2. DUFAY - OCKEGHEM - BINCHOIS - ISAAC: ZWISCHEN »ARTISTISCH« UND »VOLKSTÜMLICH« (15. JAHRHUNDERT) 250 Jahre nach Perotin. Musik hat sich vielfältig, nicht nur in einer Richtung gradlinig, entwickelt. Wir müssen von nun an in mehreren gleichzeitigen Musikgeschichten denken. (Wie weit ist Pergolesi vom Zeitgenossen Bach entfernt, Schubert vom späten Beethoven; wenig Gemeinsames gibt es zwischen Schönberg und Orff, Webern und Richard Strauss.) Viele verschiedene in Perotins Werk im Keim angelegte Musikmöglichkeiten entwickeln sich auf getrennten Wegen. Für welchen der Wege sollen wir uns mit unserem Kontrapunktbuch für zuständig halten? Welche Musik soll nach wie vor von der Musiktheorie unbeachtet bleiben, da sie sich einem willkürlich verengten Blickwinkel nicht fügt? Der Leser, gebeten, die Weite unseres Gesichtsfeldes zu tolerieren, möge deshalb zuvor bedenken, daß wir heute einen allzu eingeschränkten Begriff von »kontrapunktisch« haben. Das liegt daran, daß wir seit der Entwicklung der Harmonielehre die Musik in zwei Bereiche getrennt sehen. Sind wir geneigt, in einem Falle nur Akkordfolgen zu registrieren, erwarten wir im anderen Falle selbständige Stimmen, die möglichst wenig miteinander zu tun haben, sich um Gottes Willen keine gemeinsamen Zäsuren leisten (siehe einschlägige Regeln für die Fugenkomposition im französischen Standardwerk von Gedalge: Regeln, die allem Rechnung tragen, nur nicht der Bachschen Fugenpraxis) und in einer Art von Profilierungs-neurose in jedem Augenblick Eigengewicht repräsentieren. Seien wir uns dessen bewußt, daß es sinnlos wäre, jede vor dem Zuständigkeitsbereich der Harmonielehre geschriebene Musik als kontrapunktisch im Sinne oben beschriebener Mißverständnisse festzulegen, ihr also jede Tendenz zur Periodenbildung, zur Verschmelzung und Eintracht der Stimmen, auch zur Unterordnung der einen unter die andere abzusprechen. Im Mittelalter bedeutete Kontrapunkt schließlich nichts anderes als mehrstimmige Musik. Wir sollten es also vermeiden, unter dem Gesichtspunkt des Kontrapunktischen nur die Hälfte des Komponierten sehen zu wollen. Man singe die folgende Stimme durch und prüfe, was man in Erinnerung behält. Man mache den vergeblichen Versuch, einem anderen, der diese Stimme nicht gehört hat, sie so treffend zu beschreiben, daß er sie unter anderen herauskennt als die, die ihm beschrieben wurde. Musik ohne persönliches Profil, flüchtig, ohne