Die ABC D-Thesen Auf Einladung der Fachgruppe "Deutsch als Fremdsprache des Fachverbandes Moderne Fremdsprachen" und des "Goethe-Instituts" trafen sich im Oktober 1988 je drei Vertreter der Deutschlehrerverbände aus Österreich, der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz und der Deutschen Demokratischen Republik zu einem Fachgespräch über Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Bereich der Landeskunde. Drei Vorhaben wurden dabei in Gang gesetzt: a) eine stärkere Kooperation bei der Lehrerfortbildung; b) die Planung einer Buchreihe, die Informationen über die deutschsprachigen Regionen bereitstellt; c) die Entwicklung von Prinzipien, an denen sich der Deutschunterricht und die Lehrwerkproduktion orientieren können. Im Mai 1990 fand auf Einladung der "Sektion Deutsch als Fremdsprache" ein Folgetreffen in Leipzig statt, auf dem die im folgenden abgedruckten Thesen erarbeitet und verabschiedet wurden. Diese Thesen wenden sich vor allem an Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer sowie in der Lehrerfortbildung Tätige, indem sie Grundsätze für die Rolle der Landeskunde im Deutschunterricht und Hinweise zu ihrer methodischen Realisierung aufstellen, außerdem an Lehrwerkautorinnen und -autoren, für die diese Thesen eine Orientierung bei der Auswahl und Gestaltung von Lehrmaterial darstellen können. An den Treffen in München und Leipzig und an der Entwicklung der folgenden Thesen wirkten mit: A (Österreich): Roland Fischer, Wolfgang Hackl, Astrid Kampel; B (BRD): Klaus Fischer, Manfred Heid, Bernd Kast, Hans-Jürgen Krumm, Dieter Strauss; C (Schweiz): Michael Langner, Edgar Marsch, Marie-Pierre Walliser; D (DDR): Rainer Bettermann, Hans Marnette, Johannes Rößler (D), Harald Schubert, Horst Uhlemann (B). 0. Was ist Landeskunde? Landeskunde im Fremdsprachenunterricht ist ein Prinzip, das sich durch die Kombination von Sprachvermittlung und kultureller Information konkretisiert und durch besondere Aktivitäten über den Deutschunterricht hinaus wirken soll, z.B. durch Austausch und Begegnung. Insofern ist Landeskunde kein eigenes Fach. Landeskunde ist nicht auf Staaten- und Institutionenkunde zu reduzieren, sondern bezieht sich exemplarisch und kontrastiv auf den deutschsprachigen Raum mit seinen nicht nur nationalen, sondern auch regionalen und grenzübergreifenden Phänomenen. Ein solches Verständnis von Landeskunde widerspiegelt das Konzept des sich herausbildenden "Europa der Regionen." 1. Allgemeine Grundsätze 1. Der Deutschunterricht leistet einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben der Menschen im Sinne der Charta der Vereinten Nationen. Der Landeskunde kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu, indem sie die Wirklichkeit der Zielsprachenländer und die kulturelle Identität der dort lebenden Menschen zum Thema macht. 2. Landeskunde wird dynamisch und prozeßhaft gesehen. Auf Vollständigkeit der Informationen im Hinblick auf ein hypothetisches Landesbild wird bewußt verzichtet. 3. Die Tatsache, daß Deutsch in verschiedenen Regionen Muttersprache ist, stellt eine besondere Chance für einen auf interkulturelle Kommunikation hin orientierten Unterricht dar. 4. Primäre Aufgabe der Landeskunde ist nicht die Information, sondern Sensibilisierung sowie die Entwicklung von Fähigkeiten, Strategien und Fertigkeiten im Umgang mit fremden Kulturen. Damit sollen fremdkulturelle Erscheinungen besser eingeschätzt, relativiert und in Bezug zur eigenen Realität gestellt werden. So können Vorurteile und Klischees sichtbar und abgebaut sowie eine kritische Toleranz entwickelt werden. 5. Im Deutschunterricht und daher auch in Lehrwerken und Zusatzmaterialien müssen Informationen über den ganzen deutschsprachigen Raum berücksichtigt werden. Dabei sind Vielfalt der Quellen und Transparenz der jeweiligen Standpunkte und Sichtweisen wichtige Kriterien. 6. Landeskunde steht in engem Zusammenhang mit dem Spracherwerb. Rücksichtnahmen auf die eingeschränkte Sprachfähigkeit der Lernenden und die sprachliche Progression fordern didaktische Vereinfachung, dürfen aber nicht zu Simplifizierung, Vemiedlichung, Vergröberung und Verzerrung führen. 7. Die Stimmigkeit landeskundlicher Informationen sollte dadurch gewährleistet werden, daß eine Zusammenarbeit mit Experten der jeweils betroffenen Länder oder Regionen gesucht wird. 8. Landeskunde als integraler Bestandteil des Sprachunterrichts erfordert Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer, die durch eigene Erfahrung, vielfältige Materialien, eine gute Ausbildung und entsprechende Fortbildung in die Lage versetzt werden, alle deutschsprachigen Regionen im Deutschunterricht lebendig werden zu lassen. II. Didaktisch-methodische Grundsätze 9. Landeskundevermittlung im Rahmen des Deutschunterrichts vollzieht sich als Prozeß der aktiven Auseinandersetzung mit fremden Kulturen. Das bedeutet, sie an der Auswahl der Materialien und der Gestaltung des Unterrichts zu beteiligen und sie zu schöpferischer Arbeit anzuregen und zu ermutigen. 10. Informationen über die deutschsprachigen Regionen sollten möglichst anhand authentischer Materialien erarbeitet und vermittelt werden. Bei der Auswahl von Materialien ist darauf zu achten, daß verschiedene Sichtweisen berücksichtigt und die Widersprüche einer Gesellschaft einbezogen werden. Bei den Lernenden sollen Neugier und die Lust auf Entdeckungen geweckt werden. Die Möglichkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden, darf nicht durch manipulierende Kommentare der Autoren verstellt werden. 11. Die Akzeptanz landeskundlicher Stoffe hängt von der umsichtigen Auswahl sowohl sympathischer wie auch kritisch-kontroverser Informationen ab. 12. Die Vielfalt von regionalen Varietäten der deutschen Sprache stellt eine wichtige Brücke zwischen Spracherwerb und Landeskunde dar. Diese Vielfalt darf nicht zugunsten einheitlicher Normen (weder phonologisch, noch lexikalisch, noch morpho-syntaktisch) aufgegeben, sondern soll für die Lernenden am Beispiel geeigneter Texte und Materialien erfahrbar werden. 13. Landeskunde ist in hohem Maße auch Geschichte im Gegenwärtigen. Daher ergibt sich die Notwendigkeit, auch historische Themen und Texte im Deutschunterricht zu behandeln. Solche Texte sollten Aufschluß geben über den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, über unterschiedliche Bewertungen sowie über die Geschichtlichkeit der Bewertung selbst. 14. Der Umgang mit literarischen Texten leistet einen wichtigen Beitrag zur Erschließung deutschsprachiger Kultur(en). Mit Hilfe von Literatur können die Unterschiede von eigener und fremder Wirklichkeit und subjektiver Einstellungen bewußt gemacht werden, zumal literarische Texte gerade dadurch motivieren, daß sie ästhetisch und affektiv ansprechen. 15. Ein Charakteristikum der deutschsprachigen Kultur(en) ist, daß sie nicht auf einen Mittelpunkt zentriert ist (sind), sondern sich gerade durch die Vielfalt der deutschsprachigen Regionen, durch ihre bei vielen Gemeinsamkeiten auch unterschiedliche historische, politische, kulturelle und sprachliche Entwicklung auszeichnen. Sich im Unterricht nur auf eine deutschsprachige Region zu beschränken widerspricht dem Sinn der Landeskundevermittlung. 16. In der Begegnung mit fremden Kulturen wird dem Lernenden die eigene Kultur bewußt. Der Landeskunde-Unterricht soll daher an Spuren der fremden Kultur im eigenen Land anknüpfen, Vorkenntnisse und Klischees aufgreifen und Gelegenheit zu Überprüfung und Korrektur geben, d.h. kontrastiv angelegt sein. 17. Eine fremde Kultur wird von den Lernenden oft eher emotional und subjektiv erfahren. Landeskunde-Unterricht muß daher der Verarbeitung von Erlebnissen, subjektiven Meinungen und dem emotionalen Zugang Raum geben. 18. Landeskunde weist über den Sprachunterricht hinaus und vernetzt ihn mit anderen Lernbereichen und Unterrichtsfächern, in denen korrespondierende Aufgaben entwickelt werden sollten. Methodenvielfalt im Sprachunterricht wie in den anderen Lernbereichen ist hierfür eine ebenso wichtige Voraussetzung wie die Förderung des selbständigen und autonomen Lernens. III. Möglichkeiten der Kooperation 19. Bei der Entwicklung landeskundlicher Materialien ist die Kooperation zwischen den Fachleuten der deutschsprachigen Länder notwendig. Eine besonders wichtige Rolle kommt dem Informationsaustausch, der Bereitschaft zur Berücksichtigung der erhaltenen Information und ihrer korrekten Wiedergabe zu. 20. Personen und Institutionen, die ein fachliches Interesse an Informationen über ein deutschsprachiges Land haben, sollen auf ihr Verlangen hin von diesem mit den erforderlichen landeskundlichen Materialien versorgt werden können. Dafür ist eine entsprechende Infrastruktur in allen deutschsprachigen Ländern Voraussetzung. 21. Für die Lehreraus- und Fortbildung sind zu fordern: n landeskundliche Themen, die sich an allen deutschsprachigen Regionen orientieren, n eine entsprechende Didaktik und Methodik landeskundlichen Unterrichts. Fachleute verschiedener deutschsprachiger Länder sollten an solchen Fortbildungsveranstaltungen aktiv beteiligt sein. Wenn immer möglich, sollten solche Veranstaltungen gemeinsam mit Partnern dieser Länder geplant und durchgeführt werden. 22. Die Deutschlehrerverbände/der Internationale Deutschlehrerverband sollten es als eine ihrer vordringlichsten Aufgaben betrachten, internationale Kooperation auf landeskundlichem Gebiet anzuregen, entsprechende Wünsche ihrer Mitglieder und Lehrbuchautoren weiterzugeben, bi- und multilaterale Fortbildung zu fördern sowie Fortbildungsveranstaltungen in den verschiedensten deutschsprachigen Ländern bekanntzugeben und terminlich koordinieren zu helfen. Quelle: ÖDaF-Mitteilungen, 2/1990, Seite 26-29; u.a. auch in: Deutsch als Fremdsprache 24 (1990), Heft 5, Seite 306-308.