Lola wollte vier Jahre Russisch studieren. Die Aufnahmeprüfung war leicht gewesen, denn Plätze gab es genug, an der Hochschule so viele wie in den Schulen im Land. Und Russisch war für wenige ein Wunsch. Wünsche sind schwer, schreibt Lola, Ziele sind leichter. Ein Mann, der etwas studiert, schreibt Lola, hat saubere Fingernägel. In vier Jahren kommt er mit mir, denn so einer weiß, daß er im Dorf ein Herr ist. Daß der Frisör zu ihm nach Hause kommt und die Schuhe auszieht vor der Tür. Nie wieder Schafe, schreibt Lola, nie wieder Melonen, nur Maulbeerbäume, denn Blätter haben wir alle. Ein kleines Viereck als Zimmer, ein Fenster, sechs Mädchen, sechs Betten, unter jedem ein Koffer. Neben der Tür ein Schrank in die Wand gebaut, an der Decke über der Tür ein Lautsprecher. Die Arbeiterchöre sangen von der Decke zur Wand, von der Wand auf die Betten, bis die Nacht kam. Dann wurden sie still, wie die Straße vor dem Fenster und draußen der struppige Park, durch den niemand mehr ging. Das kleine Viereck gab es vierzigmal in jedem Heim. Jemand sagte, die Lautsprecher sehen und hören alles, was wir tun. Die Kleider der sechs Mädchen hingen dicht gedrängt im Schrank. Lola hatte die wenigsten Kleider. Sie zog die Kleider aller Mädchen an. Die Strümpfe der Mädchen lagen unter den Betten in den Koffern. Jemand sang: Meine Mutter sagt 1! sie gibt mir wenn ich einmal heirate zwanzig große Kissen alle voll mit Stechmücken zwanzig kleine Kissen alle voll mit Ameisen zwanzig weiche Kissen alle voll mit faulen Blättern und Lola saß auf dem Fußboden neben dem Bett und öffnete ihren Koffer. Sie wühlte in den Strümpfen und hob einen Klumpen aus verworrenen Beinen und Zehen und Fersen vor ihr Gesicht. Sie ließ die Strümpfe auf den Boden fallen. Lolas Hände zitterten, und ihre Augen waren mehr als zwei im Gesicht. Ihre Hände waren leer und mehr als zwei in der Luft. Fast so viele Hände standen in der Luft, wie auf dem Boden Strümpfe lagen. Augen, Hände und Strümpfe ertrugen sich nicht in einem Lied, das gesungen wurde, über zwei Betten hinweg. Gesungen im Stehen von einem kleinen Kopf, der sich wiegte mit einer Kummerfaltc auf derStirn. Ein Lied, aus dem die Falte gleich wieder verschwunden war. Unter jedem Bettstand ein Koffer mit verknäulten Baumwollstrümpfen. Sie hießen Patentstrümpfe im ganzen Land. Patentstrümpfe für Mädchen, die Strumpfhosen wollten, so glatt und dünn wie ein Hauch. Und Haarlack wollten die Mädchen, Wimperntusche und Nagellack. Unter den Kissen der Betten lagen sechs Schachteln mit Wimperntusche. Sechs Mädchen spuckten in die Schach- 12 teln und rührten den Ruß mit Zahnstochern um, bis der schwarze Teig daran klebte. Dann schlugen sie groß die Augen auf. Der Zahnstocher kratzte am Lid, die Wimpern wurden schwarz und dicht. Doch eine Stunde später brachen in die Wimpern graue Lücken ein. Die Spucke war trocken, und der Ruß fiel auf die Wangen. Die Mädchen wollten Ruß auf den Wangen, Wimpernruß im Gesicht, aber nie mehr Ruß von Fabriken. Nur viele hauchdünne Strumpfhosen, weil doch so leicht die Maschen liefen, und die Mädchen sie am Knöchel und am Schenkel fangen mußten. Fangen und kleben mit Nagellack. Es wird schwer sein, die Hemden eines Herren weiß zu halten. Es wird meine Liebe sein, wenn er nach vier Jahren mit mir kommt in die Dürre. Wenn es ihm gelingt, mit weißen Hemden im Dorf die Gehenden zu blenden, wird es meine Liebe sein. Und wenn er ein Herr ist, zu dem der Frisör nach Hause kommt und vor der Tür die Schuhe auszieht. Es wird schwer sein, die Hemden weiß zu halten bei all dem Dreck, in dem die Flöhe springen, schreibt Lola.