Deutsche Geschichte Rede von Dr. Navid Kermani zur Feierstunde „65 Jahre Grundgesetz“ (GG: die Verfassung der BRD) 23. Mai 2014, Deutscher Bundestag (Sitz des Bundestags: Reichstag) „Sehr geehrte Herren Präsidenten! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Exzellenzen! Liebe Gäste! Das Paradox gehört nicht zu den üblichen Ausdrucksmitteln juristischer Texte, die schließlich größtmögliche Klarheit anstreben. Einem Paradox ist notwendig der Rätselcharakter zu eigen, ja, es hat dort seinen Platz, wo Eindeutigkeit zur Lüge geriete. Deshalb ist es eines der gängigsten Mittel der Poesie. Und doch beginnt ausgerechnet das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit einem Paradox. „Art. 1 GG: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Denn wäre die Würde des Menschen unantastbar, wie es im ersten Satz heißt, müsste der Staat sie nicht achten und schon gar nicht schützen, wie es der zweite Satz verlangt. Die Würde existierte unabhängig und unberührt von jedweder Gewalt. Navid Kermani: 65 Jahre Grundgesetz […] „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ hingegen ist ein herrlicher deutscher Satz, so einfach, so schwierig, auf Anhieb einleuchtend und doch von umso größerer Abgründigkeit, je öfter man seinen Folgesatz bedenkt: Sie muss dennoch geschützt werden. Beide Sätze können nicht gleichzeitig wahr sein, aber sie können sich gemeinsam, nur gemeinsam, bewahrheiten und haben sich in Deutschland in einem Grade bewahrheitet, wie es am 23. Mai 1949 kaum jemand für möglich gehalten hätte. […] „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“: Wie abwegig muss den meisten Deutschen, die sich in den Trümmern ihrer Städte und Weltbilder ums nackte Überleben sorgten, wie abwegig muss ihnen die Aussicht erschienen sein, so etwas Luftiges wie die eigene Persönlichkeit zu entfalten. Aber was für ein verlockender Gedanke es zugleich war! Navid Kermani: 65 Jahre Grundgesetz „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“: Die Juden, die Sinti und Roma, die Homosexuellen, die Behinderten, überhaupt alle Randseiter, Andersgesinnten und Fremden, sie waren ja vor dem Gesetz gerade nicht gleich – also mussten sie es werden. „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“: Der Wochen und Monate währende Widerstand just gegen diesen Artikel zeigt am deutlichsten, dass Männer und Frauen 1949 noch keineswegs als gleichberechtigt galten; seine Wahrheit wurde dem Satz erst in der Anwendung zuteil. „Die Todesstrafe ist abgeschafft“: Das war gerade nicht der Mehrheitswunsch der Deutschen, die in einer Umfrage zu drei Vierteln für die Beibehaltung der Todesstrafe plädierten, und wird heute weithin bejaht. Navid Kermani: 65 Jahre Grundgesetz In den NS-Kriegsverbrecherprozessen (Nürnberg 1945–49) wurden gegen hochrangige Vertreter der Hitlerregierung Todesurteile gefällt und vollstreckt. Warum war dies rechtlich möglich? Wer war Kläger? Wer war Richter? Warum wurden nur sehr wenige Nazis in den Nürnberger Prozessen von den Besatzungsmächten angeklagt? In den sog. Auschwitzprozessen (Frankfurt am Main 1966–69) gegen NS-Schergen, die im Vernichtungslager Auschwitz halfen, Menschen in industriellem Maßstab zu töten, durfte niemand zum Tode verurteilt werden – obwohl im Bundesland Hessen die Todesstrafe laut Verfassung gilt (Art. 21.1). Warum ist das so? Wer war im Unterschied zu Nürnberg Kläger, wer war Richter? Exkurs: Föderalismus und Vergangenheitsbewältigung „Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet“: Der Satz war den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates angesichts der Flüchtlingsnot und des Wohnungsmangels fast peinlich und gilt 65 Jahre später nicht nur im wiedervereinigten Deutschland, sondern in halb Europa. […] Das dachte – 1949! – ein vereinigtes Europa, ja: die Vereinigten Staaten von Europa voraus. Navid Kermani: 65 Jahre Grundgesetz Flüchtlingsnot: über 13 Millionen Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten (Beispiel: der „Brünner Todesmarsch“) Wohnungsnot: Warum gab es damals zu wenig Wohnraum? Freizügigkeit: Wer ist heute freizügig in Europa? Wie heißt dieser Rechtsraum der Freizügigkeit? Seit wann gibt es ihn? Wo liegen seine Grenzen? Und so weiter: das Diskriminierungsverbot, die Religionsfreiheit, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit – das waren, als das Grundgesetz vor 65 Jahren verkündet wurde, eher Bekenntnisse, als dass sie die Wirklichkeit in Deutschland beschrieben hätten. […] Denn wann und wodurch hat Deutschland, das für seinen Militarismus schon im 19. Jahrhundert beargwöhnte und mit der Ermordung von 6 Millionen Juden vollständig entehrt scheinende Deutschland, wann und wodurch hat es seine Würde wiedergefunden? Wenn ich einen einzelnen Tag, ein einzelnes Ereignis, eine einzige Geste benennen wollte, für die in der deutschen Nachkriegsgeschichte das Wort „Würde“ angezeigt scheint, dann war es – und ich bin sicher, dass eine Mehrheit im Bundestag, eine Mehrheit der Deutschen und erst recht eine Mehrheit dort auf der himmlischen Tribüne mir jetzt zustimmen wird – dann war es der Kniefall von Warschau. Navid Kermani: 65 Jahre Grundgesetz Das ist noch merkwürdiger als das Paradox, mit dem das Grundgesetz beginnt, und wohl beispiellos in der Geschichte der Völker: Dieser Staat hat Würde durch einen Akt der Demut erlangt. Wird nicht das Heroische gewöhnlich mit Stärke assoziiert, mit Männlichkeit und also auch physischer Kraft und am allermeisten mit Stolz? Hier jedoch hatte einer Größe gezeigt, indem er seinen Stolz unterdrückte und Schuld auf sich nahm, noch dazu Schuld, für die er persönlich, als Gegner Hitlers und Exilant, am wenigsten verantwortlich war: Hier hatte einer seine Ehre bewiesen, indem er sich öffentlich schämte. Hier hatte einer seinen Patriotismus so verstanden, dass er vor den Opfern Deutschlands auf die Knie ging. […] Navid Kermani: 65 Jahre Grundgesetz Vergangenheitsbewältigung: die Fehler der Vergangenheit aufarbeiten, sich mit ihnen konfrontieren und sie NICHT verdrängen/verstecken Ausgerechnet das Grundgesetz, in dem Deutschland seine Offenheit auf ewig festgeschrieben zu haben schien, sperrt heute diejenigen aus, die auf unsere Offenheit am dringlichsten angewiesen sind: die politisch Verfolgten. Ein wundervoll bündiger Satz – „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ – geriet 1993 zu einer monströsen Verordnung aus 275 Wörtern, die wüst aufeinandergestapelt und fest ineinander verschachtelt wurden, nur um eines zu verbergen: dass Deutschland das Asyl als Grundrecht praktisch abgeschafft hat. Muss man tatsächlich daran erinnern, dass auch Willy Brandt, bei dessen Nennung viele von Ihnen quer durch die Reihen beifällig genickt haben, ein Flüchtling war, ein Asylant? Navid Kermani: 65 Jahre Grundgesetz Auch heute gibt es Menschen, viele Menschen, die auf die Offenheit anderer, demokratischer Länder existentiell angewiesen sind. Und Edward Snowden, dem wir für die Wahrung unserer Grundrechte viel verdanken, ist einer von ihnen. Andere ertrinken im Mittelmeer – jährlich mehrere Tausend –, also mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch während unserer Feststunde. Deutschland muss nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen; aber es hat genügend Ressourcen, politisch Verfolgte zu schützen, statt die Verantwortung auf die sogenannten Drittstaaten abzuwälzen. […] Navid Kermani: 65 Jahre Grundgesetz Was ist ein Drittstaat? Gab es auch einmal politisch Verfolgte aus Tschechien oder der Slowakei, die in der BRD Asyl fanden? Wann? Dies ist ein gutes Deutschland, das beste, das wir kennen. Statt sich zu verschließen, darf es stolz darauf sein, dass es so anziehend geworden ist. Meine Eltern sind nicht aus Iran geflohen. Aber nach dem Putsch gegen die demokratische Regierung Mossadegh 1953 waren sie wie viele Iraner ihrer Generation froh, in einem freieren, gerechteren Land studieren zu können. Nach dem Studium haben sie Arbeit gefunden. Sie haben Kinder, Kindeskinder und sogar Urenkel aufwachsen sehen. Sie sind alt geworden in Deutschland. Diese ganze große Familie – 26 Menschen inzwischen, wenn ich nur die direkten Nachkommen und Angeheirateten zähle – ist glücklich geworden in diesem Land. Navid Kermani: 65 Jahre Grundgesetz Kermani: kein sog. ‘Bio-Deutscher’ (ugs.), sondern Bürger der BRD mit Migrationshintergrund: Ist Kermani Mitglied des deutschen Volkes (lid oder národ)? Und nicht nur wir: Viele Millionen Menschen sind seit dem Zweiten Weltkrieg in die Bundesrepublik eingewandert, die Vertriebenen und Aussiedler berücksichtigt mehr als die Hälfte der heutigen Bevölkerung. Das ist auch im internationalen Vergleich eine gewaltige demografische Veränderung, die das Land innerhalb einer einzigen Generation zu bewältigen hatte, und ich meine, dass Deutschland sie insgesamt gut bewältigt hat. […] Navid Kermani: 65 Jahre Grundgesetz Vertriebene: über 10 Millionen (ethnisch-kulturelle) Deutsche, die ihre Heimat verlassen mussten (Stalin: Säuberung Osteuropas) Beispiel: der sog. ‘Brünner Todesmarsch’ im Frühling 1945 Aussiedler: (ethnisch-kulturelle) Deutsch aus der ehemaligen Sowjetunion, v.a. nach deren Auflösung 1991/92 zerfällt (sog. ‘Russlanddeutsche’) So möchte ich zum Schluss meiner Rede tatsächlich einmal in Stellvertretung sprechen, und im Namen von – nein, nicht im Namen von allen Einwanderern, nicht im Namen von Djamaa Isu, der sich fast auf den Tag genau vor einem Jahr im Erstaufnahmelager Eisenhüttenstadt mit einem Gürtel erhängte aus Angst, ohne Prüfung seines Asylantrages in ein sogenanntes Drittland abgeschoben zu werden, nicht im Namen von Mehmet Kubaşık und den anderen Opfern des Nationalsozialistischen Untergrunds, die von den ermittelnden Behörden und den größten Zeitungen des Landes über Jahre als Kriminelle verleumdet wurden, nicht im Namen auch nur eines jüdischen Einwanderers oder Rückkehrers, der die Ermordung beinahe seines ganzen Volkes niemals für bewältigt halten kann –, Navid Kermani: 65 Jahre Grundgesetz Was ist ein Drittland? aber doch im Namen von vielen, von Millionen Menschen, im Namen der Gastarbeiter, die längst keine Gäste mehr sind, im Namen ihrer Kinder und Kindeskinder, die wie selbstverständlich mit zwei Kulturen und endlich auch zwei Pässen aufwachsen, […], im Namen also auch meiner frommen Eltern und einer inzwischen 26-köpfigen Einwandererfamilie möchte ich sagen und mich dabei auch wenigstens symbolisch verbeugen: Danke, Deutschland.“ Navid Kermani: 65 Jahre Grundgesetz