Hans-Ulrich Wehler - Deutsche Gesellschaftsgeschichte mg* ^5 1700-1815 CH. Berk Einleitung In diesem Werk sollen wichtige Aspekte der Entwicklung der deutschen Gesellschaft in der Zeit vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart analysiert werden. Genauer gesagt schwebt diesem Grundriß der modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte als Ziel vor, den komplizierten Transformationsprozeß, der in nicht einmal zweihundert Jahren aus den nahezu zweitausend agrarisch-frühkapitalistischen, aristokratisch-patrizi-schen, ständisch-absolutistischen Herrschaftsverbänden des alteuropäischen Deutschland die interventionsstaatlich regulierte, republikanisch-demokratisch verfaßte Gesellschaft des hochorganisierten Industriekapitalismus unserer Gegenwart gemacht hat, in wesentlichen Grundzügen zu beschreiben und, wenn eben möglich, diesen Übergang zu einer qualitativ neuartigen Gesellschaftsformation zu erklären. Im Mittelpunkt stehen fortab nicht Staat und Verfassung, nicht die Politik von Regierungen und Verwaltungen, geschweige denn politische Ereignisabläufe an sich. Vielmehr geht es im folgenden um die Gesellschaft konstituierenden Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Herrschaft und Kultur in der modernen deutschen Geschichte, und das heißt: um Studien, die auf das Fernziel einer Gesellschaftsgeschichte hin konzipiert und ausgeführt sind. Noch handelt es sich um einen vorläufigen Grundriß, nicht um eine umfassende Gesellschaftsgeschichte selber, denn der Anspruch, der in diesem Begriff programmatisch angemeldet wird, beschreibt ein sehr hoch gestecktes Ziel. Wohl aber gilt diese Gesellschaftsgeschichte ständig als regulative Idee, wenn man so will, als Orientierungspunkt, dem sich die Darstellung streckenweise anzunähern hofft. Der Begriff muß deshalb zuerst erläutert werden. /. Gesellschaftsgeschichte als Versuch einer Synthese: Dimensionen und Ziele Moderne Gesellschaftsgeschichte versteht ihren Gegenstand als Gesamtgesellschaft, im Sinne von «Society» und «Societe»; sie versucht mithin, möglichst viel von den Basisprozessen zu erfassen, welche die historische Entwicklung eines gewöhnlich innerhalb staatlich-politischer Grenzen liegenden Großsystems bestimmt haben und vielleicht noch immer bestimmen. Im Anschluß an die «Säkulartheorien» und Kategorien, die Max Weber für seine universalhistorischen Studien entwickelt hat, um - das war die ursprüngliche Antriebskraft - die Eigenart des okzidentalen Gesellschaftsty- i. Gesellschaftsgeschichte als Versuch einer Synthese J pus durch den Vergleich mit anderen Kulturkreisen möglichst präzis zu erfassen, lassen sich drei gleichberechtigte, kontinuierlich durchlaufende Dimensionen von Gesellschaft analytisch unterscheiden. Herrschaft, Wirtschaft und Kultur stellen diese drei, in einem prinzipiellen Sinn jede Gesellschaft erst formierenden, sich gleichwohl wechselseitig durchdringenden und bedingenden Dimensionen dar. Mit anderen Worten: Die menschliche Welt wird, blickt man auf die, wortwörtlich genommen, fundamentalen Elemente, durch «Arbeit, Herrschaft und Sprache» (Habermas) begründet. Jeder dieser Bereiche besitzt eine relativ autonome Geltung und Wirkungsmacht, er kann aus den anderen nicht abgeleitet werden, so sehr auch für die Analyse der historischen Wirklichkeit alles auf die Mischungs- und Interde-pendenzverhältnisse ankommt. Dabei gilt es zu verfolgen, wie intensiv Herrschaft die Wirtschaft und Kultur, Wirtschaft die Herrschaft und Kultur, Kultur die Herrschaft und Wirtschaft in einem dialektischen Wechselverhältnis bedingen und beeinflussen. Nach meiner Uberzeugung gibt es dagegen keine rationalen Entscheidungskriterien, die es gestatten, die überlegene Potenz der einen oder anderen Dimension von vornherein, gewissermaßen abstrakt-definitorisch festzulegen. Nur die exakte historische Konstellationsanalyse ergibt, welche Dimension oder Kombination von Wirkungsfaktoren jeweils am stärksten ausgeprägt ist. Erkennt man die Gleichberechtigung und Gleichrangigkeit dieser konstitutiven Dimensionen einmal an, kann man keine von ihnen mehr offen oder insgeheim privilegieren, ihr ein Plus an Geschichtsmächtigkeit oder Erklärungskraft zubilligen. Die Zielvorstellung einer solchen von Weber inspirierten Gesellschaftsgeschichte gleicht dann in der Tat dem, was die französische Geschichtswissenschaft seit einiger Zeit «Totalgeschichte» nennt, oder was man ohne die ältere Einschränkung auf Politikgeschichte als «allgemeine Geschichte» einer Gesellschaft bezeichnen könnte. Nun ist die Auffassung, Totalität tatsächlich erfassen zu können, bereits vom Anspruch her «illegitim», von der praktischen Überforderung eines jeden Wissenschaftlers ganz zu schweigen. Menschliches Wissen in den Humanwissenschaften bleibt Partialerkenntnis, die an bestimmte Erkenntnisabsichten oder an «Kulturwertideen» (Weber) gebunden ist und sich mit dem Wandel dieser Ideen selber wieder verändert. Aber als Fluchtpunkt, als Richtwert, als regulative Idee im Sinne Kants bleibt mit dieser Gesellschaftsgeschichte trotzdem eine solche Totalitätsutopie verknüpft, die selbstverständlich während der Arbeit an der Darstellung, mehr oder weniger weitreichend, pragmatisch eingeschränkt wird.1 Mit der Vorentscheidung für eine derart allgemein verstandene Gesellschaftsgeschichte ist gleichzeitig der Verzicht auf eine andere Art von theoretisch und empirisch ebenfalls möglicher Gesellschaftsgeschichte verbunden, die auf spezifisch deutsche Traditionen zurückverweist. Dieses andere Verständnis von Gesellschaftsgeschichte ist seit den 1820er Jahren 8 Einleitung durch jene einflußreiche deutsche Sozialtheorie geprägt worden, die seit Hegel, Stein und Marx Gesellschaft als «Sphäre zwischen Staat und Individuum» begriffen hat, als ein eigenständiges «System der Bedürfnisse» - wie es in der Hegeischen Rechtsphilosophie heißt -, als ein System von Interessen und Abhängigkeiten der vom Staat scharf abgesetzten «bürgerlichen Gesellschaft», die in engster Wechselwirkung mit der modernen kapitalistischen Wirtschaft aufgestiegen war und sich rasch weiter entfaltete. Insofern ist diese Vorstellung von «Gesellschaft» und ihrer Geschichte an die neuzeitliche Trennung von gebietsherrschaftlichem Anstaltsstaat und Societas Civilis bzw. Wirtschafts- und Staatsbürgergesellschaft gebunden. Von dem dynamischen sozioökonomischen Kernbereich des Gesamtsystems ausgehend, wird diesem Modernisierungszentrum von den hegelianisch-marxistischen Denkschulen - und den an sie, gleichwie vermittelt, anknüpfenden Gesellschaftswissenschaften - tendenziell eine, wie der alte Engels vorsichtig meinte, «in letzter Instanz» überlegene Wirkungskraft zuerkannt, die eine strukturprägende Macht auf andere Wirklichkeitsbereiche ausübe. Von dieser Hierarchie der historischen Potenzen a priori auszugehen, setzt jedoch einen Glaubensakt voraus. Mit ausschließlich rationalen Argumenten ist ihre Überlegenheit nicht überzeugend zu beweisen. Demgegenüber befindet sich der Historiker, wenn er von der Gleichrangigkeit der drei Fundamentaldimensionen Herrschaft, Wirtschaft und Kultur ausgeht, auf einem ungleich zuverlässigeren Boden, er hat dadurch eine unnötige Präjudizierung der Ausgangsposition vermieden. Diese argumentative Distanzierung von einer einflußreichen Tradition der deutschen Gesellschaftstheorie und Sozialwissenschaft - von der ich ursprünglich auch einmal in einer frühen Phase vor der Niederschrift dieses Buches ausgehen wollte, ehe mich die Beschäftigung mit der Vielzahl der historischen Probleme immer eindeutiger auf die Webersche Konzeption hingelenkt hat - schließt es selbstverständlich keineswegs aus, das Schwergewicht durchaus einmal auch an erster Stelle in den Bereich der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Evolution zu verlagern. Aber erst aus der historischen Analyse ergibt sich, ob überhaupt - und in welchen unterschiedlichen Zeitabschnitten - solche Schwerpunkte oder die von Herrschaft und Kultur bevorzugt anerkannt werden müssen. In der Phase der Früh- und Hochindustrialisierung besitzt z. B. die «soziale Frage» des Proletariats eine andere Bedeutung in der alltäglichen Lebenswelt wie auch in der Politik der Regierungen als die Lage der Industriearbeiterschaft in der Epoche des staatlich regulierten Kapitalismus, des sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Interventionismus, der auf ganz andere Steuerungserfahrungen und Entspannungsmaßnahmen zurückgreifen kann. Theoretisch-systematisch bleibt es jedoch, um diesen Punkt wegen seiner Bedeutung noch einmal nachdrücklich zu unterstreichen, die einzige auf die Dauer haltbare und mangels überzeugender Präferenzkriterien von der r /. Gesellschaftsgeschichte als Versuch einer Synthese 9 intellektuellen Redlichkeit gebotene Position, von der prinzipiellen Gleichberechtigung der Hauptdimensionen moderner Gesellschaftsgeschichte auszugehen. Freilich: Die Rede von solchen Dimensionen ist letztlich nur eine hilfreiche Metapher, um einen komplexen, realhistorisch dicht verschränkten Wirkungszusammenhang analytisch zerlegen und dann empirisch besser, glaubwürdiger erfassen zu können. Hierbei gilt unverändert, daß mir jedenfalls keine trennscharfen verläßlichen Kriterien zur Verfügung stehen, um für meine Zwecke definitiv entscheiden zu können, ob etwa die rationale Kultur des Okzidents den Industriekapitalismus erst ermöglicht und dann entwicklungsfähig erhalten hat; ob die eigentümlichen sozialen Strukturen Europas die entscheidende Bedingung für den Durchbruch der industriellen und politischen Revolutionen seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts gebildet haben; ob die kapitalistische Wirtschaft den folgenreichsten Entwicklungsstrang dargestellt hat oder ob die spezifischen politischen Herrschaftsordnungen des Westens die conditio sine qua non seiner historischen Einzigartigkeit begründet haben. Die Kristallisierung dieser Elemente zu einer einzigartigen Gesamtkonstellation hat, wie sich herausstellen wird, den Ausschlag gegeben. Eine so weit ausgreifende Gesellschaftsgeschichte in der Nachfolge Webers und die Gleichrangigkeit ihrer drei Basisdimensionen wirft mit unge-milderter, vergleichsweise sogar mit gesteigerter Schärfe das Auswahlproblem auf. Welche Problemwahl, und Auswahl bleibt ja ohnehin stets unvermeidbar, läßt sich innerhalb dieser Konzeption mit ihrem umfassenden Anspruch überhaupt noch überzeugend legitimieren? Dafür ist der Begriff der «Dimensionen» und ihr jeweiliger Inhalt zuerst einmal etwas genauer zu bestimmen, ehe auf die vorherrschenden erkenntnisleitenden Interessen und die mit ihnen verbundenen Selektionspräferenzen ausführlicher eingegangen wird. Wenn man vor der Komplexität der historischen Realität nicht kapitulieren will, indem man sich ganz auf die überschaubare monographische Forschung, im Extremfall auf positivistische Miniaturarbeit, zurückzieht, sondern in einer Synthese die dominierenden Elemente eines Zeitalters in ihrem Zusammenhang erfassen möchte, ist es unvermeidbar, sie einem abstrakten Ordnungsschema zu unterwerfen. Dazu dient die bereits mehrfach genannte Unterscheidung von zentralen Dimensionen oder auch «Achsen», welche das Gesellschaftsgefüge durchziehen. «Achse» bedeutet hier zweierlei: sowohl einen - zumindest unterstellten - verdichteten realhistorischen Wirkungszusammenhang als auch ein heuristisches Hilfsmittel, das die genauere historische und systematische Untersuchung erleichtern soll. Gesellschaftsgeschichte hat es wesentlich mit der Verfassung des Binnenbereichs einer Gesamtgesellschaft zu tun, ihn kann man auch ihre «Sozialstruktur» nennen. Mit dieser Kategorie gewinnt man einen allgemeinen Sammelbegriff für das ganze innergesellschaftliche Gefüge, das bestimmt 10 Einleitung i. Gesellscbaftsgeschicbte als Versuch einer Synthese Ii wird durch die wirtschaftlichen Verhältnisse, die Lage der sozialen Schichten, die politischen Einrichtungen, auch durch gesellschaftliche Organisationen wie Parteien und Interessenverbände, durch Familie, Bildungssystem und Kirche - mit andern Worten: durch eine Vielzahl von Institutionen und vorstrukturierten Handlungsfeldern, nicht zuletzt auch durch kulturelle Normen, religiöse Wertvorstellungen und die wechselnde Deutung der sozialen Lebenswelt. So gesehen ist Gesellschaftsgeschichte über weite Strecken Sozialstrukturgeschichte. Auch gegenüber einem solchen Komplexphänomen wie Sozialstruktur in dem hier bezeichneten Sinn empfiehlt es sich, auf gliedernde und aufschlüsselnde Begriffe wie «Achse» zurückzugreifen.2 Ob man nun Dimension oder «Achse» verwendet, beide bedürfen, wie gesagt, einer ersten inhaltlichen Bestimmung. Um eine vorläufige terminologische Absprache zu treffen, soll gelten, daß Wirtschaft das Feld derjenigen Tätigkeiten absteckt, die Menschen im «Stoffwechsel mit der Natur» zur Gewinnung ihres materiellen Lebensunterhalts betreiben.3 In der hier behandelten Zeit wird die wirtschaftliche Struktur - als jenes institutionalisierte Regelsystem, das natürliche Ressourcen, menschliche Kooperation und technologische Ausrüstung für die Herstellung von Gütern und die Bereitstellung von Dienstleistungen dauerhaft kombiniert - in zunehmendem Maße durch die Funktionsfähigkeit von Märkten für Boden und Waren, Kapital und Arbeit, durch den technischen Fortschritt als Treibstoff für den Motor der Industrialisierung sowie durch neuartige Verkehrs- und Kommunikationssysteme bestimmt, bis der Organisierte Kapitalismus und der moderne Interventionsstaat zusätzliche Steuerungsimperative einführen. Politische Herrschaft bezeichnet in der Tradition Max Webers sozial strukturierte und das heißt stets: organisierte und normierte Macht, die -sei's in der Regierung oder Lokalverwaltung, sei's im Parlament oder auf dem Rittergut - Herrschaftsträgern von unterschiedlicher Legitimationsbasis aus die Chance zur Durchsetzung ihres Willens oder Auftrags eröffnet, vielleicht sogar gewährleistet. Von der öffentlich-politischen Herrschaft sind die ebenfalls zur Debatte stehenden Formen privater Herrschaft, etwa in der Familie oder im Betrieb, zu unterscheiden, auch wenn ihre rechtliche Sanktionierung von politischen Entscheidungen abhängen mag. Kultur soll, dem weiten Begriff der Kulturanthropologie folgend, die ideellen und institutionellen Traditionen, Werte und Einstellungen, die Denkfiguren, Ideologien und Ausdrucksformen, jene symbolisch verschlüsselte Erfassung und Deutung von Wirklichkeit umfassen, mit deren Hilfe nicht nur sprachlich-schriftliche, sondern schlechterdings jede Art von Kommunikation unterhalten und gespeichert wird, so daß alles Verhalten und Handeln in diesen Komplex symbolischer Interaktion eingebettet bleibt, durch ihn angeleitet wird. Natürlich wäre es eine arge Illusion zu glauben, daß sich diese Dimensionen in der Wirklichkeit derart säuberlich getrennt auffinden ließen. Viel- mehr «durchwachsen» sie gemeinsam, wenn auch mit einem stets wechselnden Ausmaß an Einfluß, fast alle menschlichen Institutionen - so ist etwa der adlige Gutsbesitz immer Herrschafts verband, ökonomischer Betrieb und Ort kultureller Hegemonie zugleich. Aber sowohl ihre relative Autonomie als auch der Gewinn an analytischer Klarheit bei der Gliederung der Probleme und des Stoffs legten es nahe, in der Darstellung einer derart überschaubaren Einteilung zu folgen und die Interdependenzen jeweils am richtigen Ort zu betonen. Obwohl bei theoretisch-systematischen Überlegungen Sparsamkeit im Umgang mit Kategorien vorteilhaft ist, können aus pragmatischen Gründen noch weitere wichtige Achsen einer Gesamtgesellschaft hervorgehoben werden, zumal man bei der Analyse häufig mit ihnen arbeitet. So besitzt beispielsweise das System der sozialen Ungleichheit in jeder Gesellschaft eine so hervorragende Bedeutung, daß es berechtigt erscheint, dieses System sogar - wie das in diesem Buch geschieht - als eine der Zentralachsen zu behandeln. Man muß sich jedoch klar machen oder dessen bewußt bleiben, daß soziale Ungleichheit - um ein unten noch ausführlicher zu entwickelndes Argument vorwegzunehmen - strenggenommen ein Ergebnis des Zusammenwirkens von ungleicher Macht- und Herrschaftsverteilung, ökonomischer Lage und kulturellen Entwürfen der Weltdeutung darstellt. Deshalb bleibt sie ein Resultat der Uberschneidung der drei systematisch vorgeordneten Dimensionen. Als ubiquitäres Phänomen, dessen Konsequenzen die Lebenschancen der Gruppen und Individuen bis in die abgelegenste Nische des Alltags hinein sichtbar oder insgeheim beherrschen, verdient es die soziale Ungleichheit jedoch, bereits an dieser Stelle genannt zu werden.4 Wenn man von der soeben umrissenen weiten Definition von Gesellschaftsgeschichte ausgeht, bleibt sie mithin der Absicht verpflichtet, von den strukturprägenden, epochaltypischen Grundzügen möglichst viel in einer Synthese einzufangen. Sie zielt in diesem, gewissermaßen ein unerreichbares Optimum anvisierenden Verständnis auf eine an Herrschaft, Wirtschaft und Kultur, an Bevölkerung, Politik und sozialer Ungleichheit orientierte Geschichte einer Gesamtgesellschaft in einem festgelegten Zeitraum. So läßt sich jedenfalls der Tendenztypus der Darstellung noch einmal formelartig kennzeichnen. Da es sich hier jedoch noch immer eher um eine Vorarbeit zu einer künftigen vielseitigeren, noch mehr wichtige Aspekte gleichermaßen berücksichtigenden Gesellschaftsgeschichte im vollen Wortsinn handelt, läßt sich wohl auch eine gewisse Bevorzugung der Dimensionen oder Achsen von Wirtschaft, Herrschaft und sozialer Ungleichheit vertreten. Im Hinblick auf die Dimension der Kultur, wo ich die Grenzen der Sachkompetenz am stärksten spüre, habe ich mich vorrangig auf die soziopolitischen Bedingungen und Entwicklungstendenzen von Kultur konzentriert. In diesem 12 Einleitung 2. Einige erkenntnisleitende Interessen 13 eingeschränkten Rahmen werden Kirchen, Schulen und Universitäten, werden Pressewesen, literarisch-publizistischer Markt und Wissenschaftsaufstieg ebenso behandelt wie der Linkshegelianismus, die Politische Romantik oder andere Ideologien von Eliten und Klassen. Insofern wird kulturellen Faktoren durchaus Rechnung getragen. Nirgendwo wird jedoch beansprucht, daß Kultur im Sinne von Philosophie-, Architektur-, Musikgeschichte usw. gleich gewichtig und gleich ausführlich wie die anderen Dimensionen behandelt wird. Sie wird zwar insgesamt hoffentlich deutlicher zur Geltung kommen, als dieser Vorbehalt zunächst vermuten läßt, dennoch sei aus dem, was ich selber als mißliches Defizit empfinde, kein Hehl gemacht.5 Trotz dieser Einschränkungen sind die verbleibenden Aufgaben sowohl schwierig als auch lohnend genug, bleibt Gesellschaftsgeschichte ein auch dem Provisorium noch zumutbarer Zielwert. Es ist eine der Grundannahmen dieser Arbeit, daß sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine beispiellose universalgeschichtliche Zäsur im Westen angebahnt hatte. Dadurch wurde auch in Deutschland eine neuartige Konstellation heraufgeführt, für deren Verständnis der gesellschaftshistorische Ansatz besonders ergiebig zu sein verspricht. Sein Erklärungspotential und die Grenzen, die mit einer solchen Präferenzentscheidung gewöhnlich verknüpft sind, werden noch besprochen. Dem naheliegenden Einwand, daß derjenige, der die staatliche Politik, die internationalen Beziehungen oder die Macht ideeller Uberzeugungen nicht vorrangig behandle, die Geschichte von vornherein verzerre, braucht daher an dieser Stelle nur die Behauptung entgegengesetzt zu werden, daß von der Staatspolitik der traditionellen Politikgeschichte oder von den Ideen der traditionellen Geistesgeschichte her ein weniger erfolgversprechender Zugang zur inneren Dynamik des 19. und 20. Jahrhunderts zu finden ist. Den Beweis für diese Schlüsselthese zu führen, obliegt letztlich der gesamten Darstellung. 2. Einige erkenntnisleitende Interessen Dieser Grundriß beruht auf einigen erkenntnisleitenden Interessen und theoretischen Voraussetzungen, die explizit klargestellt werden müssen, damit aus den Argumenten deutlich wird, warum die hier aufgegriffenen, nicht aber ganz andere Probleme für vordringlich gehalten werden. «Auch der gewöhnliche und mittelmäßige Geschichtsschreiber, der etwa meint und vorgibt», hat bereits Hegel geurteilt, «er verhalte sich nur aufnehmend, nur dem Gegebenen sich hingebend, ist nicht passiv mit seinem Denken und bringt Kategorien mit und sieht durch sie das Vorhandene». Daraus folgte sein Appell, daß der Anfang «immer damit gemacht werden» müsse, «Kenntnisse allgemeiner Grundsätze und Gesichtspunkte zu erwerben». Ungleich schärfer hat der berühmte englische Nationalökonom Alfred Mar- shall sogar erklärt, daß derjenige Wissenschaftler «am bedenkenlosesten handele und am tiefsten in die Irre führe, der behauptet, die Fakten und Zahlen für sich sprechen zu lassen».6 Offenheit ist vor allem auch hinsichtlich der erkenntnisleitenden Interessen nötig. Der verlockende Abkürzungsweg, sich mit Entschiedenheit zu seinen Vorurteilen nur zu bekennen und dann zu schreiben, kann hier, wie mir scheint, nicht eingeschlagen werden. In einem sehr allgemeinen Sinn richtet sich das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit darauf, die Entstehungsgeschichte unserer Gegenwart zu beleuchten. Zentrale Entwicklungsstränge der deutschen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert sollen herausgearbeitet, zugleich kritisch überprüft werden. Dafür darf der historische Rückgriff zeitlich nicht zu kurzatmig bemessen sein, sondern er sollte bis in die Phase zurückreichen, in der die moderne Welt deutlich erkennbar wird. Nur auf diese Weise läßt sich im Erfahrungshorizont unserer Zeit eine problemadäquate Tiefenschärfe gewinnen, die es gestattet, klar eingezeichnete Konturen zu erkennen. Diese Trennschärfe benötigen wir, um der Bedeutung der treibenden oder hemmenden, weiterwirkenden oder erloschenen Kräfte gerecht zu werden. Nicht nur fließt die Vergangenheit mit der Gegenwart im Kontinuum der Geschichte zusammen, sondern ganz unvermeidbar machen sich auch Vorstellungen über eine gewünschte Zukunft geltend, denn, wie Wilhelm Dilthey es mit aller nur wünschenswerten Klarheit ausgedrückt hat, «was wir unserer Zukunft als Zweck setzen, bedingt die Bestimmung der Bedeutung des Vergangenen».7 In gebotener Kürze soll daher in diesem Zusammenhang vor allem auf drei Kardinalprobleme der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hingewiesen werden, an denen sich wesentliche erkenntnisleitende Interessen dieses Buches orientieren. Zuvor ist jedoch noch eine weitere Überlegung' erforderlich, um bestimmte Prämissen klarzulegen. Wirtschaft, Sozialhierarchie, Herrschaft und Kultur werden hier als Hauptachsen der Gesellschaft angesehen und zugleich in ihrer Wechselwirkung im Verlauf des neuzeitlichen Modernisierungsprozesses vor allem während der beiden letzten Jahrhunderte verfolgt. Anders gesagt: Es geht um den historischen Inhalt eines langjährigen, komplexen sozialen Evolutionsprozesses. Gebraucht man aber Begriffe wie «Entwicklung» oder «Evolution» nicht nur als geläufige Floskeln, sondern will man sie präzisieren, die Worte ernst nehmen, ist auch die Angabe von Richtungskriterien für den Evolutionsverlauf geboten. Auf welche Ziele hin entwickelte sich denn - das ist die meist implizite, hier aber explizite Frage - eine spezifische Gesellschaft im Rahmen der seit langem vorgegebenen okzidentalen Gesamtkonstellation, die nicht etwa völlig beliebige, sondern innerhalb einer bestimmten, durch historische Analyse ermittelbaren Bandbreite gerichtete Evolutionsprozesse zuließ und stimulierte? Die Zieldefinition kann an dieser Stelle vorläufig nur in der Form einer abkürzenden, pointierten Bestimmung der Hauptprozesse und ihrer Richtungskriterien erfolgen; unten ist dann noch wiederholt davon zu sprechen. 14 Einleitung Im Anschluß wiederum an Weber wird unter der Modernisierung und dem Evolutionsziel der Wirtschaft die Durchsetzung des Kapitalismus bis hin zum hochentwickelten Industriekapitalismus verstanden; im Hinblick auf die Sozialschichtung die damit zusammenhängende Durchsetzung «marktbedingter Klassen» bis hin zu großen, politisch handlungsfähigen «sozialen Klassen»; im Hinblick auf die politische Herrschaft die Durchsetzung des bürokratisierten Anstaltsstaats (seit dem 19. Jahrhundert in der Regel in der Form des Nationalstaats); im Hinblick auf die Kultur die Durchsetzung der «Rationalisierung» in wachsenden Bereichen des kulturellen Lebens in dem vorn umrissenen weiten Sinn, wie das am Aufstieg der Wissenschaften, der Säkularisierung und «Entzauberung» der Welt, an der Ausdehnung des Zweck-Mittel-Denkens einer instrumentellen Vernunft am augenfälligsten zutage tritt. Nach dieser knappen Klärung des Kontextes kann die Auskunft über die erkenntnisleitenden Interessen hoffentlich genauer eingeordnet werden. s 1. Die Entfaltung erst des Kapitalismus, dann vor allem des Industriekapitalismus seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts wird hier als einer der Basisprozesse der gesellschaftlichen Evolution auch in Deutschland betrachtet. Inhalt und Wirkung der deutschen Industrialisierung können ohne ihr X Grundgesetz, die ungleichmäßige Entwicklung, nicht verstanden werden. Daß Landschaften und Regionen, Branchen und Sektoren (schließlich auch ganze Volkswirtschaften und Teile des Globus) sich ungleich entwickeln, daß kurz- und langfristige Schwankungen des konjunkturellen Verlaufs «modo paulatim, modo saltatim» den Wachstumspfad bestimmen, kann geradezu als die historische Natur privatwirtschaftlicher Industrialisierung gelten. Dieser Bewegungsrhythmus ist auf der einen Seite von einflußreichen Verfechtern mächtiger Interessen als ein Gesetz hingestellt worden, für dessen eherne Gewalt die Newtonsche Physik das faszinierende Vorbild abgab. Als Preis für die unleugbaren Vorzüge der industriellen Marktwirtschaft müßten, hieß es, ihre Fluktuationen hingenommen werden. Die Gesetze des freien Marktverkehrs sorgten, und zwar um so schneller, je ungestörter sie sich auswirken könnten, für Erholung, neuen Aufschwung und letztlich auch für das Gemeinwohl. Auf der anderen Seite hat insbesondere die von Marx herkommende Kritik der Politischen Ökonomie ebenfalls die harte Entwicklungslogik des Industriesystems in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt, aber den angeblich unüberwindbar eingebauten permanenten Krisencharakter kapitalistischer Wirtschaft betont, die aufgrund der ihr eigenen Gesetzmäßigkeiten tendenziell zur Selbstzerstörung neige. Während die eine Seite den politischen Zwang zur Beherrschung der sozialökonomischen und politischen Folgen des Industriekapitalismus unterschätzt oder die Selbstregulierungsfähigkeit der reinen Marktgesellschaft überschätzt hat, ist der Kritik lange Zeit eigen geblieben, die Chancen von Anpassung und politischer Steuerung als eine Folge schwieriger Lernprozes- 2. Einige erkenntnisleitende Interessen 1} se für gering oder die systemimmanenten Bewegungsmechanismen für übermächtig zu halten. Es wird später ein Hauptthema der Darstellung bilden, wie der Aufstieg des Organisierten Kapitalismus und modernen Interventionsstaats in Deutschland als dialektische Antwort auf die Selbstgefährdung des Industriekapitalismus verstanden werden kann: Seine Krisenanfälligkeit erzwang, so gesehen, die Selbstverteidigung in der Gestalt anhaltender Intervention und verbesserter Organisation. Die Gedankenführung bewegt sich daher fortab an zwei Fronten: Einerseits wird die Leistungsfähigkeit von Märkten betont, die Zuweisung von Ressourcen, die Reaktion des Angebots auf die Nachfrage, die elastische Anpassung an wechselnde Verhältnisse über längere Zeit hinweg institutionell zu gewährleisten, und zwar unter bestimmten Gesichtspunkten so erfolgreich zu regeln, daß ein vollständiger Ersatz für funktionsfähige Märkte schwer vorstellbar, bisher auch noch nicht gefunden ist. Andrerseits gilt es, die unübersehbar gewaltigen Kosten der Marktgesellschaft, die sie ständig und nicht nur während des Einbruchs von Krise und Depression auferlegt, ebenso deutlich zu sehen. Darüber hinaus ist auch dem Mythos entgegenzutreten, als habe sie jemals auf politische Steuerung völlig verzichten können. Politisch stellt sich auf absehbare Zeit die Aufgabe, ungeachtet der Legenden von der Freien Marktwirtschaft oder von der angeblich effizienteren Staatlichen Verwaltungswirtschaft ein neues Mischungsverhältnis von vorausschauender Steuerung und spontaner Marktreaktion zu finden. Da der staatlich regulierte moderne Kapitalismus die privaten Entscheidungsdomänen der Kontrolle über die Produktionsmittel, Investitionen und Gewinne seit langem mit massiver öffentlicher Unterstützung und dank unaufhörlicher politischer Eingriffe erhält, geht es hierzulande in erster Linie um die Transparenz des politischen Einflusses, der politisch effektiver zur Verantwortung gezogen werden muß. Nur so kann die Spannung zwischen einer privaten Wirtschaft, die längst zur politisch garantierten Veranstaltung geworden ist, und der schon aus diesem Grunde legitimen Forderung nach politischer Mitbestimmung, die bisher vor den Arkanbereichen der Wirtschaft haltmachen soll, gebändigt werden. Das Ausmaß des politischen Einflusses wird strittig bleiben. Uber seine Intensität wird im politischen Streit entschieden werden. Auf das Zentralproblem, wie die Kontrolleure effizient kontrolliert werden können, lohnt es sich, erst alle Kraft des politischen Denkens, dann der politischen Praxis zu verwenden. Aber daß es bei einem Dauerkonflikt zwischen Markt- und Planrationalität bleiben wird, ist unschwer zu prognostizieren. Deshalb scheint es eine lohnende Aufgabe zu sein, die historischen Bedingungen dieser fundamentalen Problematik, des Mischungsverhältnisses von öffentlichen und privaten Elementen in der Wirtschaft, so klar wie möglich herauszuarbeiten. i6 Einleitung 2. Die Entwicklung auch der deutschen Gesellschaft in den vergangenen beiden Jahrhunderten ist durch die Dauerhaftigkeit struktureller sozialer Ungleichheit grundlegend bestimmt. Sie ist vielleicht die Hauptfrage jeder historischen Sozialforschung, jeder Stratifikationsanalyse, jeder Sozialgeschichte - nicht zuletzt auch deshalb, weil damit die Lebenschancen der vielen Individuen notwendig in den Blick kommen. Sie wird es auf absehbare Zeit auch bleiben. Ihr Gewicht in der Politik kann schwerlich überschätzt werden. Selbstredend wird hier nicht die vorindustrielle Vergangenheit idealisiert, um dann als Folie zu dienen, vor der sich die neuartige Ungleichheit, die von der industriellen Gesellschaft des Westens erzeugt wird, um so 'düsterer abhebt. Vielmehr teile ich die Auffassung, daß erfolgreiche Industrialisierung geradezu Bedingung der Möglichkeit für die Gesellschaftspolitik dieser Länder ist, soziale Ungleichheit auf die Dauer mindern zu können, und daß diese Ungleichheit in historischer Perspektive sogar erstmals abgebaut worden ist und noch weiter abgebaut werden kann. Anders gesagt: Sie ist im Vergleich mit früheren Epochen nicht verschärft worden oder gleich stark geblieben. Vorerst muß man sich jedoch sowohl Ursachen und Ausmaße, Wirkung und Wandel der je eigentümlichen Ungleichheit in der deutschen vorindustriellen, dann in der industriekapitalistischen Gesellschaft klarmachen, als auch sich der Frage stellen, auf welchen Bedingungen die Fähigkeit dieser Gesellschaften beruht, mit zum Teil außerordentlich schroffer Ungleichheit über lange Zeiträume hinweg leben, sie unterhalb des Gefahrenpunktes einer sozialen Eruption verarbeiten zu können. Anders gesagt: Relative Stabilität ist genauso erklärungsbedürftig, wie Spannung oder Konflikt es sind. Dazu ist die historische Analyse unumgänglich. Sie wird hier von der Überzeugung angeleitet, daß ein höheres Maß an Gleichheit der Lebenschancen unbedingt wünschbar, auch seit längerem möglich ist. Zugleich ist aber diese Zielvorstellung, daß die Gleichheitsrechte breiter als bisher verwirklicht werden sollten, nicht an die naive Leitidee der völligen sozialen Gleichheit aller gebunden. Ein bestimmtes Maß an funktioneller, freilich schärfstem Legitimationszwang auszusetzender Ungleichheit scheint nicht nur der historischen Erfahrung nach unvermeidbar, sondern mit guten systematischen Argumenten verfechtbar zu sein. Um einige Beispiele zu nennen: Auch zum Zusammenleben der Menschen in einem demokratischen Industrieland gehört die prinzipielle Ungleichheit von Positionen innerhalb der politischen Herrschaftsordnung, selbst wenn diese optimalen Kontrollen ausgesetzt wäre. Gesellschaftlich hochbewertete Funktionen mögen durchaus ein ungleiches Maß an politischer, psychischer, prestigeträchtiger, keineswegs nur ökonomischer Auszeichnung auf sich ziehen, da gibt es viele Äquivalente. Gleichrangig, aber in einem offenbar unaufhebbaren tiefen Spannungsverhältnis zu den demokratischen Gleichheitsrechten stehen liberale Freiheitsrechte, bei deren Verwirklichung Ungleichheit nicht umgehbar und vertretbar erscheint. 2. Einige erkenntnisleitende Interessen 17 Aber auch wenn alle möglichen Einschränkungen genannt und begründet wären, bliebe doch der grundlegende Impuls berechtigt, die auf schierer Tradition, auf blanker Macht, auf unbegründbarer Verteilung der Lebenschancen, die meist auf den Zufällen von Geburt und Herkunft beruhende Ungleichheit in Frage zu stellen, auf der argumentativen Legitimierung jedweder sozialen Ungleichheit zu beharren und sie bei unzureichender Rechtfertigung anzufechten. Um es zu wiederholen: Der Ausgleich, nicht die völlige Aufhebung struktureller sozialer Ungleichheit wird als ein Langzeitproblem auch der zukünftigen deutschen Politik verstanden. Die historischen Bedingungen, unter denen sich diese zweite fundamentale Problematik bisher entwickelt hat, sollten so klar wie möglich herausgearbeitet werden. 3. Schließlich stehen die Struktur und Ausübung, die Funktionsweise und Wirkung von politischer Herrschaft zur Debatte. Gerade die deutsche Geschichte der beiden vergangenen Jahrhunderte läßt es nicht zu, diesen Bereich zu vernachlässigen. Wenige Staaten haben in dieser Zeit einen vergleichbaren Wechsel der politischen Regime und Herrschaftsformen, derart abrupte Brüche und neue Anfänge erlebt wie Deutschland. Zugleich mahnt diese Geschichte zur Vorsicht gegenüber allzu glatten Thesen. So hat sich etwa die deutsche Industrialisierung im Gehäuse des traditionalen Obrigkeitsstaats durchsetzen können, und jahrzehntelang vertrugen sich bestechende ökonomische Erfolge mit autoritär-bürokratischer Politik. Die von wenigen Ausnahmen abgeleitete bequeme Gleichung, daß Industrialisierung zugleich notwendig Demokratisierung bedeute, führt auch hinsichtlich Deutschlands in die Irre. In einem Land, das so lange durch vorindustrielle Faktoren eine maßgebende Prägung erfahren hat, stellt sich die relative Autonomie von Politik sogar besonders scharf als Problem. Wie sehr auch der Organisierte Kapitalismus politisch polyvalent ist, zeigt sich daran, daß er in Deutschland mit den politischen Systemen des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, der nationalsozialistischen Diktatur und der Bundesrepublik vereinbar war und ist. Das ist selbstverständlich nur die eine Seite der Medaille. Die Kehrseite prüfen heißt, die restriktiven Bedingungen, die jeder Politik auferlegt sind, ins Auge fassen. Hat z. B. der Industriekapitalismus die Natur politischer Herrschaft grundlegend verändert oder nur ihr Instrumentarium verbessert? Hat er den immer eng begrenzten Spielraum für politische Entscheidungen so weit eingeengt, daß der Staatsapparat zur Agentur dominierender Interessen wird? Oder wie deutlich sind, da die Agententheorie von vornherein als simplifizierende Konstruktion verworfen werden muß, die wechselnden Grade der Abhängigkeit politischen Handelns von sozioökonomischen Interessen und umgekehrt dieser Interessen von der Politik ausgebildet? In welchen Bereichen wirken sich diese Interessen mehr oder weniger durchschlagskräftig aus? Welche Verhältnisse werden stillschweigend für gar nicht entscheidungsbedürftig, l8 Einleitung für die privilegiert-protegierten Bereiche der «Non-Decisions» gehalten? Was konstituiert den vielbeschworenen Freiraum des Entscheidungshandelns? Was meint eigentlich die Formel von der relativen Autonomie der Politik?8 / Die Grenzen zwischen politischer Herrschaft, die auf den Institutionen des modernen Staates mit ihrem spezifischen Eigengewicht, vor allem auch ihren eigenen Interessen, beruht, und der Herrschaft der Verwaltung im Alltag, die ihrerseits mit organisierten gesellschaftlichen Interessen aufs engste kooperiert, sind längst verschwommen. Politische Kontrolle erfolgreich ausgeübter bürokratischer Macht ist daher, wie nicht allein Max Weber wortgewaltig betont hat, seit langem zu einem Zentralproblem auch und > gerade der deutschen Gesellschaft geworden. Das setzt auf der Linie der hier vertretenen Argumentation historische Einsicht in die Struktur und Politik von Bürokratien voraus, in ihre Möglichkeiten und Grenzen, in ihre eher noch wachsende Bedeutung als Konstante im Wirbel der Regimewechsel, der gesellschaftlichen Veränderungen, der politischen Tagesereignisse. Aber nicht nur der Herrschaftsapparat mit seinen Eigenarten und Funktionsmechanismen ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Thematik. Zugleich konvergieren im Herrschaftsproblem entscheidende Fragen der Wirtschafts- und Sozialentwicklung. Die politische Kontrolle ökonomischer und finanzieller Machtballung ist in einer Zeit, in der nationale und internationale Konzentrationsprozesse den Großunternehmen eine beispiellose Ausdehnung verschafft haben, immer dringender geworden. Der Markt genügt hier keineswegs als Regulator. Am Ende des 20. Jahrhunderts ähneln die Großunternehmen den schwer kontrollierbaren großen Feudalherren des Mittelalters. Wie diese bilden sie «imperia in imperio»: Sie vergeben ihre Belohnungen, teilen ihre Strafen aus und folgen privaten Strategien mit gewaltigen gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen. Daher kann der Abbau sozialer Ungleichheit und sozialer Privilegien, die auf solche ökonomischen oder auf politische Machtpositionen zurückgeführt werden können, nicht dem «freien Spiel» der gesellschaftlichen Kräfte überlassen werden. Dieser Sozialdarwinismus begünstigte nur weiterhin die Mächtigen. Sondern hier muß wiederum politische Herrschaft erkämpft und zu steuernden, kontrollierenden, verändernden Eingriffen bewußt genutzt werden. Vom Interesse an Gesellschaftsgeschichte her ergibt sich eine starke Neigung, vor allem die restriktiven Bedingungen von Politik zu analysieren. Unstreitig ist es auch ein Gewinn, die sterile Konfrontation zwischen dem Vorwurf einerseits: Politik werde nur von Agenten übermächtiger ökonomischer Kräfte ausgeführt, und der Behauptung andrerseits: Politik bewege sich in einem Freiraum völliger Autonomie, durch genaue historische Analyse aufzulösen, um die Rahmenbedingungen, die wechselseitig aufeinander einwirkenden Einflußaggregate und die jeweils unterschiedlich ausfallenden Resultate des «Decision-Making» möglichst konkret zu bestimmen. Dieses 2. Einige erkenntnisleitende Interessen 19 legitime Interesse, das in diesem Buch häufig verfolgt wird, darf jedoch nicht dazu verführen, die Eigenbedeutung von politischer Herrschaft schließlich ganz zu negieren. Es ist eine anthropologische Konstante, daß es immer Herrschende und Beherrschte gegeben hat und geben wird. Auf diesen Grundtatbestand zielt auch die Entscheidung, Herrschaft zu den drei Basisdimensionen oder Achsen von Gesellschaft zu rechnen. Es ist außerdem ein gravierender methodischer Fehler, sich mit dem vermeintlichen Übergewicht der restriktiven Bedingungen von Politik voreilig zufriedenzugeben, Politik darin gewissermaßen völlig aufzulösen. Mit andern Worten: Man sollte nie glauben, Politik dadurch hinreichend «erklären» zu können, daß man sie ganz und gar auf andere Faktoren, auf ökonomische, strategische, ideologische Einflüsse reduziert. Ungeachtet aller derartigen Einflüsse bleibt ein Eigenbereich politischer Macht und Herrschaft bestehen, der auch mit genuin politischen Kategorien beurteilt werden muß. Das gilt überdies in besonderem Maße, wenn sich die Institutionen des neuzeitlichen Staatsapparats erst einmal herausgebildet haben, das politische System also in einem ungleich höheren Maße als früher ausdifferenziert und fest institutionalisiert, daher auch mit der Tendenz zur Verselbständigung ausgestattet ist, so daß sich schon deshalb spezifisch politische Interessen entwickeln und von einer festen Bastion aus verteidigt werden.9 Kurzum, auch hier gilt die Maxime der prinzipiellen Gleichrangigkeit der Dimensionen von Gesellschaftsgeschichte, damit auch der politischen Herrschaft. Wer sie unterschätzt, ist ihrer Macht um so wehrloser ausgeliefert. Ihre Fundamente und Ressourcen, ihre Freiräume und Grenzen zu erfassen, entspricht daher durchaus den Zielen dieser Arbeit. Außerdem läßt sich unstreitig argumentieren, daß mit der erneut steigenden realen Bedeutung politischer Entscheidungen im autoritären, aber auch im liberal-demokratischen Interventionsstaat eine wahrhaft moderne Politikgeschichte aufgewertet, ja dringend verlangt wird. Der Leitperspektive vollständiger Herrschaftsfreiheit vermag dieses Buch jedoch genausowenig zu folgen wie dem Ziel der sozialen Gleichheit aller. Nicht Herrschaftsfreiheit, sondern glaubwürdige Legitimation und maximale Kontrolle von Herrschaft umschreiben vielmehr seine Orientierungsvorstellungen. Daß es für absehbare Zeit als politische Daueraufgabe verstanden werden kann, die demokratischen Kontrollen zu verbessern, die politischen Entscheidungen transparenter zu machen, sie eventuell auch schneller korrigieren zu können, das «Gemeinwohl» zu ermitteln und soweit wie möglich effektiv durchzusetzen - das dürfte schwer zu bestreiten sein. Wiederum scheint es daher eine lohnende Aufgabe zu sein, die historischen Bedingungen politischer Herrschaft in Deutschland so klar wie möglich herauszuarbeiten, damit der Gewinn, den sie bedeuten, aber auch der Preis, den sie verlangen kann, im Vergleich deutlich werden.