Krumm, Hans-Jürgen/Fandrych, Christian/Hufeisen, Britta/Riemer, Claudia (2010): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Band 1.Berlin/New York: De Gruyter 106. Die sprachlichen Fertigkeiten 1. Zum Begriff der Fertigkeil 2. Die Einteilung der Fertigkeiten 3. Hislorisch-methodengeschichtliche Entwicklung und Einordnung 4. Die Fertigkeiten aus lernpsychologischer Sicht 5. Zu Rolle und Funktion der Fertigkeiten im Fremdsprachenunterricht 6. Literatur in Auswahl 1 1. Zum Begriff der Fertigkeit Unter Fertigkeiten im Fremdsprachenunterricht, werden in der Regel die „klassischen** vier Fertigketten Hören. Lesen. Sprechen und Schreiben verstanden. Sie „bezeichnen die grundsätzlich möglichen Weisen, einen sprachlichen Ausdruck und einen Sinn, eine Intention miteinander zu verbinden" (Poitmann[-Tselikas] 1993:96). Seit der audio-lingua-len bzw. kommunikativen Didaktik sind sie Fundament und „tragendes" Moment des Fremdsprachenunterrichts. Wer eine Fremdsprache erlernt, muss sie sich normalerweise aneignen, wobei „Aneignen dabei nicht bedeutet, zu einem Wissen Aber e zu gelangen, sondern zum praktischen Können". (Huneke und Steinig 2002:109). Seh Schwerdtfeger (1989) wird das Sehen als eigenständige fünfte Fertigkeit betrachtet, was bedeutet dass es sich beim gleichzeitigen Hören und Sehen nicht um bloß bebildertes Hören, sondern um doppelsinniges Verstehen handelt. In Zeiten, in denen Visuali-tät in Form von Bildern. Film und Fernsehen allgegenwärtige Realität .ist, erscheint es notwendig, das Hör- Sehverslehen mit in den Unterricht zu holen. Der Begriff der Fertigkeit ist eng mit dem der Tätigkeit verwandt. Beide umfassen sowohl konkrete wie auch geistige Handlungen. In Publikationen der ehemaligen DDR werden Fertigkeiten daher auch unter dem Einfluss der sowjetischen Tätigkeitstheorie (vgl. Desselmann und Hellmich 1981) als Sprachtätigkeiten ,als Zieltätigkeiten oder sprachlich-kommunikative Grundtätigkeiten bezeichnet'. Nach Butzkamm sind Fertigkeiten „erlernte, durch Übung erworbene Willkürhandlungen. Sie sind also nicht funktionsbereit vorhanden wie etwa das Saugen, Schlucken. Atmen. Fertigkeiten äußern sich im Tun. im Ausführen und Ausüben. An ihrem Zustandekommen sind (a) Wahrnehmungen, deren (b) Verarbeitung und Verbindung mit (c) ausfahrender Motorik beteiligt." (Butzkamm 2002:78). Seit dem Erscheinen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR, Europarat 2001) hat sich die Vorstellung von den Fertigkeiten als sprachlichen Kompetenzen gewandelt. An die Stelle einer psycholinguistischen Aulfassung ist eine funktionale Sicht auf die Fertigkeit getreten. Lernende sollten fähig werden, in bestimmten soziokulturellen Kontexten zu handeln, der Referenzrahmen spricht daher von „kommunikativen Sprachtätigkeiten" (GeR 2001: 21). ■ 2. Die Einteilung der Fertigkeiten Die Einteilung der Fertigkeiten erfolgt nach funktionalen bzw, medialen Gesichtspunkten, d h. einerseits auf Grund des Charakters der sprachlicher Tätigkeit (produkm ver- 962 X. Sprachen lehren: Zielsetzungen und Methoden 106. Die sprachlichem Fertigkeiten 963 sus rezeptiv), andererseits auf Grund des Mediums (akustisch versus graphisch) und des Zeitpunkts des Erwerbs (gleichzeitig versus versetzt). Darüber hinaus werden die Fertigkeiten auch in mündliche und schriftliche eingeteilt. Der mündlichen Kommunikation als Sprechen und Hören, wird die schriftliche Kommunikation als Schreiben und Lesen gegenübergestellt. Die Unterscheidung mündlich versus schriftlich bezieht sich auf die Beziehung zwischen Partnerinnen, möglichem Korrekturverhalten und Verständigungshilfen. Direkte Kommunikation verlangt eher Sprechen und Hören, indirekte Kommunikation eher Schreiben und Lesen. Die Fertigkeiten lassen sich, also in doppelter Weise einteilen: So stehen einerseits die rezeptiven Fertigkeiten des Hörens und Lesens den produktiven des Sprechens und Schreibens gegenüber, andererseits handelt es sich einmal um gesprochene einmal um geschriebene Sprache: Rezeptive Sprachverarbeitung produktive Sprachverarbeitung gesprochene Sprache Hören Sprechen geschriebene Sprache Lesen Schreiben Abb. 106.1: Huneke/Stemig 2002: 109 Lesen und Schreiben wurde in den letzten Jahren häufig als Ausdrucksforrn einer soziokulturell situierten literalen Praxis unter dem umfassenden Begriff Textkompetenz zusammengefasst (Fandrych 2008: 7: vgl. Art. 114 und 124). Textkompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, „die kommunikativen Möglichkeiten des schriftlichen Sprachgebrauchs zu nutzen" (Thonhauser 2008: 18). Für die Fertigkeiten bedeutet dies, dass Lesen und Schreiben eng aufeinander bezogen sind und im Unterricht miteinander in Beziehung gesetzt werden sollten. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen teilt die vier Fertigkeiten als Kommunikative Aktivitäten (und Strategien) in die Bereiche Produktive Aktivitäten (und Strategien), Rezeptive Aktivitäten (und Strategien), Interaktive Aktivitäten (und Strategien) und Aktivitäten (und Strategien) der Sprachmittlung. Die Produktiven Aktivitäten werden in produktive mündliche und produktive schriftliche Aktivitäten unterteilt, wobei unter das Sprechen und Schreiben weitere unterschiedliche Aktivitäten wie z.B. Argumentieren, vor Publikum Sprechen, Kreatives Schreiben, Berichte und Aufsätze Schreiben u.a.m. subsumiert werden. Die Rezeptiven Aktivitäten umfassen einerseits die auditiven rezeptiven Aktivitäten, das Hören, die visuellen rezeptiven Aktivitäten, das Lesen und die audiovisuelle Rezeption, bei der es um einen auditiven und visuellen Input gleichzeitig geht (Hör- Sehverstehen). Als Beispiele für Höraktivitäten seien Gespräche, Durchsagen, Radiosendungen, als Beispiele für Lesetätigkeiten Korrespondenz, Informationen, schriftliche Anweisungen verstehen u.a.m., genannt. In den Bereich der audiovisuellen Rezeption fällt u.a. das Verstehen von Filmen. Zu den Interaktiven Aktivitäten werden im GeR die mündliche und die schriftliche Interaktion gezählt. Beispiele für mündliche Interaktion sind u.a.: Konversation, informelle und formelle Diskussion, Beispiele für schriftliche Interaktion: Korrespondenz. Notizen, Mitteilungen. Zu den Aktivitäten der Sprachmittlung, sowohl in schriftlicher als auch in mündlicher Form, zählt der GeR das Übersetzen und Dolmetschen, aber auch das Zusammenfassen und Paraphrasieren von Texten. 3. Historisch - methodengeschichtliche Entwicklung und Einordnung Den vier Fertigkeiten ist in der Geschichte der Fremdsprachendidaktik unterschiedlicher Wert beigemessen worden. Dies ist zum einem in den Prinzipien der jeweiligen Methodenkonzepte, zum anderen aber auch in Entwicklungen und Erkenntnissen der verschiedenen Bezugswissenschaften begründet Meist wurden die. Fertigkeiten isoliert betrachtet, eine Fertigkeit wurde in Teilfettigkeiten zerlegt, „(Jas Primat einer bestimmten Fertigkeit ergab sich aus dem jeweiligen verrnittlungsmethodischen Konzept und den entsprechenden didaktischen Strömungen" (Königs 1993:203; Neuner und Hunfeld 1993; vgl. Art 104). In der Grammatik- Übersetzungsmethode soll die Beherrschung der Sprache über Kenntnis der Wörter und der grammatischen Regeln erreicht werden. Sprachbeherrschung bedeutet Sprachwissen. Sprachenlernen wird als kognitiver Prozess angesehen und dient vor allem der formalen geistigen Schulung des Menschen und der Erziehung zu ordnendem Denken. Geschriebene, literarisch geformte Sprache ist Grundlage der Sprachbeschreibung. Textsorten sind vor allem literarische, schöngeistige Texte. Im Vordergrund stehen daher die schriftsprachlichen Fertigkeiten Lesen und Schreiben: die Lernenden sollen in der Lage sein, (literarische) Texte zu lesen - wobei das Leseverstehen nicht als Sinnentnahme geübt wird - zu übersetzen und selbständig kleinere Texte (Aufsätze) zu verfassen. Das Aufsatzschreiben (und das Abfassen von Diktaten) dienen vor allem dazu, durch die Reproduktion korrekter Sätze die gelernten Grammatikregeln anzuwenden, d. h. Schreiben ist immer Instrument und hat Kontrollfunktion. Mündlichkeit d. h. die Einbettung der Sprache in situative Kontexte, spielt keine Rolle. Bei der Direkten Methode, die sich aus methodischer Sicht als Reaktion auf die Grammatik-Übersetzungsmethode verstehen lässt wird der lebendige Charakter einer sich ständig wandelnden Sprache betont. Wesentlich ist das sich Zurechtfinden in Alltagssi-tuationeh im Zielsprachenland, eine vor allem gesprochene Alltagssprache sollte daher den Lernenden vermittelt werden. Hervortretendes Unterrichtsprinzip ist die Einsprachigkeit der Gebrauch der Muttersprache ist ausgeschlossen. Fremdspracherllernen wird nicht als bewusster Prozess des „Einsichtnehmens" in die Regeln der Sprache verstanden, sondern erfolgt über Nachahmung sprachlicher Vorbilder. Als grundlegende Fertigkeiten gelten daher Hören und (Nach)Sprechen. Hörtexte sind hierbei in erster Linie kleine (Alltags)dialoge, Gespräche und Frage-Antwort-Sprachmodelle, die vor allem der mündlichen Nachahmung dienen. Diese werden meist im Konversationsstil präsentiert Ausspracheschulung soll vor allem durch nachahmendes Sprechen geübt werden. Neben den mündlichen Fertigkeiten wird (lautes) Lesen von Anfang an gefördert es dient aber vor allem der Sprachschulung. Schreiben wird hier bewusst als die letzte der vier Fertigkeiten angesehen und dient immer nur als Hilfsmittel. In der Audio-ltngualen I Audio-visuellen Methode sind das Sprachenkönnen und die vor allem mündliche Verständigung mit Menschen anderer Muttersprachen das Ziel des Unterrichts. Fremdsprachenlernen wird vor allem als mechanischer Prozess der Gewohnheitsbildung gesehen. Die sprachlichen Fertigkeiten werden in ihrer „natürlichen" Reihenfolge gelehrt die mündlichen (Hören und Sprechen) vor den schriftlichen (Lesen und Schreiben), die rezeptiven vor den produktiven. Das Hören wird als notwendige Voraussetzung für das Sprechen angesehen. Gehört werden vor allem Alltagsdialoge, die durch Mustersätze (Patterns) und ständigen Drill zu fester Gewohnheit werden sollen. 964 X. Sprachen lehren: Zielsetzungen und Methoden Die gesprochene Sprache hat Vorrang vor der Schriftsprache und muss zuerst beherrscht werden. Schreiben wird als Hindernis beim Erlernen der gesprochenen Sprache gesehen. Anfangs wird daher ein schriftloser Unterricht durchgeführt, wo die Lernenden zunächst nur hören und nachsprechen sollen. Visuelle und akustische Reize werden miteinander verbunden, durch Wiederholung sollen Dialoge und Texte vor allem auswendig gelernt werden. Wesentlich ist das Prinzip der Einsprachigkeit, wobei eine „echte" und natürliche Aussprache wichtig ist. Lesen und Schreiben werden erst im späteren Verlauf des Unterrichts miteinbezogen. In den Anfängen des Kommunikativen Ansatzes steht die kommunikative Kompetenz und mit ihr Können statt Kennen, Sprachhandeln statt Sprachbetrachtung im Vordergrund. Dieser kommunikativen Kompetenz wird alles untergeordnet. Das fuhrt zu einem engen Verständnis von Authentizität und AHtagskommunikation. Was die Fertigkeiten betrifft, so werden Lesen und Schreiben vernachlässigt und die gesprochene (AUtags)-Sprache überbetont Gleichzeitig gibt es eine verstärkte Hinwendung zum Lernenden als dem „Subjekt" des Lernprozesses. Der Lernprozess selbst steht im Mittelpunkt. Neue Erkenntnisse der Bezugswissenschaften der Fremdsprachendidaktik wirken sich auf den Fremdsprachenunterricht aus: Pragma- und Soziolinguistik lösen die vorherrschenden strukturalistischen Theorien ab. Sprache ist kein System von sprachlichen Formen, sondern ein Aspekt menschlichen Handelns, ein Mittel der Verständigung. Kommunikation bedeutet, miteinander mit der Sprache etwas tun. Insofern als Sprache und die Veränderung der Wirklichkeit über Sprache möglich sein könnte ist er auch als emanzipativer Ansatz zu verstehen. Ein Sprecher sollte über kommunikative Kompetenz verfügen, d. h. er muss die Fähigkeit haben. Äußerungen in verschiedenen Kommunikationssituationen adäquat zu verstehen und zu erzeugen. Lernende sind mit einem kreativen Potential ausgestattet und eignen sich die Sprache aktiv an. In der Weiterführung des Kornmurükativen Ansatzes, in der so genannten Postkommunikativen Phase, aber auch unter dem Einfluss des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens werden Lernziele, Themen, Lern verfahren und auch die Rolle der Fertigkeiten neu bestimmt. Basierend auf der Erkenntnis, dass es Unterschiede im Hören, Lesen, Sprechen, Schreiben und Sehen gibt, die auf rjestrmmten eigenkulturellen Traditionen aufbauen, werden Prinzipien, Theorien und Elemente vorhandener Unterrichtskonzepte aufgegriffen und mit universellen Lebenserfahrungen der Lernergruppen verbunden. Der Vergleich spielt eine wesentliche Rolle, wobei sich das Vergleichen nicht nur auf den Vergleich von Kulturen (der eigenen mit der/den anderen) beschränkt, sondern auch immer den Sprachvergleich mit einschließt. Da auch in Zeiten höherer Mobilität die Welt der Zielsprachenländer oft nur über Medien erfahrbar ist, muss eine spezifische Verstehensdidaktik entwickelt werden. Elemente der Rezeptionsforschung und der Textlinguistik werden hier miteinbezogen. Textverständnis wird zur Grundlage des Interkulturellen Deutschunterrichts (vgl. Art. 154). Im konkreten Unterricht bedeutet dies vor allem eine Betonung des Leseverstehens, wobei dem Lesen von literarischen und fiktiona-len Texten eine besondere Bedeutung zukommt. Aber auch das Sprechen beschrankt sich nicht mehr auf das Dialogisieren, sondern wird erweitert um die Komponenten ^sprechen mit" und „sprechen über", besonderes Augenmerk wird dem Erzählen geschenkt. Für die Fertigkeiten insgesamt bedeutet das, dass alle Fertigkeiten von Anfang an Bestandteil des Unterrichts sein sollten, aus erwerbstheoretischen wie auch aus pragma-tisch-handlungsorientierten Gründen sollte eine anfänglich stärkeren Betonung der rezeptiven vor den produktiven Fertigkeiten liegen. 106. Die sprachlichen Fertigkeiten 965 4. Die Fertigkeiten aus lernpsychologischer Sicht Die Aufteilung in die so genannten vier Grundfertigkeiten dürfte einer psycholinguisti-schen Realität entsprechen. Die früher bestehende Annahme fest zu lokalisierender „Sprachzentren" und ihren dazugehörigen Funktionen ist durch neuere Forschungsergebnisse relativiert (Götze 1995). Sehr wohl kann aber auch, aus der Perspektive unserer Gedächtnisleistung gesehen, von Spezialisierungen für die einzelnen Fertigkeiten gesprochen werden, wobei enge Beziehungen zwischen dem Hören/Sprechen und dem Lesen/ Schreiben anzunehmen sind. Die einander stützenden und beeinflussenden polysensori-schen Prozesse, die zwischen den Fertigkeiten Wechselwirkungen herstellen, sind Grundlage des Sprachgebrauches. Die Zentren, die beim Sprechen im Gehirn aktiviert werden, werden auch befan Hören aktiviert. Daten für diese Beobachtungen stammen vor allem aus der Neuropathologie, dem Bereich der Gehiraforschung, der sich mit Erkrankungen des Gehirns beschäftigt. Aphasiker können entweder die lautliche oder die visuelle Ebene der Sprache oder beides verlieren, ein Indiz dafür, dass die beiden in gewissem Ausmaß unabhängig voneinander organisiert sind. Im Prozess des Erwerbs der Sprachfähigkeit sehen wir Zusammenhänge der mündlichen und schriftlichen Fertigkeiten untereinander Sprechen und Hören als die mündlichen Fertigkeiten sind die primären Sprachleistungen, die im Zuge des Erstspracherwerbs und von Sprecherinnen und Sprechern jeder Sprache auf vollzogen werden. Beide Fertigkeiten haben ihr Fundament vor allem in der Phonologie und sprechen das phonologisch organisierte Lexikon an. also die lautliche Repräsentation der Sprache. Lesen und Schreiben sind die beiden Seiten der schriftsprachlichen Kommunikation und die Fertigkeiten, die eng an kulturelle Gegebenheiten gebunden sind und nur bewusst erworben werden können. Beide Fertigkeiten haben ihr Fundament vor allem in der Orthographie und sprechen das graphisch organisierte Lexikon an, also die visuelle Repräsentation der Sprache. Schreibfähigkeit kann nur zusammen mit Lesefähigkeit erworben werden. Lesen ist ständige Begleit- und Kontrollinstanz des Schreibens und beeinflusst daher teilweise auch dessen Qualität Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass zu beiden Arten der Sprachverwendung nicht nur unterschiedliche Konventionen, Normen und Bedingungen gehören, sondern dass auch die psycholingiustischen Prozesse, die sowohl beim Verstehen und Hervorbringen von Äußerungen als auch bei der Verarbeitung gesprochener und geschriebener Sprache ablaufen, jeweils spezifisch sind. Darüber hinaus sind sie hochkomplex und längst nicht abschließend erforscht Auf Grund dieser Tatsachen liegt es nahe, die vier Grundfertigkeiten im Sprachunterricht auch getrennt voneinander zu betrachten, besonders dann, wenn es um das (Ein)üben bestimmter Teilfertigkeiten geht. Die Relation zwischen den produktiven Fertigkeiten (Sprechen/Schreiben) und den rezeptiven Fertigkeiten (Hören/Lesen) wurde früher oft durch die Adjektive „aktiv"/ "passiv" bezeichnet was aber auf Grund der aktiven Verstehensleistimg bei den rezeptiven Fertigkeiten als unzulänglich anzusehen ist. Verstehen ist nicht etwas, das nur in eine Richtung funktioniert (vom Text zum Hörer/Leser), sondern der Hörer/Leser kommuniziert mit dem Text und nimmt nicht nur passiv auf. Der Hörer muss Geräusche, d. h. akustische Signale, die an sein Ohr dringen identifizieren, segmentieren und sprachlichen Einheiten zuordnen. Der Leser muss Schriftzeichen. d.h. optische Signale aufnehmen und den syntaktischen Aufbau und die Bedeutung des Textes erkennen. Dies zeigt, dass der Verstehensprozess als Interaktionsprozess abläuft: Informationen gehen sowohl vom Text zum Hörer/Leser (bottom-up oder datengesteuerter, aufwärt', gerichteter Pnwess). ._ X. Sprachen lehren: Zielsetzungen und Methoden aber der Hörer/Leser trägt auch Wissen an den Text heran (top-down oder erwartungsge-kriteter, hypothesenbildender, abwärts gerichteter Prozess). Es werden Hypothesen gebil-deu die auf dem Vorwissen, d.h. verallgemeinerten Wissensstrukturen (Schemata, Skripts, Frames) und den Erwartungen der Hörer/Leser basieren. Je höher die Fähigkeit eines Hörers/Lesers zu ganzheitlichem Verstehen ist, desto größer ist seine Fähigkeit zu antizipieren und zu inferieren. Hörverstehen und Leseverstehen bedeuten "rmn»r auch,, eigene Haltungen, Erfahrungen und Vorstellungen mit Neuem zu kombinieren und daraus Schlüsse zu ziehen (Solmecke 1993). Grundlage dieses Verstehensprozesses ist das Mobilisieren von sprachlichem und außersprachlichem Wissen, wobei das sprachliche Wissen zwar eine notwendige, aber noch keine genügende Bedingung für das Verstehen darstellt. Schwierigkeiten in Bezug auf Hörverstehens- und Leseverstehenstexte für den Fremdsprachenunterricht entstehen aus verschiedenen Gründen: Kenntnis der Sprache, fehlendes „Weltwissen", ungenügende Verstehensstrategien. Ob ein Text daher leicht oder schwer zu verstehen ist, hegt nicht nur an ihm selbst, sondern ebenso am Rezipienten. Verstehen ist daher immer auch eine sehr persönliche individuelle Angelegenheit, was vor allem bei nicht „eindeutigen" oder stark kulturgeprägten Texten sichtbar wird. Die Textschwierigkeit hängt aber auch davon ab. „was man mit einem Text machen will", also an den Aufgaben- und Übungsgestaltungen. Generell kann gesagt werden, dass schriftlich fixierte Texte den Vorteil haben, dass den sprachlich-kognitiven Prozessen mehr Zeit zur Verarbeitung zur Verfügung steht. Man kann im Text immer wieder „zurückgehen", korrigieren und das Tempo der Entschlüsselung selbst bestimmen. Defizite beim Hörverstehen sind begleitet von Defiziten beim Leseverstehen, so wie die Schulung des Hörverstehens positive Wirkungen auf das Leseverstehen (und umgekehrt) hat. In jedem Fall erfolgt besseres Behalten, wenn Sprachmaterial sowohl auditiv als auch visuell dargeboten wird. Zusammenfassend ist zu sagen, dass Hör- und Leseprozesse in Bezug auf die Ebene des Dekodierens verschieden, in Bezug auf die Ebene des Verstehens prinzipiell gleich sind. Bei den produktiven Fertigkeiten, dem Sprechen und Schreiben stimmen die Erzeugungsprozesse grundsätzlich überein. Das Schreiben beeinflusst das Sprechen positiv, da sowohl visuelle, artikulatorische als auch motorische Komponenten in den Schreibprozess eingebunden sind und das Schreiben von (inneren) Artikulationsbewegungen begleitet wird. 5. Zu Rolle und Funktion der Fertigkeiten im Fremdsprachenunterricht Die Fertigkeiten stellen immer sowohl das Ziel als auch das Mittel des Fremdsprachenunterrichts dar. d.h. sie haben im Fremdsprachenunterricht eine Doppelfunktion: sie sind einerseits Mittel des Sprachlernens, andererseits Mittel der Verständigung und Weisen des Sprachgebrauchs, der Sprachtätigkeit. Sie sind also unter dem Gesichtspunkt der Sprachverarbeitung wie auch der Sprachverwendung zu betrachten. In dieser Gegenüberstellung ergibt sich ein jeweils anderer Stellenwert: Was den Spracherwerb betrifft, werden die Fertigkeiten als Mittel des Sprachenlernens, der Sprachverarbeitung und als eigenständig betrachtet, d. h. Hören und Lesen stellen nicht die Grundlage von Sprechen oder Schreiben dar, sondern sind Teüfertigkeiten einer allgemeinen Verstehenskompe-tenz. Es muss von einer „natürlichen" Priorität der rezeptiven Fertigkeiten (Hören/Le- 106. Die sprachlichen Fertigkeiten____ 9 sen) gesprochen werden. Wesentlich ist hier das eigenständige Verstehen (Faistauer 2005: Fritz und Faistauer 2008) und die Verarbeitung des Verstandenen. Verstehen muss vor dem Produzieren kommen. Neben diesem spracherwerbstheoretischen Argument, dass es ohne Verstehen kein Produzieren, also ohne Verstehen kein Sprechen und Schreiben gibt, dass rezeptive und produktive Kompetenzen unterschiedlich weit entwickelt sein können, fallen für die Trennung der Fertigkeiten aber auch Unterrichts- und lernzielbestimmte Gründe ins Gewicht: - die stärkere Betonung rezeptiver Fertigkeiten könnte den früheren Einsatz anspruchsvoller, auch literarischer Texte ermöglichen; - Frustrationen, nicht früh genug produzieren zu können, könnte entgegengearbeitet werden; - vor allem bei .Unterricht in Nicht-Zielsprachenländern ist die vor allem inhaltsbezogene Beschäftigung mit Texten zielführender. Werden die Fertigkeiten als Mittel der Verständigung, der Sprachverwendung im Sinne einer kommunikativen Zielsetzung des FSU (Ausbildung einer Kommunikativen Kompetenz. Ausbildung der Kommunikationsfähigkeit in einer Fremdsprache) angesehen und ist die Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts die ständige Weiterentwicklung der Sprachkompetenz und der Ausbau kommunikativen Handelns, so ist die Ausbüdung aller Fertigkeiten erforderlich, alle Fertigkeiten sollten (gleichermaßen) gefördert und trainiert werden. Hören und Lesen. Sprechen und Schreiben sollten im Unterricht gemeinsam und integriert behandelt werden. Die Schulung der einzelnen Fertigkeiten erfolgt mit dem (Teil-)lernziel. die Lernenden zum Verstehen gesprochener und geschriebener Texte zu befähigen und sie zu eigener mündlicher und schriftlicher Textproduktion hinzuführen (Krumm 2001). Lernen wird hier im Gegensatz zu einem additiven Lernkonzept, bei dem sich Lernen aus dem Nacheinander von unterschiedlichen Sprachverwen-dungsmustern ergibt, als Integration von neuen Informationen in schon vorhandenes Wissen verstanden. Kombination und Integration von Fertigkeiten entsprechen wohl auch einer außerunterrichtlichen Realität und werden mit dem „realen Leben" begründet, wo man abwechselnd hört und spricht, wo man hört bzw. liest und darüber spricht oder sich Notizen macht. Begründet wird dies aber auch durch fremdsprachenpsychologische Momente: unterschiedliche Arten des Sprachgebrauchs ermöglichen unterschiedliche Lernchancen für unterschiedliche Lerntypen. Für die jeweils konkrete Unterrichtssituation sollte sich die Entwicklung der einzelnen Fertigkeiten an den jeweiligen Anforderungen der Zielgruppen-bzw. an deren Interessen bezüglich Hören, Lesen, Sprechen und Schreiben orientieren. Bei der Integration und Kombination von Fertigkeiten spielt die Aufgabenstellung eine wichtige Rolle (Portmann-Tselikas 2001; vgl. Art. 130). Im Bereich der Rezeption hängen definierte Verstehensziele, Kontrolle des Verständnisses und Spracharbeit zusammen. Wenn die Produktion den reinen Übungscharakter überschreiten soll, dann ist folgendes nötig: thematische Öffnungen, adäquate Äußerungsmöglichkeiten und ein Publikum. Vor allem die Arbeit mit Lese- und Hörtexten ermöglicht autonomes Lernen, denn die Wahl der Texte in Bezug auf Thema/Inhalt, Länge und Anzahl kann frei erfolgen (vgl. auch Art. 128). Schreiben hat im Ensemble der vier Fertigkeiten wahrscheinlich die integrativste Rolle, denn im Schreiben sind Teile aller anderen Fertigkeiten integriert und es kann daher zur Verbesserung der Entwicklung von Sprechen. Leseverstehen und Hörverstehen beitragen (Bonn 2001). Sprechen wird von den Lernenden häufig als das gewünschte Lernziel angesehen, und spielt daher bei der Bewertung 9tiS__X. Sprachen lehren: Zielsetzungen und Methoden der Fertigkeiten oft die wichtigste Rolle. Zusammenfassend kann jedoch gesagt werden, dass je nach Zielsetzung des Unterrichts die Fertigkeiten anders gewichtet oder kombiniert werden können - für den Erwerb einer Fremdsprache die Herausarbeitung einzelner Fertigkeiten aber ebenso unerlässlich ist. 6. Literatur in Auswahl Uohll. Rainer 2001 Schriftliche Sprachprodukuon. In: Gerhard Heibig, Lm/ Götze. Cierd Henri« und Hunt-Jürgen Krumm (Hg.l. Deutsch ah Fremdspiachc ein internationales Handbuch. Band 2. Artikel 95. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikutiuiuiwissenschuri 19.1 2). Berlin: de Gruyter Bulzkamm. Wolfgung 2002 Pncliolmguistik des Frenidsprachenunterrichii ion der Muttersprache zur Fremdsprache Tübingen' Frunckc Desselmunn. Günther und Humid Hcllmich (Hg ) 1981 Didaktik de* rrvmdsprachenunlerrichts. Deutsch ah Fremdsprache. Leipzig: Verlag hnzj-klopüdie huroparal (Hg.l 2UUI Gemeinsamer europäischer Relerenzrahmen für Spruchen: Lernen, lehren, beurteilen Berlin: Langenscheidl. t-uisluuer. Renate 2005 Methoden. 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