Maxím Biller IM KOPF VON BRUNO SCHULZ Novelle Kiepenheuer & Witsch »Gelobt sei, der seltsame Wesen schafft.« S.J. Agnon, Und das Krumme wird gerade »Sehr verehrter, hochgeschätzter, lieber Herr Thomas Mann«, schrieb an einem überraschend warmen Herbsttag im November 1938 ein kleiner, dünner, ernster Mann langsam und vorsichtig in sein Notizbuch - und strich den Satz sofort wieder durch. Er erhob sich von dem viel zu niedrigen, leise quietschenden Drehstuhl, auf dem er seit dem frühen Nachmittag an dem ebenfalls zu niedrigen Schreibtisch aus dem alten Büro seines Vaters gesessen hatte, er streckte, wie bei der Morgengymnastik, die Arme ein paarmal nach oben und zur Seite und blickte zwei* drei Minuten lang zu dem schmalen, verschmutzten Oberlicht hinauf, vor dem immer wieder Schuhe und Beine, Schirmspitzen und Rocksäume tler auf der Flonanskastraße vorbeigehenden Passanten auftauchten. Dann setzte er sich wieder hin und begann noch mal. *Sehr geehrter Herr!*, schrieb er. «Ich weiß, dass Sie täglich viele Briefe bekommen und wahrscheinlich mehr Zeit damit verbringen, sie zu be- 7 antworten, als mil dem Schreiben Ihrer wunderbaren, weltberühmten Romane. Ich kann mir vorstellen, was das bedeutet! Ich selbst muss sechsunddreißig Stunden in der Woche meinen lieben, aber völlig unbegabten Jungen das 'Zeichnen beibringen, und wenn ich am Ende des Tages das Jagiello-Gymnasium, an dem ich unterrichte» müde verlasse -« Er brach ab, stand wieder auf, und dabei stieß er mit dem linken Knie gegen den Tisch. Statt aber, so wie es jeder andere getan hätte, das angeschlagene Knie zu reiben oder leise schimpfend durch den kleinen Kellerraum zu springen, hielt er seinen Kopí mit beiden Händen fest - es war ein sehr großer, fast dreieckiger, hübscher Kopf, der von Weitem an die Papierdrachen erinnerte, die seine Schüler seit den ersten windigen Septembertagen im Steinbruch von Koszmarsko steigen ließen -, und kurz darauf ließ er den Kopf mit einer einzigen heiligen Bewegung los, als ob er so seinen Gedanken raus-helfen könnte. Es funktionierte, wie fast immer, und schon saß er wieder am Tisch und schrieb auf eine neue, leere Seite schnell und ohne zu überlegen: »Lieber Dr, Thomas Mann! Obwohl wir uns nicht persönlich kennen, muss ich Sie darüber informieren, dass vor drei Wochen ein Deutscher in unsere Stadt gekommen ist, der behauptet, Sie zu sein. Da ich Sie, wie wir alle in Drohobycz, nur von Fotugrafien aus den Zeitungen kenne, kann ich nicht mit letzter Sicherheit sagen, dass Sie es nicht sind, aber allein die Geschichten, die er erzählt - von seiner abgetragenen Kleidung und dem starken Körpergeruch abgesehen, der ihn umgibt -, machen ihn verdächtig.« So, sehr gut, das genügt für den Anfang, dachte der kleine, ernste Mann in dem Keller in der Flo-rianskastraße zufrieden und schob den Bleistift -es war ein Koh-i-Noor HB, mit dem man notfalls auch zeichnen konnte - in die Innentasche seines dicken, belgischen Jacketts, das er das ganze Jahr trug. Dann klappte er das schwarze Notizbuch mit dem leeren Etikett auf dein Deckblatt zu und streichelte, als wäre er nicht er selbst, sein Gesicht. Er hatte das erste Mal an diesem Tag, nein, das erste Mal seit vielen Monaten, vielleicht sogar seit Jahren, nicht mehr das Gefühl, als würden gleich aus den Wänden um ihn herum große, schwarze Echsen und böse grinsende, schielende, petrol-grüne Schlangen herauskriechen, er hörte nicht wie sonst alle paar Minuten hinter sich das Schlagen und Rauschen riesiger Archaeopteryxflügel, er fürchtete nicht, dass sich schon bald, ganz bald etwas unvorstellbar Schreckliches ereignen würde. Als ihm das klar wurde, geriet er sofort wie- a 9 der in Panik, denn das konnte nur eine Falle des Schicksals sein. Seil er denken konnte, wachte Bruno - so hieß der Mann mit dem Papierdrachengesicht - jeden Morgen mit Angst auf. Die Angst und er gingen zusammen zum Frühstück in LisowskisTeestube, sie begleitete ihn ins Gymnasium und schaute über seine Schulter, während ihm die Jungen niedergeschlagen ihre misslungenen Tierzeichnungen und die mit schwarzen Fingerabdrücken bedeckten Gipsmodelle ihrer kleinen, niedlichen Kopie zeigten. Die Angst war da, wenn er sich in den Pausen mit anderen Lehrern unterhielt - dabei ging es meist um die unwichtigen Angebereien und Vergehen der Jungen oder um eine neue Auttüh-rung im Warschauer Kaminski-Theater und fast nie um den Lärm, den die Deutschen neuerdings machten -,und sie verließ ihn auch nicht, wenn die junge Sport- und Philosophielehrerin Helena Ja-kubowiez von ihm wissen wollte, was mit seinem neuen Roman sei, auf den, wie sie sagte, alle, die in Polen etwas von Literatur verstanden, inzwischen immer ungeduldiger und gereizter warteten. Nur wenn Helena Jaknbowkz - klein, athletisch und im Gesicht behaart wie eine kluge Bonobo-Dame -die Hand auf seinen Arm legte und zudrückte, ging die Angst weg. Aber kaum ließ Helena los. war sie wieder da, und so musste er die Angst später in die große, abgedunkelte Wohnung in der Stryjstraße mitnehir.cn, wo sie ihm zum Glück nicht auch noch bis in eines der Zimmer der Madchen folgte. Doch kaum war er draußen, setzte sie sich erneut in seinem Bauch fest - ja, dort saß sie am liebsten, ein großer, warmer, grauer Klumpen, der sich unaufhörlich rasselnd drehte -, und er trug sie zurück nach Hause. Und auch wenn er sich dann, nach einem kurzen Ahendbrot und dem Durchblättern des »TygodnJk Ilustrowany* und der »Neuen Freien Presse«, endlich im Keller an den allen Schreiblisch seines Vaiers setzte, war sie da. Sie war da, während er schrieb, während er zeichnete, während er, wie immer bei der Arbeit, an Papas schrumpfenden, sterbenden Korper dachte oder an das ratlose Kopfschütteln der russischen Soldaten, die im zweiten Kriegsjahr aus Versehen ihr Haus am Marktplatz in Brand gesteckt hatten, und wenn die Angst müde wurde und sich davonschleichen wollte, stellte er sich schnell vor, dass er an einem kühlen Sommermorgen anstelle seines todkranken Schwagers Jankel sich selbst die Gurgel mit einem Rasiermesser durchschneiden müsste - und schon fing der graue Klumpen an, ein noch tieferes Loch in seinen Bauch zu bohren, Nur im Schlaf war Bruno wirklich allein und von ic) der Angst verlassen. Dann träumte er von Zürich, Paris und New York, wo es Hunderte, Tausende solcher verdorbenen, zarten Manner und Frauen wie ihn gab, die sich in Cafes, Parks und Bibliotheken gegenseitig zulächelten, winkten und durch leichtes, stummes Nicken Mut zusprachen. »Professor Schulz«, hörte Bruno plötzlich von draußen eine liefe, aber noch unsichere, krächzende Jungenstimme rufen. »Sie waren heute nicht in der Schule! Sie werden einen Verweis bekommen!« Der Junge lachte, und mit ihm lachten ein paar andere Jungen. Er klopfte gegen das Oberlicht, mit einem Stock, aber viel eher war es ein Vogclschnabel, und das Klopfen, zunächst leise und scharrend, wurde schnell lauter. Bruno rutschte vom Stuhl auf den Boden hinter den Schreibtisch, er packte wie vorhin, mit weit abgewinkelten Ellbogen, seinen Kopf und bedeckte mit den kleinen Händen seine großen Ohren, und als er kurz über die Tischkante zum Oberlicht hinaufspähte, sah er, dass mehrere kleine Schnäbelchen am schmutzigen Glas kratzten und dagc-genschlugen. Er glitt sofort wieder herunter, hielt sich die Ohren noch fester zu und verlor sich in dem auf- und abbrandenden Mceresrauschen, das sich von der Mitte seines Kopfes über die ganze Welt ausbreitete. Eigentlich hatte Bruno gehofft, dass keiner in der Schule sein hehlen bemerken würde, vor allem die hübsche Helena nicht, deren dichtes, blondes, oft schlecht gekämmtes Haar leider den stechenden Geruch von Urin und feuchtem, durchgele-genem Heu eines Tierkäfigs verbreitete. Sie hatte ihn gestern fast eine ganze Unterrichtsstunde lang ohne Licht in der Kammer mit den kaputten Turngeräten neben der Sporthalle eingeschlossen. Warum, wusste er nicht, wahrscheinlich, weil er bei ihrer letzten Pausenunierhaltung noch mehr gezittert hatte als sonst und sich nicht einmal durch den Druck ihrer kurzen, aber scharfen und ungefeilten Fingernägel beruhigen ließ. Na und? Sie hätte ihn eben nicht bitten sollen, ihr wenigstens ein paar Seiten aus dem Roman zu zeigen, und kalt war ihm auch noch gewesen, trotz der geschenkten Sommertage mitten im November und seiner schweren Jacke. Als sie ihn endlich rausiieß, ging es ihm sehr viel besser, das sagte er ihr jedenfalls, damit sie nicht noch böser wurde, und sie versprach ihm, ihn bald wieder einzusperren. Vielleicht, fügte sie hinzu, würde sie selbst kurz mir ihm in die Kammer kommen, sie könne, wenn er es wolle, in einem der chaotischen Läden hinter dem Marktplatz, die immer nur am späten Abend für einige Stunden öffneten und manchmal auch das nicht, einige Dinge kaufen, die sie schon lange mit ihm ausprobieren wollte. Er konnte sich denken, was sie meinte! Nein, hatte er geantwortet, lieber nicht, obwohl er sich beim Gedanken an diese Dinge - venezianische Colombina-Masken aus schwarzem Leder, mit Sägemehl ausgestopfte, penisgroße Pierrots, aus Weidenruten geflochtene und mit dünnen Stahlkctten durchwirkte Oster-peitschen, silberne Nippel klemmen und japanische Schungakerzen, deren tropfendes Wachs keine Brandblasen hinterließ - sofort sehr sicher und wohl fühlte, und er überlegte, noch während er zu seinen brüllenden Jungen in den Zeichensaal in den zweiten Stock zurückrannte, ob er sich nicht am nächsten Tag lieber krankmclden sollte. Dann, das war schon auf dem Nachhauseweg gewesen, war ihm eingefallen, dass er seit Langem vorhatte, den Brief nach Zürich zu schreiben, und damit war es entschieden: Er würde schwänzen! »Verdächtig ist auch die Art des angeblichen Thomas Mann, zu essen und zu sprechen«, schrieb Bruno jetzt, weiter auf dem Boden sitzend, in das Notizbuch, während das Klopfen gegen die Fensterscheibe schwächer wurde. »Er durchschneidet zwar das Fleisch und die Kartoffeln auf seinem Teller gelangweih und genau wie ein Chirurg das Gewebe eines Patienten und breitet vorher die Ser- 14 victtc auf seinem Schoß noch liebevoller aus als früher die strenge Adele jeden Morgen die frisch ausgeklopften Decken und Kissen auf unseren Ketten. Aber dann plot/.lieh schleudert der Fremde das Messer und die Gabel wild durch das Restaurant im Hotel 'Zur schwankenden Pyramide', wo er seit Wochen das Badezimmer des Direktors Hasenmass bewohnt, er greift mit den Händen in den Teller, stopft sich das Essen in den Mund, und Blut spritzt ihm aufs Hemd und in die Augen. Zum Glück hat er noch nie jemanden mit dem davonfliegenden Besteck getroffen! Die vielen wichtigen Leute aus unserer Stadt, die ihn seit seiner Ankunft wie der Bienenstaat die Königin umschwirren, ducken sich kurz, und danach tauchen sie - die Mundwinkel /um unterwürfigen Lächeln hochgezogen, die Augen vor Schrecken gerötet und glasig - wieder auf und bitten ihn, ihnen weiter seine aufregenden Geschichten zu erzählen.* Bruno machte für einen Moment Pause. Das böse Klopfen und Scharren der Vogelschnäbel hatte aufgehört, dafür war es draußen Abend geworden, fast Nacht, so jäh und bedrohlich wie an jedem Tag seines Lebens, Im Kellerraum herrschte aber immer noch ein abgestandenes Halbdunkel mit den Überbleibseln vieler furchtsamer, vergeblicher Arbeitsstunden, und das erinnerte ihn gleich >7 wieder daran, dass es von dem großen Buch, das er seit Jahren den Freunden, Frauen und Kollegen in Lemberg, Warschau und zuhause versprach, außer des Titcis nichts gab, keine Seite, keine /eich nung. Er wusste nicht einmal, um was es darin gehen sollte. Wenigstens hatte er endlich seine erste Erzählung auf Deutsch geschrieben, und wenn die mit Hilfe von Thomas Mann in der »Neuen Rundschau« oder in der »Sammlung* erschiene, könnte ihn auch nicht seine Angst davon abhalten, Drohobycz und Polen für immer zu verlassen- Ein freundlicher Antwortbrief des berühmten Schriftstellers, eine Empfehlung von ihm an Querido in Amsterdam oder Bcrmann Fischer in Stockholm, und schon würde er in Papas alten Lederkoffer ein paar Manuskripte, seine Zeichenblocke, etwas Unterwäsche und das Rasicrzeug werfen und sich auf den Weg in die Freiheit machen. »Je länger der Fremde da ist«, schrieb Bruno weiter, während ein übermütiges Lächeln sein strenges, fast trauriges Gesicht erhellte, »desto öfter wird er gefragt, was ihn, den bekannten Nobelpreisträger, ausgerechnet ins kleine, vergessene Drohobycz verschlagen hat. Wurden seine Werke nicht in siebenunddreißig Sprachen übersetzt? Zählt er nicht Albert Einstein, Arthur Rubinstein und Franklin D. Roosevelt zu seinen Freunden? iS Ist er nicht wohlhabender als alle polnischen und jiddischen Schriftsteller Wesigalizicns zusammen und könnte sich darum, wenn er schon in unsere Gegend kommt, eine Suite im Russischen Hof in Lemberg leisten? Er gibt - entweder übertrieben freundlich oder wütend mit seinen schlamm-bedeckten, durchlöcherten Expeditionsschuhen stampfend - immer eine andere Antwort. Mal erzählt er, er sei in Zürich nicht mehr sicher, weil die Deutschen auch dort angefangen hätten, nachts ihre Feinde heimlich aus den Fenstern der Häuser zu werfen, aber bis Polen kämen sie bestimmt nie. Mal erwähnt er einen schrecklich missgestalteten und trotzdem sehr umgänglichen litauisch-amerikanischen Geschäftsmann, der seit Jahren in Drohobycz lebt und ihm, seiner Frau und seinen sechs Kindern ein amerikanisches Visum besorgen könnte. Ich habe noch nie von diesem Mr. Ka-tanauskas gehört, und auch die Leute von unserem freundlichen Thomas-Mann-Komitee kennen ihn nicht, aber sie trauen sich natürlich nicht, den Meister genauer zu fragen.« Bruno machte wieder eine Pause, er hob, weil er nicht weiterwusste, auf der Suche nach einer Inspiration den Blick und erkannte im Zwielicht des Kellers seine eigenen Zeichnungen nicht wieder, die überall an den Wänden verteilt waren und *9 sich von der ewigen Feuchtigkeit hier unten wie die Häute alter Frauen wellten. Im abendlichen Zwielicht wirkten die Körper und Gesichter der Männer, Frauen, Vögel, Pferde, Hunde, die Bruno nie aufhören konnte zu zeichnen, noch verform-ter, durchsichtiger und verletzbarer, sie schienen IcbciuljLi uiul 'oi zugleich, und das brachte ihn auf eine neue Idee. ■»Eines Abends*, fuhr er fort, nachdem er das bisher Geschriebene überflogen und an zwei, drei Stellen korrigiert hatte, »hat uns der angebliche Thomas Mann in der Bar des Hotels >Zur schwankenden Pyramide auch noch erzählt, er wolle bei uns, in der Stadl des Jagienka-Lomska-Pogroms, Stoff für seine nächste Novelle sammeln. Darin werde es, sagte er fast sadistisch kichernd, wie bei dem echten Progrom um die Entführung und Ermordung eines kleinen Christenmädchens gehen. Der Verdacht - er hörte, lieber Dr. Mann, gar nicht auf zu lachen und schlug dem Direktor Hasenmass mehrfach mit der flachen Hand auf die Glatze - falle zuerst auf ihren eigenen Onkel, dann auf die Juden der Stadt, und weil bald klar werde, dass es doch der Onkel war, würden die Christen in .solche Wut geraten, dass sie die Juden töteten und ihre Häuser anzündeten. Wenn dann das Feuer auf ihre eigenen Viertel überspränge, beschuldigten sie sich gegenseitig der Zerstörung der Stadt, sie stürzten sich aufeinander, sie dureh-bolirten sich mit Messern und Heugabeln und vergewaltigten ihre besten Freunde und Freundinnen, ihre Kinder und Mütter. »Nun, meine Freundes sagte der falsche Fremde zu uns, als er fertig war und sich die Tränen aus den lachenden Augen wischte, »wie gefällt Ihnen diese Geschichte? Wie würden Sie die Frage der Schuld, die ich stelle, beantworten? Ich würde sagen: Hätten die Hebräer Drohobycz nie erreicht, hätte es nie dieses sinnlose, alles zerstörende Pogrom gegeben. Oder?< Dann schlug er mit beiden Handflächen einen kurzen, heftigen Trommelwirbel auf dem Kopf des Direktors.« Wieder ein Klopfen - diesmal an der verschlossenen Kellertür, diesmal viel lauter, aber auch freundlicher als der idiotische, kleinliche Krach, den vorhin seine Schüler mit ihren Schnäbeln und Krallen gemacht hatten. Bruno, weiter auf dem Uoden kauernd, jetzt auf allen vieren, das aufgeschlagene Notizbuch vor sich wie ein Hund den geliebten Knochen, schüttelte sich und versuchte seiner Kehle ein Wort zu entringen. Aber er brachte, übermäßig konzentriert wie immer, wenn er eine Geschichte schrieb, nur ein Knurren zustande. »Brunio*, hörte er seine Schwester I lania 2c 21 von draußen rufen. »Jemand hat für dich angerufen. Bist du da? Was ist das für ein schlimmes Geräusch?* AVer hat angerufen?«, erwiderte er mühsam. ^Jemand aus der Schule.« »So spät?« »Warum fragst du mich?« »War es... eine Frau oder ein Mann?* »Eine Frau.« »Abends um acht?* Hania schwieg, und er dachte, das hat sie sich doch nur ausgedacht. Seit er vor zehn Jahren den todkranken Jankel mit aufgeschnittener Kehle und von sich gestreckten Gliedern auf der Liege hinten im Garten gefunden hatte, blühte ihre Phantasie wie die schwarze Riesenrose in seinem »Traktat über die Schneiderpuppen*. Einen Tag nach Schlo-schim hatte sie zum Beispiel zu ihm gesagt, Jankel sei nicht tot, sie hätten den Falschen begraben, ein Bekannter von Adele habe ihn zweimal in Warschau gesehen. Adele war auch die Quelle für eine andere von Hanias Geschichten. Angeblich, hatte sie ihm vor ei n paar Monaten erzählt, war Adele, seit sie nicht mehr über ihr Haus und ihre Seelen herrschen durfte, in der StryjStraße angestellt, und dort begegne ihr häufig ein Mann, der -angeblich - ihrem kleinen, ängstlichen, hypochon- drischen Bruno erstaunlich ähnlich sehe, es aber auf keinen Fall sein könne, weil er die halbnackten Mädchen wie ein gutzulischer Pferdehändler begutachte, sehr viel Wein trinke und schmutzige Witze erzähle. Warum ging sie ihm damit auf die Nerven? Wie kam sie darauf? Er hatte Adele in der Stryjstraße nie gesehen, I lania erfand das nur, damit er genauso verwirrt und verunsichert war wie sie. Wenn sie über Politik sprachen, war es dasselbe. Wenn er Hania erklärte, dass der Appetit der Deutschen auf Danzig und Oberschlesien nie grüßer sein werde als ihre Angst vor Polens Verbündeten England und Frankreich, sah ihn die vom Selbstmord ihres Mannes verwirrte Hania wie einen Verrückten an, Sie streichelte seinen Kopf und flüsterte, beim nächsten Krieg würde nicht bloß ihr Haus brennen, das sei so sicher wie die Zerstörung des zweiten Tempels, und sie hoffe, es bleibe von ihr und ihm und den Kindern und Jankel mehr übrig als ein bisschen Asche und das, was Bruno über sie in seinen beiden Büchern geschrieben habe, »Was wollte die Frau, Hania?*, sagte Bruno langsam und ärgerlieh, denn er wollte schnell weitermachen, und er dachte, gut, wenigstens funktioniert das Sprechen wieder. »Sie sagte, du warst heute nicht in der Schule, und dass deine Schüler in deiner Abwesenheit die 12 *3 ausgestopften Tiere im Zeichensaal zerstört und in den Lichthof geworfen hätten«, rief Hania mit ihrer hohen, welken Witwenstimme durch die Tür. »Darum sollst du heute noch vorbeikommen und dir deine Strafe abholen. Wenn du nicht kämst, würde es morgen schlimmer werden. Isst du vorher mit uns, Brunio? Jankel ist bis Dienstag in Lemberg, und ich habe mehr Kreplach und Fleisch als genug,* Sie seufzte. »Weißt du - schon wenn er ein, zwei Tage auf Dienstreise ist, vermisse ich ihn, als käme er nie zurück. Wir essen um neun!« Wie Sic sehen, sehr verehrter Herr Thomas Mann, dachte Bruno, ist Ihr Doppelgänger nicht d«r einzige in Drohobycz, der seine Sinne nicht mehr beisammen hat- Bei meiner Schwester Hania hat es schon sehr früh angefangen, und noch überstürzter verließ mein Vater die Welt und begab sich, lange vor seinem Tod, in das Zwischen-reich, in dem, wie er glaubte, Menschen, Tiere und Pflanzen ohne Worte miteinander sprechen können, Bruno schob kopfschüttelnd das schwarze Notizbüchlein zur Seite, legte den Bleistift auf den eisigen Boden, und der Bleistift rollte schnell wie eine ängstliche Maus davon und blieb an einem der Tischbeine liegen. Während sie ihn pflegte, dachte Bruno weiter, ohne zu merken, dass er aufgehört hatte zu schreiben, entdeckte meine geliebte und inzwischen verstorbene Mutier ebenfalls die Wonnen des Unwirklichen. Für slc bUcb der Vater - auch als er, langst wieder klein wie ein Baby, mit unserem Hündchen Nimrod im Korb lag und sich weinend und flüsternd an das ratlose Tier schmiegte-der große Schuldige, der seine tödliche Krankheit ausnutzte, um sich der Verantwortung fürs Haus und für die Familie zu entziehen, und darum warf .sie manchmal wütend den I l.iustür-schlüssel nach ihm oder, mitten im Gebet, ihren Sidur. Ich habe mich, lieber Herr Mann, seitdem jeden Tag dreimal gefragt: Hatte Mama das von unserer unerbittlichen Gefängniswärterin Adele gelernt? Wusste sie, wie häufig die winzige, aber vor Raserei oft übermenschlich starke Adele früher in unserem alten Haus am Markt in einem der vergessenen, leeren, staubigen Dachzimmer gegen mich die Hand erhoben hatte? Ich glaube, es gibt keine zwei Antworten auf diese Frage. Einmal stand die aus rauen Brettern gezimmerte Tür einer der Kammern offen, in der ich gerade mein kleines /wiegesprach mit Adeles pfeifendem Staubwedel abhielt, und als ich %-or Schmerz den Kopf zur Seite riss, erkannte ich im Türspalt Mamas hilfloses Harlekingesicht. Sehen Sie, Dr. Mann, was für ein Irrenhaus dieses Drohobycz ist? Keiner hier denkt und benimmt sieh, wie er sollte! Ich könnte Ihnen so viel erzählen: Meine Schüler sitzen., statt zu zeichnen und ihre Rechenaufgaben zu machen, meist gurrend und pickend auf den Dächern der Häuser, oder sie umkreisen stundenlang den Rathausturm. Hutcldirektor Hascnmass lässt sich- das habe ich letzten Samstag spät nachts durchs Fenster gesehen - von 1h rem Doppelgänger vor eine Droschke spannen und zieht den Meister nackt und leise wiehernd von Bar zu Bar. Perel-mann, der minderjährige, melancholische Chefredakteur der Drohobyczer Nachrichten, schreibt jeden Tag in seinem Blatt, die Juden sollten wie damals in Spanien über Nacht ihren Glauben ablegen t dann würden sie schon bald Torquemadas Divisionen anführen, statt von ihnen zerrieben zu werden. Und Dr Franck, der Internist, hat letzten Monat seine Praxis zugemacht, er sitzt den ganzen Tag auf einer Bank am Bahnhof und sagt unentwegt den Kaddisch. Und die schöne, düstere Helena Jakubowiez? Sie, die Arme, die zu sehr an die erhellende Macht der Literatur und der Gedanken glaubt, leidet unter einer besonders schweren Depression, die, wie man sich erzählt, Folge ühertnehenen literarischen Ehrgeizes und eines durchschnittlichen Talents ist. Ich weiß nicht, was sie gerade an meinen Geschichten findet. Sie nimmt sie, das hat sie ein paarmal gesagt, wie Aspirin zu sich, nein, wie ein Gegengift, mit dem sie das Gift der Hoffnungslosigkeit in sich bekämpft. Und weil sie schon so lange auf mein neues Buch warten muss, macht sie das oft noch trauriger - darum ihre ewige, abseitige, wilde, unlogische Wut auf mich, den gefügigen Sündenbock, diese Wut, die mir, wann immer ich Helena nicht aufhalte, Trost schenkt und das beruhigende Wissen, dass die Kindheit, blüien-weifi oder blutrot, zum Glück nie vergeht. Es ist wirklich schade, dass Sic Helena nie kennenlernen werden, Herr Mann. Was für eine zarte, liebe Frau verbirgt sich in Wahrheit hinter dem übelriechenden Affenflaum in ihrem Gesicht! Und was wäre nur, wenn sie sich einmal waschen und richtig kämmen, wenn sie die klebrigen Sägespäne aus ihrem Haar und ihren Kleidern entfernen, wenn sie zur Pediküre gehen und sich ein hübsches, enges, französisches Kostümchen anziehen würde! Dann, ja dann, würde ich in ihrer Gegenwart vielleicht nie wieder so angenehm und lüstern zittern, fürchte ich. Sehen Sic, so verrückt wird man, wenn man zu lange hier lebt. »Ich habe keinen Hunger, Hania*, sagte Bruno, wie aus tiefem Schlaf erwachend, langsam und undeutlich. Wieder kam dieses Knurren aus seiner Kehle, aber diesmal erschreckte es ihn nicht. »Ich werde noch ein bisschen arbeiten und später im Gymnasium vorbeischauen, mal sehen, was man dort von mir will. Wartet nicht auf mich.« Er versuchte aufzustehen, so leise wie möglich, um Hania nicht durch ein Geräusch zum Weiterreden an7uregen, aber sie war schon nach oben gegangen, denn er horte, wie sie jetzt in der Küche über ihm auf Töpfen, Tellern und dem Ofen einen wilden Marsch trommelte. Das Aufstehen klappte zuerst ganz gut, Bruno hob den Oberkörper und hielt das Gleichgewicht, ohne sich mit den Händen auf dem kalten Steinboden abstützen zu müssen - aber als er sich auf die Beine stellen wollte, schwankte er und musste sich sofort wieder hinknien. So verharrte er minutenlang, erstaunt darüber, dass er ausgerechnet heute die Fähigkeit, aufrecht zu stehen und zu gehen, verloren hatte. Er rechnete seit vielen Jahren damit, das-s es passieren würde, aber doch nicht jetzt, sondern erst viel später - in einer unendlich fernen Zukunft, die bevölkert wäre mit seinen riesigen Wandechsen, Schlangen und Urvögeln, die ihre eigenen Schwänze aßen, mit grau uniformierten Menschenarmeen, deren lange, unordentliche Züge bis zum Horizont reichten, mit Millionen nackter Männer, Frauen und Kinder, die sich nur noch auf allen vieren fortbewegen konnten. Und überall im Land brannten große und kleine Feuer, 30 und wer durch den Rauch und die um sich schlagenden Flammen etwas erkennen konnte, betete, er möge nicht wie sie von einer unsichtbaren Hand auf seine Knie und Hände gezwungen und auch in diese Feuer getrieben werden. »Herr Professor] Herr Professor! Sie müssen keine Angst haben, wlt begleiten Sic sicher durch die Stadt ?um Gymnasium! Frau Jakubowicz ist nicht so böse auf Sie, wie Sie denken, wir haben schon mit ihr über Sie gesprochen. Und uns hat sie gleich verziehen,« Hatte er das. geträumt, oder hatten seine Schüler ihm das gerade im Chor - fiepend, zirpend, glockenhell - von draußen durchs plötzlich halb offene, im Wind leise klappernde Oberlicht zugerufen? Bruno, immer noch auf dem Boden hockend, den Kopf auf die speckige, braune Sitz-f lache des Stuhls gelehnt, tat so, als hätte er nichts gehört. Er beobachtete seit Längerem, lauernd wie eine Katze, mit zusammengekniffenen Augen den Bleistift, der davongerolk war, dann schnappte er plötzlich nach ihm. »Es kommt mir so vor«, schrieb er nun wieder in sein Notizbuch, das er aufgeklappt gegen die halbgeöffnete Tischschublade drückte, »als hätten die Menschen von Drohobycz darauf gewartet, dass jemand wie der falsche Nobelpreisträger in die Stadt kommt, um ihnen noch mehr den Kopt zu verdrehen, sehr verehrter Dr. Mann« Zu lange schon leben sie ohne Kontakt zur Welt, das Pro-v i iv/ da so in macht sie ängstlich, verrückt und neugierig. Einen Tagesausflug nach Stryj planen sie Monate vorher, und bevor einer von ihnen in du Hauptstadt fährt, regell er bei Notar Reynisz seine Geschäfte. Sie müssten sie selbst einmal sehen! Sie haben fast alle schone, blasse, freundliche Gesichter, hinter denen sie entweder gar nichts verstecken - oder die Sehnsucht nach ewigen, hellen Nächten und einem Schmerz, der sonst nur m Geschichtsbüchern beschrieben wird. Ich weiß* - er zögerte, schrieb dann aber schnell weiter - »wovon ich spreche, denn ich bin nicht anders. Ich habe in Wien und Lemberg studiert, und ich kam trotzdem wieder zurück. Ich hatte eine Verlobte, deren Namen ich oft nicht mehr weiß, sie verließ mich, weil ich ihr jahrelang versprach, zu ihr nach Warschau zu ziehen, ohne es je ernsthaft zu wollen. Und als ich letzten Monat den Goldenen Lorbeer der Akademie für Literatur bekam, legte ich mich tagelang weinend ins Bett, statt mich zu freuen. Und so habe ich mich neulich auch, sehr verehrter Dr. Mann, wie jeder andere von Ihrem Doppelgänger einwickeln lassen. Letzten Samstag, als er, gezogen von Direktor Hasenmass, in seiner Droschke durch die Florianskastraße fuhr, habe ich nicht nur kurz aus dem Fenster geschaut und danach schnell weitergearbeitet. Oh nein! Ich sprang vom Schreibtisch auf, ich zog mir noch im Gehen die Kleider aus, dann rannte ich auf die Straße, und als ich die Kutsche eingeholt hatte, in der Ihr bösartiges Abbild steif und hochmütig wie ein deutscher Professor saß, ließ ich mich in vollem Lauf ebenfalls einspannen, und .so trabten wir bis zum Hotel 'Zur schwankenden Pyramide am Marktplatz. Dort angekommen, durften wir, natürlich ohne Kutsche, aber im ganzen Geschirr, den Meister ins Badezimmer des Direktors begleiten, wo er seit seiner Ankunft in Drohobycz wohnt. In diesem Badezimmer - es ist fast so groß wie die Aula des JagieHo-Gymnasiums, ich hoffe, in Ihrem neuen Haus in Zürich gibt es vergleichbare Räume - waren keine Waschbecken, keine Toilette, keine Badewanne, nur einige in die nackte Betondecke eingelassene Duschen, zwei Bänke und eine lange Stange mit Kleiderhaken. Offenbar hat der falsche Nobelpreisträger gleich bei seinem Einzug alles entfernen lassen, um mehr Platz für seine vielen Besucher zu haben. In dieser Nacht waren da: Frau Hasenmass, der Bäcker Lisowski, seine Frau und drei Söhne, Adele, fast alle meine Schüler, Herr Perelmann und Helena Jakubowicz, 3* 33 Jankel, der verstorbene Mann meiner Schwester, der Notar Reynisz und mein Freund und Kollege Czarski, der Chefredakteur des Tygodnik Ilustro-wany<, der sich in Drohohycz authielt, um mich -natürlich vergeblich - zu überreden, ein Fragment aus meinem Roman in seiner Zeitschrift zu veröffentlichen. Später kam noch ein Mann» den ich nicht kannte, ein Amerikaner, dessen halbes Gesicht von einer funkelnden Mctallmaske verdeckt war, es war der mysteriöse Mr. Katanauskas. Sie alle« - Bruno schaute auf und betrachtete, bevor er weiterschrieb, die große Zeichnung an der Wand rechts von der Tür, auf der ein halbes Dutzend nackter, kleiner, dürrer Männer vor einer |ungen Dame in hohen Schühchen und einem zerrissenen Ballkleid kniete, die gierigen, ergebenen, geilen Augen weit und verzweifelt aufgerissen, als würden sie durch die Einwirkung eines unsichtbaren Opiats langsam ersticken - »sie alle hatten sich, so wie ich und Direktor Hascnmass, völlig ausgezogen. Sie hatten ihre Kleider an die Haken gehängt, sie saßen stumm oder übertrieben leise miteinander sprechend auf den beiden Bänken und warteten. Als der Meister mit dem Direktor und mir reinkam, erhoben sie sich fast gleichzeitig, sie verdeckten mit den Händen ihre nackten Brüste und Genitalien, und auch die letzte, allerleiseste Unter- 34 halt ung brach ab. Der falsche Thomas Mann tat erst so, als sei ihm das - wenn man so will - viel zu intime und aufdringliche Verhaken seiner Gäste unangenehm. Er hob, während sie steh plötzlich wie eine langsam erwachende und vom Strand ins Wasser schiebende Schildkrötcnbrut auf Lhn zuzubewegen begannen, abwehrend die Hände, Er drehte angespannt an den Enden seines Schnurrbarts, dann zog er aus der Innentasche seines zerrissenen, schief geknöpften Tweed-Jacketts eine halb Angerauchte Zigarre und versuchte, sie anzuzünden, und das klappte erst beim dritten oder vierten Mal. >Wie geht es Ihnen, meine Freunde?«, sagte er unsicher, und der vun ihm ausgeblasene Zigarrenrauch vermischte sich mit seinem starken, fauligen Mundgeruch. >Ich bin froh, Sie noch einmal zu sehen. Ich werde leider schon morgen wieder zurück nach Zürich fahren, um meine Frau und meine Kinder zu holen. Danach nehmen wir einen Zug nach Marseille, und von dort geht es mit dem Schiff nach New York. Wir haben eine sehr hübsche Villa in Princeton in Aussicht, ich denke, ich werde sie mit den Vorschüssen für den letzten Teil der Joseph-Tetralogie in bar bezahlen können. Es tut mir sehr leid, dass ich Sie hier allein lassen muss, ich weiß, die Zeiten werden nicht besser, und die Garantien der Alliiercen sind, wie man an J7 den armen Tschechen und Slowaken sieht, nichts wert. Aber der liebe Mr. Katanauskas hat sein Versprechen gehalten, und wir dürfen endlich nach Amerika. Wie dumm wären wir, nicht zu fahren, oder?* Alle machten - wie ein Mann - einen großen Schritt auf ihn zu, dann noch einen und noch einen, sie murmelten leise »Oh weh< und >Bitte nicht«, und schon begannen sich die ersten Arme um seinen Hals und seine Arme zu schlingen. >Es ist nicht meine Schuld, glauben Sie mir«, sagte er, >bitte, hören Sie auf, das ist mir unangenehm. Aufhören 3 < Inzwischen hatte sich das Bad des Direktors Hascnmass mit metallblauen Rauchschwaden gefüllt, und man konnte kaum noch erkennen, wessen Hand gerade an den mit Gel zurückgekämmten Haaren des angeblichen Thomas Mann zog und wer versuchte, sein Hemd aufzuknöpfen. >Hören Sie sofort auf damit«, rief er wieder. Dann zog er wie aus dem Nichts die Pferdepeitsche heraus, die er bei unserem harmonischen Ritt durchs schlafende Drohobycz kein einziges Mal benutzen musste, und er begann die ihn bedrängenden Nackten mit kurzen, saftigen Schlägen abzuwehren, Ich selbst - ich stand neben dieser zuckenden, seufzenden, ständig wachsenden und in sich zusammenfallenden Menschenpyramide - bekam leider nichts ab. Er schlug Jie Man nur, dann die »8 Frauen und später sogar die Kinder, und waren am Anfang noch Spuren von Widerwillen in seinem langen, herrischen Betrügergesicht zu sehen, das immer wieder kurz in dem Zigarrendunst auftauchte, schien ihm allmählich dieses Prügeln, Schieben und Fluchen Spaß zu machen. >Ist es meine Schuld, dass ein anständiger Mann wie ich inzwischen in Europa seines Lebens nicht mehr sicher ist?!*, stieß er aus und versetzte dem weinenden Chefredakteur Perelmann mit dem Peit-schengriff einen Hieb gegen die Nase. »Ich wäre jetzt auch lieber zuhause in München und würde auf der Brienncrstraße kleinen Jungs hinterherschauen, statt in den Sümpfen Galiziens zu waten!*, schrie er, während er den Hintern der seufzenden Adele bearbeitete. Dann nahm er sich den völlig verwirrten Bäcker Lisowski vor, der das letzte Mal wahrscheinlich bei seinem Bar-Mizwa-Vortrag mehr als drei zusammenhängende Sätze gelesen hatte, und während erdessen dicken Bauch und Oberarme mit roten Peitschenstriemen überzog, rief er: »Ihr und die Banditen in Berlin seid doch schuld daran, dass alles kaputtgeht, Deutschland, Europa, die Welt. Ihr habt als Erste gesagt, dass der Mensch allein ist, und darum spielt jetzt jeder zweite Dummkopf auf dieser Erde Gott!< Ja, sehr verehrter Herr Dr. Mann, sogar Mr. Kata- 19 nauskas* - in Brunos Gesicht tauchte das gleiche starre Lächeln auf, mit dem seine Schüler manchmal ihre Drachen über dem Kn.szmarsko-Stein bruch schmückten - »wurde nicht verschont. Eben noch rief er in seinem feinen Wilna-Jiddisch, er wolle mix nach New York, ein Pogrom im Leben sei genug und er hätte als amen kamst her Honorarkonsul dieselben Rechte wie die, denen er half -schon bekam er von Ihrem Doppelgänger einen Stoß in den nackten Bauch und im Pillen einen Tritt gegen die Metallmaske. Die Maske löste sich, landete klirrend und tanzend auf dem Boden, und nun sah man, soweit das in dem hin und her wogenden Nebel ging, ein halb verbranntes Gesicht mit einer dunklen, leeren Augenhöhle darin. Dann war die arme Helena dran, und nach ihr kamen meine Schüler an die Reihe» die sich irgendwann, statt laui kreischend in Hasenmass' Badezimmer umherzuflattern, mit weit geöffneten Flügeln in einem schützenden Kreis um ihre keuchende und erschöpfte Lehrerin setzten. Doch allmählich wurden die Hiebe des Deutschen schwächer, seine Stimme auch, in der silbernen Rauchwolke formten sich für einen Moment die wabernden Konturen des traurigen Kindergesichts von Leutnant Alfred Dreyfus, aus dem französischen Offizier wurde die weinende und blutende Jagienka Lomska, dann schaute ich mich selbst aus dem Rauch schleier an, und schließlich drehte sich die Wolke, sie zog sich zusammen und stieg zur Decke auf, wo sie mit einem lauten Zischen in den Düsen der Duschen verschwand - und gab so den Bhck frei auf einen großen Haufen nackter Körper, die leblos um den vor Erschöpfung knienden, falschen Thomas Mann herumlagen, dch auch', riet ich in das große Durcheinander und trat auf ihn zu, >ich will auch!« Aber er erwiderte, während er sich mit einem vor Schmutz starrenden, verklebten Taschentuch den Schweiß vom Hals und von der Stirn wischte, freundlich; »Sie nicht, Sie werden noch gebraucht. Sie müssen Ihren Roman schreiben. Wie sollte er heißen? Der Messias, richtig? Los, an die Arbeit, und wenn Sie endlich fertig sind, kommen die Banditen aus Berlin in Ihre kleine Stadt und verbrennen Sie zusammen mit Ihrem tollen Manuskript. Tja, selbst schuld!< Er lachte- ^Herrlich, was für ein Stofft Aber wer schreibt darüber einen Roman, wenn Sie tot sind, Jude Schulz?** Vielleicht ist der Schluss ein bisschen übertrieben, dachte Bruno, während er die letzten Seiten seines Briefs an den berühmten und einflussreichen Kollegen in Zürich las. Wird er mir das glauben? Wird er sich für mich einsetzen? Wird 4C 4' er nicht denken, ich meine ihn? Plötzlich war die Angst wieder da, die ihn in den vergangenen ein, zwei Stunden verlassen hatte, und der graue, warme Klumpen drehte sich erneut in seinem Bauch, Gleichzeitig erschütterten Hanias krachende Schritte von oben die schwarze, jetzt fast unsichtbare Kellerdecke, und er fürchtete, dass sie jeden Augenblick mit ihren hohen, spitzen Absätzen den Küchenfußboden durchbrechen und seinen Kopf aufspießen könnte. Hania - die arme, unausstehliche Hania - trug neuerdings auch zuhause ihre teuren französischen Schuhe, genauso wie ihr Chiffonkleid von Lunarski & Klein aus Warschau, denn sie rechnete jeden Moment mit der Rückkehr des toten Jankel und wollte immer schön für ihn sein. Und weil sie das Kleid fast nie auszog, auch nicht beim Kochen, so wie jetzt bestimmt auch nicht, war es überall mit roten Borschtschflecken und gelben, eingetrockneten Teigspritzern bedeckt, und die herrlichen weißen Puffärmcl hatten Dutzende Brandlöcher. Hania war nicht das einzige Nervenbündel im Haus. Auch ihre beiden Söhne wurden von Woche zu Woche unruhiger - und sie verwahrlosten. Sie hatten zerrissene Hosen und Hemden und dunktlroten, fast schwarzen Schorf auf den nackten Knien, sie schnitten sich gegenseitig mit der Küchenschere die ungewaschenen Haare, schief und ungenau wie Landstreicher, und in der Schule hatte Bruno sie seit Monaten nicht mehr gesehen. Wenn die Mutter sie etwas fragte, antworteten sie entweder gar nicht, oder sie drohten ihr, sie aus dem Haus zu werfen, darum blieb sie meist stumm in ihrer Gegenwart. Ihren Onkel liefen Jacek und Chaimele aber in Ruhe. Nur manchmal, wenn er im Wohnzimmer auf Papas altem, speckigem Biedermeiercanape mit den riesigen Geierfüßen und -krallen lag und, leise die Lippen bewegend, ein Buch las oder zeichnete, unterhielten sie sich flüsternd über ihn. *Wcr soll sich um uns kümmern, wenn die Russen oder die Deutschen kommen?«, sagte vor ein paar Tagen Jacek zu Chaimele. Und Chaimele erwiderte kichernd; »Onkel Bruno, das ist doch klar. Zusammen mit den Nutten aus der Stryjstraße und seinen Warschauer Schriftstcllerfreunden wird er schon wissen, was zu tun ist.* Worauf Bruno erschrocken einen leisen Pfiff ausstieß und dem Sota einen kleinen Klaps gab, und sofort trippelte es mit ihm aus dem Wohnzimmer in die Bibliothek, damit er wieder ungestört sein konnte. Inzwischen war es in Brunos Arbeitskeller so dunkel, dass er kaum noch seine eigene Schrift lesen konnte. Das schwache, orangefarbene, phantastische Licht der Straßenlaternen, die gerade 4* ■Ii erst auf der Florianskastraße angegangen waren, verlor sich auf halbem Weg zwischen der offenen Fensterklappe und seiner Staffelei, die er seit Jahren zum Aufhängen seines Mantels und Huts benutzte, und manchmal stellte er sich vor, wie er selbst daran hing. Er stand schnell auf, zwängte sich erneut hinter den niedrigen Schreibtisch und knipste die schöne, kalte, deutsche Lampe an, deren schwarzer Metallschirm auch nach Jahren so glänzte wie polierte KavalleristenstiefeL Erst als er jetzt wieder auf Papas altem, knarrendem Kontorstuhl saß, fiel ihm auf, dass er nicht mehr wie eines der willenlosen Wesen aus seinen Tagträumen auf dem Fußboden hockte und insektengleich winzige, violette Striche, Kringel und Häkchen i n sein Notizbuch kritzelte, die am Ende vielleicht sogar einen Sinn ergaben. Die Angst war aber immer noch da, und sie flüsterte: Du musst j zur Sache kommen, weißt du, wie viele Briefe er jeden Tag bekommt? Ja, ich weiß, erwiderte Bruno, aber meinst du wirklich, ich kann ihm jetzt schreiben, was ich in Wahrheit von ihm will? Ja, warum nicht, erwiderte die Angst, ganz sicher bin ich mir aber nicht, denn ieh bin die Angst- Habe ich nicht übertrieben?, sagte Bruno, ich meine, dass sich jemand als er ausgibt, könnte zwar sein, aber dass er so brutal und überheblich ist, gera- 44 de zu denen, die ihn achten und rühmen, klingt ziemlich unwahrscheinlich, oder? Kennst du die Geschichte der Bewohner von Sichern, sagte die Angst, weißt du, wie es ihnen erging, nachdem sie Abimelech zum Herrscher der Philister gewählt hatten? Nicht genau, sagte Bruno, erzählst du sie mir? Später vielleicht, sagte die Angst, du bist noch nicht fertig. »Vorgestern, lieber Dr, Mann«, schrieb Bruno nun schnell im Schein seiner deutschen Lampe weiter, während er mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand seine plötzlich schmerzenden Schläfen zusammenpresste, »kam Dr. l'Vanck zu mir in die Schule, Sie wissen schon, das ist der ehemalige Internist, der sich nicht mehr den Gesetzen des Alltags unterordnen will;Sonst sitzt er immer .im Bahnhof und redet mit sich selbst, oder er sagt laut Gebete und Brachas auf, alles kreuz und quer durcheinander, ausgerechnet er, der Atheist und einer der ersten Zionistcn in unserer Stadt. Dr. Franck betrat, nachdem er so leise geklopft hatte, dass man es kaum hörte, den Zeichensaal und bat mich, mit ihm rauszukommen. Die Jungen wollten mich zuerst nicht gehen lassen - sie wollen nie allein gelassen werden, wissen Sic, weil sie dann immer wie Feinde übereinander herfallen. Als sie anfingen, zu betteln und mit ihren Schnäbeln an 47 meiner Jacke zu ziehen, hielt sich Dr. Franck - so klar und bestimmt habe ich ihn nicht gesehen, seit er die Praxis zugemacht hat - den ausgestreckten Zeigefinger vor den Mund und machte lange und leise: >Pstk Sofort verstummten sie und flogen zurück auf ihre Plätze, manche zeichneten weiter, und einige versteckten ihre Köpfe unter ihren Flügeln und schliefen ein,« Brunn hörte auf, seine Schläfen zu massieren, er ging mit dem Gesicht dicht an den Notizblock heran und wischte ein paar winzige graue und weiße Federn zur Seite, die sich langsam von oben aufs Papier gesenkt hatten. Sie flogen in dem Luftwirbel, der entstanden war, hinauf, statt auf den Boden zu sinken, und führten vor seiner flachen Papierdrachennase einen kleinen Tanz auf, Bruno sah ihnen lächelnd zu und pustete sie immer wieder in die Höhe, dann senkte er den Kopf und schrieb: "Kaum hatten Dr. Franck und ich die Klassentür hinter uns zugemacht, begann er aufgeregt auf mich einzureden. Es ging um Ihren Doppelgänger, Dr. Mann. Natürlich hatte er nach seinem nächtlichen Auftritt im Badezimmer von Direktor Hasenmass Drohobycz nicht verlassen. Kr hat ja noch nie gemacht, was er gesagt hat. Er erklärte, seine Frau sei in Zürich krank geworden, außerdem müsse er auf den Rest seiner Bibliothek warten, die seit Wochen beim Zoll an der Grenze bei Basel in einem Reichsbahn-Waggon feststecke, deshalb wolle er die gewonnene Zeit nutzen, um länger in unserer Stadt zu bleiben und vor der großen Amerikareise in Ruhe zu arbeiten. Zwei Tage später hielt er in der Apotheke am Marktplatz eine Lesung - er stand auf dem Verkaufspult, und WLr hatten es uns, gegen den Protest des Apothekers Hulciner, in den vielen kleinen Schubladen und Fächern bequem gemacht. Angeblich waren es die ersten Seiten der Fortsetzung seines Romans über den Hochstapler Felix Krull, aber das kann jeder sagen. Es klang zwar nicht schlecht, was er las - Krull beschließt, zum Zirkus zu gehen, lernt eine reiche, schöne Engländerin kennen, die er nicht liebt und so weiter -, doch die Sätze waren gewöhnlich und aufgeblasen. Spätestens an diesem Abend wurde mir klar, dass er nicht Sie, dass er nicht der echte Thomas Mann sein kann, auch weil er in einem blutroten persischen Chalat auftrat, der nur lose mit einer abgerissenen Gardinenkordel zusammengebunden war und den Blick auf seine nackte Brust und eine kleine, wild zuckende Schlange zwischen seinen Beinen freigab. Und nun stand auch noch Dr. Franck im Flur des Jagietto-Gymnasiums vor mir und erzählte mir mit festem Blick, aber bebenden 49 Lippen, was er ein paar Stunden vorher gesehen und gehört hatte. An diesem Morgen hatte der angebliche Thomas Mann - das sonst so glatt gekämmte Haar zerzaust, Rouge auf den Wangen, den dünnen Schnurrbart abrasiert und mit Schuhcreme wieder aufgemalt - in der Bahnhofscafeie-ria in der Nische direkt neben ihm gesessen und sich leise mit jemandem, den Dr. Franck nicht kannte, auf Deutsch unterhalten. Der andere hatte eine hohe, kieksende, sympathische Stimme* -Bruno hörte auf zu schreiben, schloss die Augen und dachte an einen deutschen Filmschauspieler, dessen unehrliche, auftrumpfende Max-und-Mo-ritz-Miene die Zuschauer im Drohobyczer Palastkino jedesmal mit lauten Pfiffen kommentierten -»und er hatte das liebe und vertraute Gesicht eines Nachbarn, dem man vor einer Reise die Schlüssel zur eigenen Wohnung anvertrauen würde. Sie redeten so leise miteinander, dass Dr. Franck zuerst nicht verstand, worum es ging. Es fiel ein paarmal das Wort »Bewegung«, auch der Name des sowjetischen Außenministers Molotow kam in ihrer Unterhaltung vor. Dann begann der falsche Thomas Mann etwas lauter und aufgeregter dem anderen, der einen langen schwarzen, glänzenden und laut knisternden Ledermantel trug, den er auch in der Cafeteria nicht auszog, die Nachnamen der jüdi- schen Bewohner von Drohobycz aufzuzählen. Sie lachten immer wieder - vor allem bei Namen, die auf Deutsch eine Bedeutung haben: Gottesdiener, Katzenellenbogen, Wahrhaftig, I lasenmass -, und schließlich sagte der andere, er könne nicht mehr, das sei wirklich zu witzig, und er bat den falschen Thomas Mann, ihm lieber schriftlich eine Liste aller Juden der Stadt zu machen, mit ihren Adressen, einer kurzen Einschätzung ihrer körperlichen Kräfte und finanziellen Verhältnisse. Irgendwann« - wieder senkten sich kleine graue und weiße Federn auf Brunos Notizblock, er spürte über sich einen nicht unangenehmen, warmkalten Windhauch und hörte das leise Trippeln von Vogelfüßchen, die von allen Seiten näher kamen -»irgendwann schloss Dr. Franck, dem das Gespräch der beiden immer unheimlicher wurde, die Augen, und er begann, erneut sein Schacharit-Gebet aufzusagen, schon zum achten oder zehnten Mal an diesem Morgen. Aber dann siegte die Neugier, und er guckte an der Holzwand vorbei, die die Tische trennte, zu den beiden Deutschen herüber. Natürlich traf sein Blick sofort auf den Blick des Mannes im Ledermantel. Der nickte, ohne überrascht zu sein, Dr. Franck zu, deutete wie ein Kommissar auf einem Rote-Armee-Plakat mit dem Zeigefinger auf ihn und sagte: >Ich mag eure Gebete, und besonders schön ist das Schma Israel. Es wird etwas fehlen, wenn es niemanden mehr gibt, der es aufsagen kann.' Verstehen Sie jetzt, Dr. Mann, warum ich Ihnen schreibe?« Bruno sprang aufgeregt auf, er ging einmal, zweimal, dreimal um den Tisch herum, und als er sich wieder setzte, hockten auf der Lampe zwei kleine Tauben, eine weiße und eine graue, und sahen ihn stumm an, und oben auf dem Fensterbrett saßen noch mehr Tauben und neben seinem Stuhl auch, aber er achtete nicht auf die plötzliche Vogelplage in seinem Keller, »Es gibt«, schrieb er, immer wieder innehaltend, weiter, »für Dr. Franck und mich keinen Zweifel mehr, Dr. Mann, was hier geschieht: Wir sollen ausspioniert werden! Was genau die Deutschen vorhaben, wissen wir nicht. Wir wissen nur, wie es den Juden in Ihrer alten Heimat geht, und hoffen, dass das neue Nazireich nicht immer weiter wachst und eines Tages mit seinen Krakenarmen auch unsere Stadt erreicht, Dr. Franck, der früher als Präsident von Poalci Zion am liebsten ganz Drohobyez ans Ufer des Jordan oder in die Berge von Galiläa versetzt hätte, sagt inzwischen, uns bliebe, wenn die Feinde Judas zu rasen anfingen, sowieso nur noch das Gebet, Und er meint, wir sollten uns weiter mit Ihrem Doppelgänger gut 52 stellen, vielleicht wird uns das später helfen. Darum hat er ihm auch, bevor er die Bahnhofscafeteria verließ, für den Rest seines Aufenthalts in Drohobyez seine Wohnung angeboten, weil es dort viel heller und gemütlicher sei als im Bad des Holeldirektors, Nachdem wir-während im Zeichensaal schon wieder das Geschrei losging — noch kurz schweigend beieinander gestanden hatten, ergriff er plötzlich meinen Arm und fragte mich, ob er, bis das Schlimmste vorbei sei, bei uns wohnen könne. Was sollte ich ihm darauf antworten? Dass Hania Gäste hasst? Dass die Stimmung auf seiner kahlen Bahnhofsbank immer noch besser ist als in diesem kalten, traurigen Haus? Dass wir sowieso alle verloren sind und Gott für jeden von uns ein anderes Ende vorhergesehen hat?« Kaum hatte Bruno den letzten Satz geschrieben, wurde der warme, graue Klumpen in seinem Bauch so heiß, dass er sein schweres Tweedjackett ausziehen und den Kragen seines Hemds aufknöpfen musste. Er hängte das Jackett über die Lehne von Papas Stuhl und sah eine Weile stumm die beiden Tauben aut seinem Tisch an, die, ohne sich zu rühren, genauso stumm zurückschauren. Dann machte er vorsichtig das untere Fach des Schreibtischs auf und nahm eine große, alte Zi- 53 garrenkiste heraus. In dieser Kiste bewahrte er die Dinge auf, die ihm wirklieh wichtig waren: Das winzige, stark abgegriffene Messing-Hörrohr, das Papa in seinen letzten Monaten immer wieder gegen den Fußboden ihres alten Hauses am Marktplatz gehalten hatte, um besser zu hören, was ihm die darunter wohnenden Mäuse, Spinnen und Marder zu sagen hatten, Adeles Staubwedel, an den er gute und schlechte Erinnerungen knüpfte. Und - überall in der Kiste verteilt- die übel riechenden Sägespäne, die er in den vergangenen Jahren heimlich aus den stinkenden, struppigen Haaren von Helena Jakubowicz geklaubt hatte. Er fuhr wie jemand, der nach Gold schürft, mit den Fingern durch diesen feuchten, gelben Haufen, er dachte an die schönen, gefährlichen Sachen, die Helena Jakubowicz für sie beide in einem der ständig umziehenden, schlecht beleuchteten Läden hinter dem Marktplatz besorgen wollte — und schon beruhigte er sich wieder und hörte auf zu schwitzen. »Herr Professor Schulz«, sagte die graue Taube mit der festen, aber noch leicht pubertierenden Stimme des jungen Theo Rosenstock zu ihm und starrte ihn aus kleinen schwarzen Augen wie blind an, »Frau Jakubowicz schickt uns noch mal. Sie sagt, Sic sollen sich beeilen. Sic hat nicht mehr viel Zeh, weil sie nachher in der Savoy-Bar mit dem Herrn aus Deutschland verabredet ist, und unsere Philosophiearbeiten muss sie auch noch bis morgen korrigieren.* *Ich werde bestimmt eine Fins kriegen«, sagte die weiße Luibe kichernd. Bruno erkannte die mädchenhatte Stimme von Hermann, dem mittleren Sohn des Bäckers Lisowski, wieder, der so dumm wie lieb war, und er wünschte ihm .sehr, dass er recht hatte. »Nein, das wirst du nicht*, sagte die graue Taube. »Hegels Phänomenologie des Geistes! Was verstehst du davon?* »Nichts*, sagte die weiße Taube. »Aber ich habe in der großen Pause nach der Arbeit Frau Jaku-bowiez geholfen, die vielen Fliegen und Käfer aus ihren Haaren zu entfernen. Ach, und wie gut die geschmeckt haben!« »Hermann, du bist so ein süßer, kleiner Dummkopf«, sagte die graue Taube. Sie drehte den Kopf ein paarmal ruckartig hin und her und zupfte mit ihrem makellosen Schnabel an ihrem zerzausten Brustgefieder, Die weiße Taube machte es ihr nach, dann lachten beide, die graue Taube öffnete die Flügel, stieg schnell auf, machte in der Luft über dem Tisch zwei, drei Purzelbäume und setzte sich wieder neben die andere auf den schwarzen, glänzenden Schirm von Brunos Lampe, »Und ich bekomme eine Eins in Sport*, sagte sie. «Stimmt s, Herr Professor Ali er in Kunst nur eine Vier, oder?* Bruno nickte, er schloss behutsam die Zigarrenkiste und stellte sie auf den Tisch. Dann legte er den Bleistift ins Notizbuch, er klappte es zu und sagte mit der unbeteiligten Stimme eines Menschen, der im Schlaf spricht: »Was will Frau Jaku-bowiez von mir, Theo? Warum soll ich noch heute Abend so spät in die Schule kommen? Ich habe mich krankgemeldet,« »Sie sollen sich Ihre Strafe abholen, Herr Professor«, sagte die weiße Taube. »Sei still!«, unterbrach sie die graue Taube. »Ich dachte, Frau Jakubüwicz ist nicht mehr böse auf mich. I labt ihr mich vorhin angelogen, Jungs?« Theo und Hermann schwiegen, und die anderen Tauben, die sich auf dem Fenstersims und auf dem Boden versammelt hatten, hörten jäh auf, hin und her zu tänzeln, und schauten still und angespannt in ihre Richtung, *Einc Strafe?*, sagte Bruno. »Was für eine Strafe? Wofür?« »Los, Theo«, sagte die weiße Taube, »sag's ihm. Sonst sag ich es ihm, aber dann bringe ich wie im- mer alles durcheinander. Und danach ist die Frau Lehrerin böse auf mich und Herr Professor Schulz auch.« Theo segelte von der Lampe auf den Tisch herunter, er sprang auf Brunos 1 land und lief über den verschwitzten Ärmel seines Hemds auf seine Schulter. "Sie müssen aber mit Ihrem Ohr ganz nah herkommen, Herr Professor«, sagte er, »ich möchte es Ihnen lieber leise sagen,* Bruno tat, was der Schüler von ihm verlangte, und dann hörte er auch schon tief in seinem Ge-hürgang ein wildes Zischen und Pfeifen, »Sie sagt«, flüsterte Theo und berührte dabei immer wieder mit seinem kleinen, knochigen Schnabel zart Brunos Ohrmuschel, »dass Sie uns alle mit Ihrer Traurigkeit anstecken. Sie meint, Sic seien der ängstlichste Mensch, den sie getroffen habe, und dass Sie uns deshalb wahrscheinlich die schönsten Bücher, die je ein Mensch schreiben könnte, vorenthalten werden. Ihre Schwarzseherei sei wirklich unerträglich, Sie seien ein böser, böser-* In dieser Sekunde trommelte jemand laut gegen die Kellertür, Die Tauben - auch Theo - flogen erschrocken hoch, und einige schlugen mit den Köpfen an die Kellerdecke. Sie flatterten alle wie verrückt mit ihren Flügeln, und der Raum füllte sich sofort mit einer Wolke winziger grauer, wei- ßer und brauner Federn und einem unerträglichen Vogelkäfiggeruch. »■Mama will wissen, üb du zum Essen kommst oder nicht, Onkel Bruno«, riefen von draußen Chaimelc und Jaeek wie mit einer Stimme. »Oder musst du heute noch in die Stryjstraßer* Sie lachten - ihr Lachen klang wie eine schnell hcran-rollende Welle, die mehrmals laut brach dann liefen sie, ohne Brunos Antwort abzuwarten, polternd wieder nach oben, und Sekunden später hörte Bruno, wie in der Küche über ihm Stühle hin und her gerückt und Messer und Gabeln gegen Mamas altes russisches Porzellangeschirr geschlagen wurden. »Seid still, Kinder«, sagte Bruno leise zu den Tauben, -und stört mich bitte nicht. Setzt euch irgendwo in Ruhe hin und denkt an etwas Schönes - vielleit ht daran, was ihr euch zu Chanukka oder zum Geburtstag wünschen könntet. Ich muss noch schnell einen Brief zu Ende schreiben, den ich später auf dem Weg zur Schule einwerfen werde. Ja, so ist es lieb, danke.« Die Vögel beruhigten sich sofort, die meisten setzten sich ans lange, schmale, nachtschwarze Fenster und versteckten brav die kleinen, wohl-geformten Köpfe unter ihren Flügeln. Einige flatterten durchs offene Oberlicht in die Dunkelheit hinaus, und Theo und Hermann machten es sich, Schnabel an Schnabel, Wange an Wange, auf Brunos Zigarrenkiste bequem. »Dass der falsche Thomas Mann ein Agent der Geheimen Staatspolizei sein muss, ist jetzt sicher«, schrieb Bruno, nachdem er das Notizbuch erneut aufgeklappt, es akkurat auf den Tisch gelegt und sich mit gekrümmtem Katzenrücken darüberge-beugt hatte, »und ich vermute, er wird unsere Stadt erst dann verlassen, wenn wir alle den Verstand verloren haben. Es ist wirklich sehr unangenehm, dass die Nazi Ihren guten Namen benutzen, sehr verehrter Dr. Mann, und weil Sie als Stimme des anderen Deutsehlands auf Ihren Ruf achten müssen, wollte ich Sie warnen -■ Hier stoppte Bruno plötzlich. It strich die letzten beiden Sätze durch und fing noch einmal von vorn an: »Ist es nicht schrecklich, dass die Nazi Ihren guten Namen missbrauchen, für Sie, Dr, Mann, aber auch für mich? Vielleicht wundern Sie sich, warum ich Ihnen auf E)eutsch schreibe - ich spreche es übrigens auch, aber mit starkem podolischem Einschlag, an dem man Leider viel zu schnell meine Herkunft erkennt -, und natürlich hat meine Liebe zur deutschen Sprache mit Ihnen zu tun, genauso wie mit den Gedichten und den Büchern Rilkes, Joseph Roths und Franz Kafkas, dessen schönen, 60 6i rätselhaften Roman ^Der Prozess* ich mit meiner ehemaligen und von mir längst vergessenen Verlobten ins Polnische übersetzt habe. Ich habe - fast keiner von meinen polnischen Schriftsiellerfreun-den weiß das, auch Gombrowicz nicht - während des Kriegs viele Monate in Wien verbracht, wo ich ohne Interesse Architektur studiert und lieber in den großen Bibliotheken gesessen und gelesen habe. Die biegsamen Regeln der Mischna, die fast beschwingte Schwermut des Predigers, die sanfte Klarheit des Schulchan Aruch? Nein, das war nie etwas für mich. Ich sehne mich eher mit Malte Launds Briggc und Gustav von Aschenbach nach einem Knde, das uns alle ohnehin erwartet, dessen Schönheit und Zeitpunkt wir aber selbst bestimmen sollten - weil Gott zwar einen Plan für uns hat, ihn jedoch immer erst in allerletzter Sekunde macht. Und darum bin ich auch so wütend auf Ihren Doppelgänger und seine Vorgesetzten in Berlin, die ihn zu uns geschickt haben. Diese Leute tun so, als wüssten sie, was morgen sein wird. Was für eine ruchlose Anmaßung!« Bei diesem Satz begann Bruno noch mehr zu schwitzen. Er riss sein Hemd auf, die Knöpfe flogen über den Tisch wie Geschosse, und Theo und Hermann wichen ihnen flügelschlagend aus und setzten sich wieder auf die Zigarrenkiste, die in- zwischen mit ihren weißen Exkrementen bedeckt war. Bruno trennte die Seiten, die er in den letzten Stunden vollgeschrieben hatte, vorsichtig aus dem Notizbuch, er nahm aus der Schublade von Papas Schreibtisch ein Manuskript und einen Umschlag heraus, auf dem schon eine Adresse in Zürich stand und eine Briefmarke klebte, und steckte das Manuskript hinein. Er überflog den Brief, dabei nickte er mehrmals zufrieden und lächelte und streichelte seine Wangen, und dann fügte er noch ein paar letzte Sätze hinzu. Er wünschte Thomas Mann viel Erfolg mit dem letzten Band der Josephgeschichte und bat ihn, seine Erzählung "Die Heimkehr« zu lesen, die erste, die er auf Deutsch geschrieben habe und die er sich bei dieser Gelegenheit erlaube, ihm zu schicken, »Seit vielen Jahren wünsche ich mir, lieber Dr. Mann*, schloss er, »dass meine Bücher auch in anderen Länder]! erscheinen, und vielleicht gefällt Ihnen meine Geschichte und Sie haben eine Möglichkeit, mir zu helfen. Polnisch ist eine schöne, aber auch sehr exklusive Sprache, an der man wie an einem einzelnen Mcloncnkern ersticken kann, wenn man nicht aufpasst. Ich weiß, was Sie jetzt denken! Nein, ich glaube nicht, dass es Sinn hat, darauf zu warten, bis Ihrem Doppelgänger noch mehr Deutsche in unsere Gegend folgen werden. 62 Hoffentlich kommen sie gar nicht erst, und wenn doch, dann werden sie bestimmt keine Freunde der Literatur sein. Danke, sehr verehrter Dr. Mann, dass Sie sich die Zeit genommen haben, meinen Brief zu lesen, obwohl Sic bestimmt gerade Wichtigeres zu tun haben. Sie wissen gar nicht, wie vk-1 mir Ihre Aufmerksamkeit bedeutet. Hochachtungsvoll, Ihr sehr trauriger und sehr ergebener Bruno Schulz.« Bruno steckte den Brief ins Couvert und klebte es zu. Er stand auf, ging zu dem kleinen Spiegel mit dem abgeblätterten weißen Rahmen, der neben der Tür hing, er betrachtete eine Weile sein hübsches, kluges, dreieckiges Gesicht, das ihm plötzlich so grau vorkam wie altes Zeitung.spa-pier, er tippte zwei, drei Mal gegen die Spitzen seiner großen Segelohren und lächelte sich selbst zu„ und dann begann er - weil die Hitze in seinem Bauch inzwischen unerträglich war - langsam seine letzten Kleidungsstücke auszuziehen. Als er ganz nackt war, verscheuchte er wieder Theo und Hermann von der verdreckten Zigarrenkiste und schob sie kopfschüttelnd zurück in das untere Fach des Schreibtischs. Dann nahm er das Couvert vom Tisch und sagte zu den beiden, die sich schon vor die Tür gesetzt hatten: »Kommt, Kinder, Frau Jakubowicz wartet auf uns!« Er schob sich den di- Ca cken Briefumschlag zwischen die Zähne, knurrte ungeduldig iösehte die Lampe und fiel auf die Knie. Nachdem er die Tür aufgeschlossen haue, kroch er, so leise wie möglich, auf allen vieren ins Erdgeschoss und dann - vorbei an Hamas Wohnung« iü>, hinter der gerade sehr laut gestritten und mit Möbeln und Geschirr geworfen wurde - auf die Florianskastraße hinaus, wo nur eine einzige Laterne brannte. Die anderen Laternen erloschen gerade wieder mit einem kraftlosen Flackern, Theo und Hermann und die anderen Tauben tippelten und schwirrten die ganze Zeit folgsam hinter Bruno her, und einige Vögel warteten bereits auf dem eisigen Bürgersteig und in den schwarzen Bäumen vor dem Haus auf ihn. Als er jetzt langsam in Richtung Schule aufbrach - er musste bis zur Pitsudskistraße kriechen und kurz vor dem Stadtpark abbiegen, um über die Alte Veteranenallee zum großen, dunklen Gebäude des Jagielto-Gymnasiums zu gelangen -, erhoben sich alle Tauben gleichzeitig in die viel zu warme Wmterluft und umkreisten ihn, halb Mensch, halb Tier, in großen und kleinen Ellipsen in der silbernen Dunkelheit. Das leise, san fte Schla gen ihrer weit geöffneten Flügel beruhigte Bruno, und er stellte sich vur, wie er ihnen in das weit verzweigte, bestirnte ! [immcl.siirmament folgte* *7 Doch nach einigen Hundert Metern erblickte Bruno plötzlich einen großen, roten Feuerschein über der nächtlichen Stadt, er hörte Motorengeräusche und laute Befehle, und wenn er nach links oder rechts schaute, sah er immer wieder am Ende einer Gas.se ein riesiges, schwarzes, prähistori sches Insekt vorbeirennen, dessen Füße wie Pan-zerketten klirrten. Was ist das?, dachte er. Keine Antwort. Was ist das?! Das ist die Armee von Abimelech, sagte schließlich die Angst, sie ist gekommen, um all die zu vernichten, die ihn zuerst zum König machten und sich später daran erinnerten, dass er siebzig ihrer Brüder ermordet hatte. Ach so, sagte Bruno, natürlich, und er war sehr froh, dass die Angst endlich wieder mit ihm redete. Dann kroch er weiter und dachte: Ich will, dass Helena mir gleich am Anfang die schwarze Colombina-Augenmaske aufsetzt und mir mit den Osterpeiischen die Arme auf dem Rücken zusammenbindet, der Rest ist ihre Sache. Er war, obwohl seit fast einer Stunde unterwegs, gerade erst beim Portikus des Stadtparks angekommen, er atmete schwer, seine Knie waren wund und blutig, und die Tauben im Himmel über Drohobycz flogen eine nach der anderen in den roten Feuerschein hinein, wo sie wie Zunder verbrannten. 6S 69 Mit -.LVľ, A i i.''li U ii^í.11 vili Hr M ne vliulv M í. 2. Auflage mi] O Verlag Kk-ponhcuc**t Wiisth, K.iln Alte RuľIi!? vorbehalten. Kein TriMcí Werkt* dir f in iiyciulriner Form {durch ľ'nin^rafií, .Mikrchlm oder n ander« Verfahren) tíhne xthrifdithe {leruhmiguna; J Verlage* reproduj.ierr, oder Yruer Verwendunj Ľlľkir«íiÍM.hiT Sviicirn- vfrarbriií l, vervidljliigr. oder verbreitet weiden. ĽrnjcliliRjrr staining: IKvilcei Iwhöniufr, Herl in UmSihUgflXiiTiv! O flru no Schub AuEürcfifoto: ©Vaneit* Fumum Grst'tit lui der Stempel Gaianumd üitiiWS, Berlin Druck und Bindung: C.Vl hciciks CimhM, Leck ISBN 97>-}*4