praxis noch nicht den kleinsten teil der möglichkeiten erfüllen kann. technische probleme, die noch vor kurzer zeit träumerische utopien waren, sind mit hilfe der neu entdeckten kräfte – dampf und elektrizität – gelöst worden und haben die mittel für unsere bisherige lebensführung als veraltete methoden weit zurückgelassen. die natürliche trägheit des menschlichen herzens verhindert die schnelle umstellung auf die neuen errungenschaften. erst ein kleiner teil unserer bedürfnisse wird mit hilfe dieser neu eingefangenen naturkräfte und ihrem werkzeug, der maschine, befriedigt. aber gerade das bauen, dieser komplex verschiedenartigster werkarbeit, steht noch mitten in mittelalterlichen handwerksmethoden; die einbeziehung maschineller kräfte hat hier erst gerade begonnen, alles bisherige an materialien, konstruktionen und formen über den haufen zu werfen. die neuen materialien, eisen, beton, glas, standen früheren generationen gar nicht oder nur im geringsten ausmaß zur verfügung. ihre anwendung beginnt der architektur von heute ein völlig neues überraschendes gesicht zu geben. ähnlich wie bei einzelnen gegenständen unserer umgebung, wie heizung und beleuchtung infolge der verwendung industrieller herstellungsmethoden, ein völliger gestaltwandel gegen früher festzustellen ist, beginnt sich auch hier die gestalt der baukörper grundlegend zu verändern. zunächst offenbart sich dieser wandel an allen bauwerken, die neuen, der gegenwart entsprechenden raumproblemen dienen, wie etwa fabriken, bahnhöfen, brückenbauten. von ihnen ging daher auch ganz logisch die befruchtung der neuen baukunst aus, denn die neuen erfindungen der technik müssen heute, wie zu allen zeiten, von ausschlaggebender bedeutung für die entwicklung der baukunst werden. 2 aber verhängnisvolle irrtümer verhindern das breite eindringen dieser selbstverständlichkeiten in die große masse der übrigen bauplanungen. mit dem rückgang des mittelalterlichen handwerks stieg der begriff des akademischen, und der hüter der baukunst, der architekt, verlor die natürliche verbindung mit der fortschreitenden technik neuer materialien und konstruktionen, blieb im akademischen ästhetentum hängen, ward müde und konventionbefangen, und die lebendige gestaltung der behausungen und städte entglitt ihm. die kunst des bauens versank in den letzten generationen in einer schwächlich sentimentalen auffassung, die ihr ziel in formalistischer verwendung von motiven, ornamenten und profilen erblickte, die den baukörper bedeckten, der bau wurde ein träger äußerlicher, toter schmuckformen, anstatt ein lebendiger organismus zu sein. die führer der modernen baubewegung ziehen gegen das matte und sterbende epigonentum einer dekorierenden architektenschaft entschlossen zu felde. es muß sinnlos erscheinen, daß der mensch dieser technischen zeit sich mit imitationen vergangener, in ihrer struktur so gänzlich anderer zeiten, wie gotik, rokoko, renaissance, barock, umgibt. diese zeiten dachten nicht daran, die vergangenen zu imitieren, sie waren stolz auf den eigenen ausdruck ihres lebens. die imitation dieser vergangenen stile im äußeren und inneren unserer häuser wirkt genau so albern, als wenn wir auf unseren straßen im kostüm und kopfputz dieser zeiten herumwandelten. der moderne mensch von 1926 braucht städte, häuser, wohnungen und geräte aus seiner zeit, nach form und technik klare ergebnisse der mittel und methoden, die uns die errungenschaften unseres geistes an die hand geben. die gebundenheit aller bauorganismen, die unserem leben dienen sollen, an industrie und wirtschaft, an ihre exaktheit und knappe ausnutzung von raum und material, wird ihre gestalt bestimmen. die entschlossene berücksichtigung aller modernen methoden beim errichten unserer bauten muß gefordert werden, auch wenn ihre form, von der althergebrachten abweichend, ungewohnt und überraschend wirkt. denn die fähigkeit, einen bau „schön“ zu gestalten, beruht auf der meisterlichen beherrschung aller wirtschaftlichen, technischen und formalen voraussetzungen, aus denen sein organismus resultiert. die art, wie der erbauer die beziehungen der massen, materialien und farben des baues ordnet, schafft ihm sein charakteristisches gesicht. in den maßverhältnissen dieser ordnung liegt sein kultureller wert verborgen, nicht in äußerlicher zutat von schmückendem profil und ornament. diese stören seine klare gestalt, sobald sie nicht funktionell, d. h. aus ihrem technischen und räumlichen sinn begründet sind. so entwickelt die neue architektur ihr gegenwartbejahendes manifest: „organische gestaltung der dinge aus ihrem eigenen gegenwartgebundenen gesetz heraus, ohne romantische beschönigungen und verspieltheiten. beschränkung auf typische, jedem verständliche grundformen und grundfarben. 3 einfachheit im vielfachen, knappe ausnutzung von raum, stoff, zeit und geld. bejahung der lebendigen umwelt der maschinen und fahrzeuge, ihres tempos und ihres rhythmus. beherrschung immer kühnerer gestaltungsmittel, um die erden-trägheit im bau in wirkung und erscheinung schwebend zu überwinden.“ gebunden an den ungeheuren aufwand technischer und stofflicher mittel, folgt die entwicklung nur schrittweise der vorauseilenden idee. da bauen kollektive arbeit ist, hängt sein gedeihen nicht nur vom einzelnen, sondern vom interesse der gesamtheit ab. die lust am bauen muß gesteigert werden. die unermeßliche wohnungsnot gibt uns dazu die natürliche handhabe. wie können wir billige, gute, unserer zeit entsprechende wohnungen schaffen? allgemein brauchbare lösungen, die dieser zeit entsprechen, sind noch nicht entstanden, weil das problem des wohnungsbaues an sich noch nirgends in seinem ganzen soziologischen, wirtschaftlichen, technischen und formalen gefüge erfaßt und danach planmäßig und im großen von grund auf gelöst wurde. der strategische generalplan, das „wie wollen wir wohnen“ als allgemein gültiges, aus den geistigen und materiellen möglichkeiten der gegenwart gefundenes denkergebnis, existiert noch nicht. entspricht es unserer art zu leben, daß jedes individuum eine ganz andere wohnstätte als das andere hat? wir tragen das gleiche moderne gewand, das jedem individuum dennoch seinen spielraum läßt; warum bauen wir nicht unsere häuser ebenso? die wirtschaftsfrage steht überragend im vordergrund. Die versuche, die bisherige handwerkliche bauweise unserer wohnhäuser durch schärfere betriebsmethoden zu verbilligen, haben nur geringe fortschritte gebracht. das problem wurde nicht an der wurzel gepackt. das neue ziel ist der montagetrockenbau, d. h. fabrikmäßige herstellung von wohnhäusern im großbetrieb auf vorrat, die nicht mehr an der baustelle, sondern im wesentlichen in spezialfabriken in montagefähigen einzelteilen erzeugt werden müssen. das würde einen baukasten im großen bedeuten, der es ermöglichte, ein wohnhaus wie einen schuh vom lager zu beziehen. erfahrene fachleute schätzen die auf diesem wege zu erwartenden bauersparnisse gegenüber den bisherigen baumethoden auf 50 prozent und mehr. die verbilligung der dinge des täglichen bedarfs entstand durch eine vermehrung der mechanischen kräfte – dampf und elektrizität – gegenüber der handarbeit; von ihrer ausnutzung wird auch die verbilligung des hausbaues abhängen. die mehrzahl der bürger zivilisierter völker hat gleichartige wohn- und lebensbedürfnisse. es ist also nicht einzusehen, warum nicht das wohngehäuse, das wir uns schaffen, eine gleich einheitliche prägnanz aufweist, wie unsere kleider, schuhe, koffer, automobile. es ist durch nichts gerechtfertigt, daß jedes haus unserer neuen vorstädte einen anderen grundriß, eine andere außenform, einen anderen baustil und andere baumaterialien aufweist. im gegenteil bedeutet dies eine sinnlose verschwendung und eine parvenuehaft-unkultivierte formlosigkeit. 4 das alte bauernhaus im norden und im süden, das bürgerhaus des 18. jahrhunderts zeigt in allen europäischen ländern eine einheitliche, fast uniforme gestaltung des grundrisses und der gesamtanlage. einer völligen uniformierung allerdings, wie sie etwa das englische vorstadthaus aufweist, muß begegnet werden, denn die vergewaltigung des individuums ist immer kurzsichtig und falsch. die geplante baumethode muß infolgedessen daraufhin abzielen, daß nicht die ganzen häuser, sondern die bauteile typisiert und industriell vervielfältigt, sodann aber zu verschiedenen haustypen zusammenmontiert werden können. die vorratsplanung würde sich auf die herstellung aller zum bau gehörigen einzelteile in verschiedenen spezialfabrikbetrieben zum abruf nach bedarf an die baustelle, als auch auf praktisch erprobte montagepläne für verschiedenartige und verschieden große haustypen erstrecken. da alle maschinell hergestellten und auf normenmaß gefertigten teile unbedingt zusammenpassen, ist die montage auf grund der exakt durchgeführten montagepläne in kürzester zeit unter geringstem arbeitsaufwand und unabhängig von jahreszeit und witterung zum teil mit ungelernten arbeitern möglich. praktische wege zur durchführung dieses fabrikmäßigen serienbaues sind in deutschland und anderen ländern bereits beschritten worden. vom künstlerischen standpunkt aus muß das neue bauverfahren bejaht werden. die annahme, eine industrialisierung des hausbaues werde eine verhäßlichung der bauformen nach sich ziehen, ist irrig. im gegenteil wird eine vereinheitlichung der bauelemente die heilsame folge haben, daß die neuen wohnhäuser und stadtteile gemeinsamen charakter tragen. eintönigkeit ist nicht zu befürchten, sobald die grundforderung erfüllt wird, daß nur die bauteile typisiert werden, die daraus errichteten baukörper aber variieren. gut verarbeitetes material und klare, einfache konstruktion dieser maschinell in serien hergestellten teile werden die einheitliche „schönheit“ der daraus erbauten gebäude verbürgen, nicht etwa ästhetische, aus konstruktion und material nicht bedingte schmuckformen und profile. die gute gestalt der einzelnen bauten hängt von der raumschöpferischen begabung des erbauers ab, dem für die anwendung der bauelemente individueller spielraum, den wir alle wünschen, bleibt. die wiederkehr der einzelteile und der gleichen materialien in den verschiedenen baukörpern wird ordnend und beruhigend auf uns wirken, ähnlich wie die einheitlichkeit unserer kleidung, die dennoch nicht das individuum vergewaltigt. das umfassende problem der industrialisierung des wohnhausbaues kann nur mit aufbietung außergewöhnlicher öffentlicher hilfsmittel durchgeführt werden. es fehlt an den sammelnden zentren, die nach einheitlichen führungsgedanken das bisher erreichte planhaft zusammenfassen und weiterführen. wir brauchen öffentliche bauversuchsplätze. denn genau so wie ein gegenstand, den die industrie vervielfältigen will, in seiner gestalt zahllosen versuchen systematischer vorarbeit, an der der kaufmann, techniker und künstler gleichermaßen beteiligt sein müssen, entspringt, ehe sein formtypus, die norm, gefunden wird, kann die herstellung 5 typisierter bauteile nur in großzügigem zusammenschluß der industriellen, wirtschaftlichen und künstlerischen welt zur durchführung gelangen. eine so tiefgreifende veränderung der bauwirtschaft wird sich freilich nur allmählich vollziehen. aber allen einwänden zum trotz wird sie unaufhaltsam kommen. ein hauptprodukt der industrie der zukunft wird sein: das fix und fertig eingerichtete massive wohnhaus auf vorrat. sind erst die umfassenden ziele moderner baukunst erreicht, so wird unsere zeit mit ihnen ihren eigenen stil gefunden haben! Professor Dr. Schultze-Naumburg sagt: I. Wer das Bild unseres Landes und seiner Bauten aufmerksam und mit offenen Augen für ihre Physiognomie in sich aufgenommen hat, wird unschwer darin etwa folgende Gruppierung erkennen: Zuerst einen Bestand, den man wohl am besten mit dem Begriff „aus der alten Zeit“ zusammenfassen kann, wenn sich sein Entstehen auch über viele Jahrhunderte erstreckt und etwa bis an die Freiheitskriege oder die Kongreßzeit heranreicht. Dann ein immer rapideres Anwachsen von Bauten aller Art, die sich als solche aus der „neuen Zeit“ erweisen. Im schroffen Gegensatz zu jenem früheren Bestand, der klare, äußerst einprägsame Formen zeigt, so daß uns die Häuser wie eine Ansammlung von prachtvoll rassigen Charakterköpfen kerniger Bauern, männlicher Handwerker, feinsinniger Gelehrter und ritterlicher Edelleute anmuten, stehen wir jetzt plötzlich vor einem Chaos von Formen, oder richtiger gesagt Formlosigkeit, daß wir uns auf einem mit der Hefe eines Volkes gefüllten Marktplatz zu befinden glauben. Alles trägt hier die Züge der Unechtheit; unecht die Materialien, unecht die historischen Stile, die wie fadenscheinige Maskenkleider über eine schäbige und schmutzige Unterkleidung geworfen sind, unecht die Gesinnung, die stets etwas anderes und womöglich „Feineres“ im Schein vortäuschen will, als das tatsächliche Sein bedeutet; vollkommen hilflos, auch nur die rein sachlichen Forderungen vernünftig zu befriedigen, geschweige denn, eine künstlerisch und klar gestaltete Form für sie zu finden, im Ausdruck trübe und mürrisch. Dann setzt plötzlich Ausgang der neunziger Jahre wie mit einem Ruck eine neue Bewegung ein, um dem Unheil, das sich wie eine Krebskrankheit als gigantisch wuchernde Zellenvermehrung ausbreitet, zu wehren. Sie versucht, zunächst einmal reinen Tisch zu machen, die tatsächlichen Bedürfnisse der Zeit zu erkennen und sie als klares Programm dem Bauen zugrunde zu legen. In den Formen will sie nicht das künstlich konservieren, was als weit hinter uns liegende Entwicklungsstufe unserem Gesichtskreis entschwunden ist, wohl aber den lebendigen Schatz alles Könnens und Wissens bewahren, den nie ein einzelner aus sich heraus plötzlich erfinden 6 kann, sondern der das Ergebnis langer Kulturepochen ist. So soll das neue Haus sich deutlich als der Sproß unseres nordischen Kulturkreises bekennen und die Tradition genau da fortsetzen, bis wohin sie sich folgerichtig und gesund entwickelt hatte, um dann aus Gründen, die hier nicht untersucht werden können, auf ein totes Geleise zu laufen. Das Interregnum der großen Stil-Maskerade sollte eingekapselt und der Verödung überlassen werden. Die Bewegung gewann bald Boden, wuchs allmählich stärker und stärker an und wurde in zahlreichen Abtönungen als Bauprogramm der gesamten ernsthaften und geschulten Architektenschaft aufgenommen, wenn es auch nicht möglich war, über Nacht aus einer Periode der schlimmsten Bauverwilderung eine Epoche mit sicherer Tradition heraufzubeschwören. II. Neben dieser Entwicklung, die allerdings durch den Krieg eine Unterbrechung erfuhr, tauchen nun seit einiger Zeit Bestrebungen auf, die ganz radikal mit unserer gesamten Vergangenheit brechen wollen und uns Häuser empfehlen, die in nichts mehr mit deutschem Gesicht und deutscher Landschaft etwas gemein haben sollen. Ganz offensichtlich handelt es sich hier um eine deutliche Trennung der Geister: auf der einen Seite die, die sich bewußt um den für sie unentbehrlichen nordischen Kulturkreis versammeln, und solche, die absichtlich das vermeiden, was dem Deutschen ans Herz gewachsen ist, da sie behaupten, daß ihr Denken und Fühlen sie nicht dahin ziehe. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als ihnen das zu glauben. Da es sich bei alledem nicht um eine einheitliche Schule handelt, sondern ganz verschiedenartige, oft einander entgegenstrebende Kräfte in Erscheinung treten, so muß versucht werden, all dies Zusammengewürfelte zu trennen und es einzeln zu besehen. III. Zweifellos ist der Kreis der Aufgaben, bei denen die bisherige Bautradition nicht mehr als alleiniger Führer dienen konnte, im Laufe des neunzehnten und besonders des zwanzigsten Jahrhunderts unabsehbar gewachsen. Zwar können Dampfschiffe, Automobile oder Flugzeuge, wie sie heute so häufig als Musterbeispiele aufgeführt werden, kaum als architektonische Aufgaben gelten, da sie mehr die Funktionen einer Maschine zum Ausdruck bringen müssen, wenn schon auch ihre Gestaltung nicht allein auf dem Wege rechnender Konstruktion, sondern als künstlerischer Prozeß angesehen werden muß. Aber ganz sicher reicht die vorhandene Überlieferung schon dann nicht mehr zu, wenn wir sie auf Bahnhofshallen, Industriewerke und mancherlei mehr anwenden wollten. Unter dem Druck dieses neuen Bedürfnisses ist ein gänzlich neuer Seitenzweig der Baukunst entstanden oder richtiger, er ist noch im Entstehen, der dem in den letzten Jahrzehnten so 7 mächtig gewordenen Reiche der Technik auch zu einem entsprechenden architektonischen Ausdruck verhelfen will. Die Zeiten, als man einen Schornstein mit einem korinthischen Kapitäl krönte oder ein Elektrizitätswerk in gotische Formen kleidete, sind vorbei, und man begreift kaum noch, wie man auf solche Denkfehler kommen konnte. IV. Genau denselben Denkfehler begeht man aber heute, wenn man versucht, unserem Wohnhaus, das auf eine sehr lange und vornehme Ahnenreihe zurücksieht, Formen aus einem ihm gänzlich fremden Funktionskreise, nämlich dem der Maschine und der Technik, aufzuzwingen. Der Mensch schafft sich beständig mehr und immer vollkommeneres Werkzeug, und je stärker der Gebrauchsvorgang dabei sinnfällig seinen Ausdruck findet, um so besser wird es sein. Nun haben aber die uralten Formen des Menschenlebens, wie sie in den häuslichen Vorgängen zum Ausdruck kommen, recht wenig Berührungspunkte mit dem, was bei der Technik geschieht, und Industrieformen oder gar Maschinen als Stimmgabel dafür herbeizuholen, ist weder besonders geistreich noch instinktiv richtig gefühlt. Essen, Trinken, Schlafen, gesellig Empfangen und wohlig Zusammensitzen sind äußerst konservative Dinge, und wenn auch bei ihnen Nation, Rasse, Kulturkreis und Entwicklungsstufe eine gewichtige Rolle spielen, so zeigen sie doch eine weit größere Stetigkeit, was sofort klar wird, wenn man sie mit der Entwicklung vergleicht, die etwa unser Verkehrswesen oder andere technische Sonderentwicklungen darbieten. Beispielsweise wird zwischen dem Vorgang beim Speisen der Menschen einer gleichen gesellschaftlichen Schicht von 1825 und 1925 kein umwälzender Unterschied sein, wohl aber in der Methode, wie er von Leipzig nach Berlin fährt. Oder die Art, wie eine Dame von Welt in jener Zeit in ihrem Salon empfing, wird von dem gleichen Vorgang von heute zwar durch allerlei Abtönungen, aber nicht durch eine Welt getrennt sein. Ja, es besteht sogar eine allgemeine Neigung, das häusliche Leben in einen bewußten Gegensatz zu der Unruhe des öffentlichen Lebens und der Umwelt zu bringen, in die Beruf und Gewohnheit so viele Menschen tagsüber zwingt. Der Industrielle empfindet es als eine Wohltat, wenn ihn abends nichts mehr an seine Fabrik erinnert, und sogar der Wissenschaftler, auch wenn er in der Technik nicht nur einen Broterwerb, sondern ein heiß umworbenes Mysterium sieht, wird deutlich eine Grenze zwischen seinem Laboratorium und seinem Wohnzimmer zu wahren wünschen. Selbst da, wo die Technik mit unserem häuslichen Leben in nahe Beziehung tritt, also in den Einrichtungen der Heizung, Versorgung mit Wasser und elektrischer Energie, Telephon und dergleichen, wird überall das deutliche Bestreben fühlbar, diese Dinge möglichst unsichtbar zu machen. Man will bedient sein, aber der Diener soll uns nicht mit seiner Gegenwart unbequem werden. 8 V. Es ist eine dem Deutschen ganz besonders anhaftende Eigenschaft, sich von fremdartigen Eindrücken derartig beeinflussen zu lassen, daß er nicht nur verstehend tief in andere Kulturen einzudringen vermag, sondern sich auch zu Versuchen hinreißen läßt, in solchem fremden Geiste gestalten zu wollen. Zweifellos hat diese Neigung bei uns schon stark mitgesprochen, als das Erbe der antiken Kulturwelt in der Renaissance so umfassend aufgenommen wurde. Nur darf man dabei nicht übersehen, daß es sich bei ihr um eine aus stark verwandtem Blute handelt. Wenn man es nun schon etwas hart, aber nicht ganz mit Unrecht als Theater bezeichnet, wenn sich jemand unter unserem nordischen Himmel einen italienischen Palast baut, wobei sich in der Tat allerlei klimatische Widersprüche ergeben, – welches Theater ist es dann erst, wenn man dem Deutschen heute Häuser empfiehlt, die ihr Vorbild ganz deutlich in der ostasiatischen, indianischen oder gar der Negerkunst sehen? VI. Neben dieser, oft recht seltsame Blüten treibenden Wahlverwandtschaft besteht in weit höherem Grade, als man gewöhnlich annimmt, im deutschen Volkskörper auch echte Blutsverwandtschaft mit gänzlich Fremdem. Da dieser deutsche Volkskörper eine Allvermischung darstellt, in dem auch mongolides, negrides und manches andere Blut eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt, so darf es nicht wundernehmen, wenn auch die künstlerischen Instinkte oft recht weit auseinandergehen. Denn sie sind nicht so eine Angelegenheit der Erziehung als der Vererbung. So werden manche Persönlichkeiten darin auftauchen, die, ohne es notwendigerweise zu wissen, sich ihrem Bluterbe nach nicht zu unserem nordischen Formenkreise hingezogen fühlen, sondern denen ihr Blut befiehlt, davon loszukommen. Quelle: Walter Gropius und Paul Schultze-Naumburg, „Wer hat Recht? Traditionelle Baukunst oder Bauen in neuen Formen“, Uhu, Nr. 7 (1926), S. 30-40.