JÖRN RUŠEN Zeit und Sinn Strategien historischen Denkens Zw diesem Buch Jörn Rüsen ist der »theoretische Kopf« der sozialgcschicht-lich orientierten Geschichtswissenschaft und genießt als Geschichtstheoretiker weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus internationales Ansehen. Die hier versammelten Aufsätze informieren nicht nur über die zentralen Fragestellungen der modernen Geschichtswissenschaft, sondern geben ihnen eine neue und weiterführende Wendung. Die Themen des Bandes reichen von der kritischen Erörterung des Emanzipa-tionskon/.epts über die Analyse der Wahrheitskriterien der historischen Erkenntnis und der fundamentalen Formen historischer Sinnbildung bis zu der Frage nach postmodernen Gesichtspunkten der Geschichtsschreibung. Rüsen argumentiert quer zu den Fronten zwischen den Anhängern einer erzählenden und den Verfechtern einer analysierenden Geschichtsschreibung, zwischen Objektivitätsanspruch und Praxisbezug der historischen Erkenntnis. Der Autor Jörn Rüsen ist Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen zur Theorie, Methodologie und Geschichte der Geschichtswissenschaft sind hervorzuheben: Für eine erneuerte Historik (1976), Ästhetik und Geschichte (1976), Historische Vernunft (1983), Rekonstruktion der Vergangenheit (1986), Lebendige Geschichte (1989). Er ist Mitherausgeber des Handbuch der Geschichtsdidaktik (3. Auflage 1985) und der Bände Von der Aufklärung zum Historismus (1984) und Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive (1988). ms (3 V HBLIOl Kl Fischer Taschenbuch Verlag Inhalt Vorwort............................ 9 Einleitung........................... n I. Geschichte als Aufklärung? Oder: Das Dilemma des historischen Denkens zwischen Herrschaft und Emanzipation........... 21 II. Grundlagenreflexion und Paradigmenwechsel in der westdeutschen Geschichtswissenschaft........ 50 III. Geschichte und Norm - Wahrheitskriterien der historischen Erkenntnis....... 77 IV. Wie kann man Geschichte vernünftig schreiben? Über das Verhältnis von Narrativität und Theoriegebrauch in der Geschichtswissenschaft.......106 V. Geschichtsschreibung als Theorieproblem der Geschichtswissenschaft. Skizze zum historischen Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion ................135 VI. Die vier Typen des historischen Erzählens..........153 VII. Historische Aufklärung im Angesicht der Post-Moderne: Geschichte im Zeitalter der >neuen Unübersichtlichkeit ...231 Anmerkungen.........................252 IV. Wie kann man Geschichte vernünftig schreiben? Über das Verhältnis von Narrativität und Theoriegebrauch in der Geschichtswissenschaft *Wir sind auf dem Standpunkt, immer uns zu bestreben und noch zu suchen, wie die Geschichte geschrieben werden soll.. HEGEI.I» Wenn >Vernunft< das bezeichnet, was Aussagen wahrheitsfähig macht, dann sind diejenigen Geschichten vernünftig, denen man zustimmen kann. Man stimmt Geschichten zu, wenn sie praxisentsprungene Bedürfnisse nach Orientierung in der Zeit befriedigen. Zugleich stimmt man Geschichten auch zu (und müßte sie >vernünftig< nennen), wenn sie wissenschaftlich verfaßt sind; denn als wissenschaftlich verfaßte erheben sie einen Wahrheitsanspruch, dem man zustimmen muß, wenn man für sein eigenes historisches Denken die Notwendigkeit des argumentierenden Begründens eingesehen hat. Beide Vernunftbestimmungen sind nicht ohne weiteres zur Deckung zu bringen. Im ersten Fall bringe ich mich selbst, mein Bedürfnis nach historischer Identität und Orientierung, ins Spiel; im anderen Fall sehe ich zunächst von meinen Bedürfnissen ab und ordne meine Er-J Wartungen an Geschichten deren Sachlichkeit unter. Im Konfliktfalle muß ich entweder meine Erwartungen als unvernünftig ansehen oder ihnen andere Vernunftmöglichkeiten zubilligen als denjenigen, die ich in der wissenschaftlichen Geschichte realisiert finde. Ein solcher Konfliktfall scheint fast unvermeidlich; denn wenn ich meine subjektiven Bedürfnisse als Bezugsgröße für die Vergegenwärtigung von Vergangenheit durch Geschichten wähle, dann unterscheide ich mich von den vielen, die andere Bedürfnisse als ich haben und daher andere Geschichten brauchen, während eine wissenschaftlich verfaßte Geschichte für uns alle gelten soll. Dieser Konflikt ließe sich leicht lösen, wenn Sinngehalt und Sachgehalt von Geschichten entweder völlig auseinandergehalten oder restlos ineinsgesetzt werden könnten. Sind sie verschieden, dann hat der wissenschaftliche Charakter der Geschichtsschreibung mit historischer Orientierung und Identitätsbildung nichts zu tun (und umgekehrt); sind sie gleich, ist eine Geschichtsschreibung in dem Maße wissen- 106 ^haftlich, in dem sie historische Orientierung und Identität allgemein vefbind!ich entwerfen kann. In beiden Fällen ist die Möglichkeit, Gerichte vernünftig zu schreiben, problematisch: Kann ich eine Gerichte noch vernünftig nennen, deren Sachgehalt ich akzeptiere, 0|,nc daß ich sie als Aussage über meine historische Identität anerken-nen muß, und ist eine Geschichte schon dadurch vernünftig, daß ihr «ricliRt-'halt den Absichten meiner historischen Selbstverständigung spricht?- kommt also darauf an, beide Vernunftmöglichkeiten von Geschichten so zu realisieren, daß sie sich weder gegenseitig einschränken oder negieren, noch einfach ineinsfallen, sondern sich gegenseitig hervorrufen und steigern. Dazu aber ist es erforderlich, die Vernunftkriterien Jer Geschichtsschreibung genauer zu explizieren und im Hinblick auf die unterschiedlichen Ebenen ihrer Anwendung zu spezifizieren. Als ein ausgezeichneter Gesichtspunkt für eine solche Explikation und Spezifikation bietet sich das Problem der Theoriefähigkeit der ihistorischen Erkenntnis an. Denn im Für und Wider um die Theoreti-sierbarkeit von Geschichte geht es primär darum, die Eigenart der Geschichtswissenschaft als wissenschaftliches Unternehmen und zugleich als Medium der Handlungsorientierung und Selbstverständigung eines Handlungssubjektes zu bestimmen, und da das Theorieproblem alle Ebenen des historischen Denkens berührt, können mit ihm auch die einzelnen geistigen Operationen genauer spezifiziert werden, die die Vernunftchancen des historischen Denkens festlegen. i. Über Theorien als Vernunftpotential des historischen Denkens Ist das Vernunftpotential der Geschichtswissenschaft davon abhängig, ob und wie sie mit Theorien arbeitet? Diese Frage ist seit langem umstritten.139 In der Entwicklung des historischen Denkens ist immer wieder der Versuch unternommen worden, die Historie theoriefähig zu machen und sie dadurch in den Rang einer Wissenschaft zu erheben. Ihr wurde die Leistung abverlangt, allgemeine Regeln des zeitlichen Ablaufs menschlicher Handlungen aufzustellen, mit ihnen reale Handlungsabläufe der Vergangenheit erklärend zu interpretieren und dadurch die Zukunftsperspektive gegenwärtigen Handelns allgemein verbindlich festzulegen. Dagegen wurde immer wieder eingewandt, daß das historische Denken durch eine solche Thcoretisierung sein Objekt verliere. Geschichte als Sachverhalt lasse sich grundsätzlich nicht in Form allgemeiner Regeln zeitlicher Veränderungen begreifen und schon gar nicht könnten aus ihr Zukunftsprognosen oder -erwar. tungen abgeleitet werden, die sich in Handlungsanweisungen ummün-zen ließen. Sie müßten vielmehr unter Bedeutungsgesichtspunkten interpretiert werden, die die Individualität vergangener zeitlicher Handlungsverknüpfungen zu verstehbaren Sinngebilden hervorhöben. Geschichte zu schreiben sei zugleich eine sinnstiftende künstlerische Angelegenheit, die von nichtwissenschaftsfähigen ästhetischen Regeln bestimmt werde, und auch eine Angelegenheit der wissenschaftlichen Erforschung der menschlichen Vergangenheit. Sosehr die Historiker als Forscher streng sachlich verfahren müßten, ebensosehr müßten sie als Geschichtsschreiber über schöpferische Qualitäten ver-] fügen, die ihre Aufgabe derjenigen des Künstlers annäherten.140 Dieses Problem ist nie auf einer bloß metatheoretischen Ebene behandelt worden. So sehr die philosophische Betrachtung der historischen Erkenntnis und ihres Gegenstandes sich gegenüber der Alltagspraxis der Historiker als eigener Diskussionszusammenhang darstellen mag und sowenig die Historiker hier ihr eigenes Tun als Wissenschaftler und auch als Geschichtsschreiber wiederfinden mögen, - sie haben solche Diskussionen durch ihre eigene Praxis immer wieder (positiv oder negativ) angeregt, und sie haben sich ihrer auch oft genug zur Klärung ihrer eigenen Angelegenheiten bedient. So hat z.B. das vom Neukantianismus philosophisch ausgearbeitete Individualitätstheorem dazu gedient, die Geschichtswissenschaft in der Spätphase des Historismus vom Anpassungsdruck an das Vorbild nomologischer Wissenschaften zu entlasten, und es ist nicht ohne tiefgreifenden Einfluß darauf geblieben, wie Geschichte erforscht, dargestellt und in Form von Bildungswissen praktisch in Anspruch genommen wurde. Eine ähnliche Rückwirkung auf die Geschichtswissenschaft läßt sich von der Theorie der narrativen Struktur der historischen Erkenntnis erwarten, die in der gegenwärtigen wissenschaftstheoretischen und transzendentalphilosophischen Geschichtsphilosophie ausgearbeitet worden ist.141 Erst recht ist die marxistische Konzeption von Geschichtswissenschaft, in der am konkreten historischen Material eine innere Gesetzmäßigkeit des zeitlichen Wandels von Gesellschaftsformationen erforscht werden soll, mit ihrer eigentümlichen Methode, Darstellungsweise und praktischen Funktion ohne eine allgemeine, die Grenzen der historischen Fachdisziplinen von vornherein überschreitende theoretische Grundlegung undenkbar.142 108 ^||c Versuche, das Vernunftpotential des historischen Denkens durch seine Theoretisierung zu steigern, führen unausweichlich zu der prage, welche Theorieform die historische Erkenntnis annehmen ,nuß. um einerseits geschichtsadäquat und andererseits wissenschafts-jdiquftt zu sein. Geschichtsadäquat ist sie, wenn sie die ZeitspezJfik ergangener Veränderungen der menschlichen Welt zum Ausdruck bringt; wissenschaftsadäquat ist sie, wenn sie die Rationalität zum Ausdruck bringt, die Aussagen über Sachverhalte allgemeingültig macht. Die Zeitspezifik vergangener Veränderungen der menschlichen \$felt wird dann zum Ausdruck gebracht, wenn die Zeitfolge vergangener Geschehnisse in einen übergreifenden zeitlichen Zusammenhang mit gegenwärtigen Lebensverhältnissen und ihren Zukunftsperspektiven gebracht wird, der als kulturelle Orientierungsgröße der Lebenspraxis verwendet werden kann. Die wissenschaftsspezifische Rationalität menschlicher Erkenntnis wird dann zum Ausdruck gebracht, wenn solche Bestimmungen vergangener Geschehnisse durch die Art ihrer Begründung jederzeit nachgeprüft und verbessert werden können. problematisch ist die Theorieform der historischen Erkenntnis, weil ihre Geschichtsadäquatheit nicht ohne weiteres mit ihrer Wissen-schaftsadäquatheit vereinbar ist. Erstere verlangt eine Beurteilung des Bedeutungsgehalts zeitlicher Handlungszusammenhänge nach Sinnkriterien; letztere verlangt ein Verfahren der Urteilsbildung, durch das historische Aussagen intersubjektiv verbindlich auf ihren Tatsachengehalt hin festgelegt werden. Beides ist deshalb nicht ohne weiteres vereinbar, weil der Bedeutungsgehalt und der Tatsachengehalt historischer Aussagen nicht ineinander überführt werden können. Der Werturteilsstreit im Bereich der historischen Wissenschaften lebt von dieser Divergenz.143 Die Kontrahenten betonen entweder die Notwendigkeit, die menschliche Vergangenheit nur dann in Form von Geschichten thematisieren zu können, wenn sie normativ auf gegenwärtige Handlungsabsichten bezogen wird, oder die Notwendigkeit, sie nur dann wissenschaftlich behandeln zu können, wenn ihr die Eigenschaft eines unabhängig von normativen Einstellungen tatsächlich existierenden und in dieser seiner Tatsächlichkeit erforschbaren Sachverhalts zugesprochen wird. In beiden Hinsichten wird die Sachlichkeit des historischen Denkens reklamiert. Die These, Geschichte sei normativ konstituiert und daher nur durch Normgebrauch erkennbar, wird ebenso mit dem Gebot begründet, die Sachlichkeit des historischen Denkens zu wahren und 109 zu steigern 144, wie die These, Geschichte sei empirisch gegeben und ^ ihrer Erkenntnis reichten die Methoden einer .strengen Tntsachener.. miitlung und einer wertfreien Tatsachenverknüpfung aus.143 Die eine Auffassung widerspricht nicht notwendig der anderen, son, dern beide lassen sich miteinander vereinbaren, wenn man die Unter, schiede berücksichtigt, die /.wischen der Konstitution des Objekts der historischen Erkenntnis auf der einen Seite und seiner Gegenständ« lichkeit im Forschungsproz.eß der Geschichtswissenschaft auf der ^ deren Seite bestehen. Dies enthebt die Geschichtswissenschaft jedoch nicht der Schwierigkeit, die ihr gemäße Theorieform zu finden. 2. Uber Narrativität als Theorieschranke des historischen Denkens Die These vom narrativen Charakter der historischen Erkenntnis146 scheint den gordischen Knoten der spezifischen Theorieform des historischen Denkens aufzulösen. Geschichte läßt sich nur narrativ darstellen, und Erzählungen sind keine Theorien. >Erzähle, Historiker, und theoretisiere nicht«, so könnte man zugespitzt die Anweisung zusammenfassen, die aus der Erkenntnis der narrativen Struktur der historischen Aussagen für die Erkenntnispraxis der Geschichtswissenschaft folgt.147 Die narrative Verfassung der historischen Erkenntnis scheint es a priori zu verbieten, ihr eine theoretische Form zu geben, wenn theoretisch heißen soll, daß eine als geschichtlich qualifizierte Zeitfolge von Geschehnissen der menschlichen Welt in der Form einer allgemeinen Regel oder eines systematischen Zusammenhangs von Regelmäßigkeiten ausgesagt wird. Denn eine solche Regel, eine allgemeine Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung, läßt sich nicht erzählen; eine Theorie der Geschichte, die alle einzelnen empirisch konkreten zeitlichen Veränderungen der menschlichen Welt umfaßt, einander zuordnet und erklärt, ist nicht narrativ konstruierbar. Eine solche Theorie als >Geschichte der Geschichte« oder als >Geschichte über den Geschichten« zu denken, wie es Droysen versuchte148, als er einen allgemeinen Bezugsrahmen der Geschichtsforschung (und der Geschichtsschreibung) aufstellte, führt in eine Antinomie: Beinhaltet eine solche Theorie eine identifizierbare Geschichte, die als Geschichte einen Anfang und ein Ende haben muß, dann läßt sich eine Geschichte denken, die sie nicht umgreift (diejenige nämlich, die jen- jejts ihres Anfangs oder ihres Endes spielt); soll dies aber ausgeschlos-sein, d. h. soll diese Theorie alle möglichen Geschichten umfassen, wtfifl kann sie nicht in der Weise zeitbestimmt gedacht werden wie jL,jc Geschichte, die einen Anfang und ein Ende hat. Zu diesem er-^nntnistheoretischen Argument gegen die Theorieförmigkeit der historischen Erkenntnis kommt ein wissenschaftspraktisches Argument hinzu:150 Zwar verwendet jeder Historiker bei der Interpreta-[lon der Quellenaussagen theorielörmiges Wissen über die ausgesagten Sachverhalte, - je theoretischer (im Sinne von allgemeiner und zeitübergreifender) jedoch dieses Wissen ihm angeboten wird, desto weniger kann er mit ihm anfangen: Die Allgemeinheit der angebotenen Theorien gerät in Widerspruch zu dem besonderen Zeitbezug, der seine Interpretation der Quellenbefunde auszeichnet; er will ja von den Quellen gar nicht wissen, was immer war, sondern was zu einem bestimmten Zeitpunkt so und später anders war und warum es so wurde. Die Narrativitätsthese hat zu einem außerordentlich wichtigen Fortschritt im Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft geführt. Sie hat unmißverständlich daran erinnert, daß der Gebrauch von Theorien in der historischen Forschung nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß die erzielten Forschungsergebnisse historiographisch präsentierbar sein müssen. Sie orientiert damit die Diskussion der Historiker um den Aufbau und die Funktion historischer Interpretationsrahmen und um das Verhältnis ihrer Disziplin zur nomologischen Erkenntnis anderer Wissenschaften am Kriterium der narrativen Brauchbarkeit von Theorien.151 (Damit wird übrigens die Topik, die in der Historik seit der Formierung der Historie zur Wissenschaft nur am Rande behandelt wurde, zu einem systematisch notwendigen Faktor in der Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft aufgewer-tet.1") Dies ist deshalb so wichtig, weil damit die für das historische Bewußtsein konstitutive Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft in der historischen Forschung und Geschichtsschreibung gewahrt bleibt. Operiert man unkritisch mit Annahmen einer gesetzmäßigen geschichtlichen Entwicklung, dann liegt die Schlußfolgerung nahe, von der Geschichtswissenschaft Prognosen zu erwarten, die in technische Regeln umgesetzt werden können, nach denen Geschichte gemacht werden kann. Abgesehen davon, daß diese Konzeption einer machbaren Geschichte eine terroristische Praxis legitimieren kann153, verhindert sie eine für die historische Erkenntnis konstitutive Disposi- i io in tion zur historischen Erfahrung. Historische Erkenntnis ist leben» weltlich (immer auch) dadurch konstituiert, daß in aktuellen Hand, lungsvollzügen eine Divergenz zwischen Absicht und Resultat der Handlungen erfahren wird, die aus Gründen der Sinnbestimmthcii jeden Handelns kognitiv verarbeitet werden muß {und zwar in Form von Geschichten, die sagen, wie es eigentlich dazu gekommen ist) Indem das historische Denken solche Divergenzerfahrungen auf die Vergangenheit bezieht und an ihren Erfahrungsbestanden abarbeitet und dann - historisch gedeutet - mit der common sense-Orientie-rung des aktuellen Handelns vermittelt, bestimmt sie dessen Zukunftsperspektive. Diese lebensweltliche Dimensionierung des historischen Bewußtseins wird zurückgenommen, historisches Denken also stillgestellt, wenn Vergangenheit und Zukunft zur einheitlichen Dimension einer historischen Gesetzmäßigkeit homogenisiert werden. In den Bereich einer historischen Erfahrung rückte diese Gesetzmäßigkeit erst ein (und würde zum Gegenstand und nicht zur Regel des historischen Denkens), wenn das an ihr prognostisch orientierte Handeln zu Resultaten führte, die von den Prognosen abweichen (weswegen die Nutznießer solchen Handelns, wenn sie die Macht dazu haben, diesen Erfahrungsbereich terroristisch verschlossen hal-ten).154 Folgt aus diesen Überlegungen zwingend, daß >Geschichte als solche nicht theoriefähig< ist? Jürgen Habermas hat diese Konsequenz gezogen.155 Er hat aber nicht dafür plädiert, die historische Erkenntnis von Theorien freizuhalten, die den Gesamtzusammenhang von Zeitfolgen menschlicher Weltveränderung charakterisieren. Er billigt einer solchen Theorie der sozialen Evolution die Funktion eines allgemeinen Interpretationsrahmens für die historische Forschung zu. Nicht jedoch solle sie zu einer narra-tiven Präsentation der von ihr angesprochenen Sachverhalte dienen können; die Geschichtsschreibung als ein von der Geschichtsforschung zu unterscheidender - eben spezifisch narrativer - Umgang mit der menschlichen Vergangenheit könne solche Theorien nicht gebrauchen. Während die Geschichtsforschung auf theoretische Bezugsrahmen der historischen Interpretation angewiesen sei, folge die Geschichtsschreibung der Logik eines sinngebenden common sense, der sich als Faktor lebensweltlicher Zweckbestimmungen von Handeln nicht in eine Theorieform bringen lasse. Die Geschichtsschreibung, die vergangene Zeitfolgen menschlichen Handelns narrativ vergegenwärtigt, wird also streng von der Geschichtsforschung als der metho- 112 Jischen Operation geschieden, durch die aus den Quellen ein Wissen (lari'ber erzeugt wird, welche Handlungen unter welchen Umständen ^jt welchen Absichten und mit welchen Resultaten erfolgt sind. Da ejn solches Wissen ohne theoretische Annahmen über allgemeine Zu-Lfltmenhärtge von Umständen, Absichten und Resultaten von Hand-|ungen nicht möglich ist, ist die Geschichtswissenschaft als Forschung tlieoriebedürftig und fähig, sozialwissenschaftliche Theorien in histo-fische Erkenntnisse umzusetzen. Habermas sieht es jedoch als verhängnisvoll an, solche Theorien in Bezugsrahmen narrativer Rekonstruktionen umzusetzen. Immer dann, wenn Theorien allgemeine Entwicklungen formulieren, seien sie mit der Partikularität unvereinbar, die alle erzählbaren Geschichten charakterisiere. Bringt man also die Narrativität der Geschichtsschreibung als Argument in die Diskussion der Frage ein, ob und in welcher Weise die Geschichtswissenschaft mit Theorien arbeiten kann und muß, dann scheint eine Rehabilitierung des Individualitätsaxioms des Historismus unvermeidlich; alle Theorien, die Entwicklungen thematisieren und dabei mit Universalien der menschlichen Weltveränderung arbeiten, überschreiten die Partikularität, die jede narrative Vergegenwärtigung vergangener Veränderungen der menschlichen Welt kennzeichnet, und scheinen daher zur Organisation von Geschichtsschreibung nicht verwendbar. Das Narrativitätskriterium, das jede Erkenntnis erfüllen muß, um überhaupt als historische auftreten zu können, scheint also - wenn überhaupt - nur einen restriktiven Gebrauch von Theorien in der Geschichtswissenschaft zuzulassen. Gegen diese Konsequenz aus der Einsicht in die narrative Struktur historischen Wissens möchte ich drei Bedenken anmelden: Läßt sich erstens die strenge Unterscheidung zwischen Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung aufrechterhalten, wenn Geschichte forschungsbezogen geschrieben werden soll? Ich möchte behaupten: Eine narrative Freiheit der Geschichtsschreibung von Bindungen an Theorien ist nur um den Preis derjenigen Wahrheitsansprüche zu erlangen, die aus einer diskursiven Begründung und entsprechenden Theoretisierung des Bezugsrahmens der historischen Interpretation folgen. Die Erkenntnischancen eines forschenden Gebrauchs historischer Theorien müssen historiographisch durch eine Theoriegeleitet-heit der narrativen Darstellung realisiert werden. Wie ist zweitens die Tatsache zu beurteilen, daß ungeachtet der erkenntnistheoretisch anscheinend zwingenden Restriktion von Geschichtsschreibung auf partikulare Entwicklungen die großen Formen JI3 der Geschichtsschreibung immer universale Theorien der geschichtlichen Entwicklung verwendet haben? Ich möchte behaupten: Diese Tatsache muß als Kritik an einer Beschränkung der narrativen Organisation von Geschichtsschreibung auf Gesichtspunkte lebensweltlicher Handlungsorientierung und als Hinweis auf Möglichkeiten eines narrativen Theoriegebrauchs zur Geltung gebracht werden. Die bisher ausgearbeiteten Theorien des narrativen Charakters der historischen Erkenntnis berücksichtigen nicht hinreichend, daß die lebensweltlich vorgegebenen Sinnkriterien des historischen Erzählens in forschungstechnisch operationalisierbare Theorien geschichtlicher Entwicklungen transformiert und daß mit diesen Theorien die lebenweltlichen' Sinnkriterien des historischen Bewußtseins durch eine wissenschaftliche Geschichtsschreibung kritisiert werden können. Führt drittens die common sense-Regelung narrativer Rekonstruktionen der Vergangenheit notwendig nur zu partikularen Geschichten oder enthält sie theoretisierbare Universalien? Ich möchte behaupten: Jeder Leitfaden, dem eine narrative Rekonstruktion der menschlichen Vergangenheit folgt, enthält Bestimmungen von Geschichte als Totalität, die in eine Theorieform gebracht werden können und die in dieser Form von einer Geschichtsschreibung mit Wissenschaftsanspruch verwendet werden müssen. Wie lassen sich diese Behauptungen begründen? 3. Über das Verhältnis von Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung Es ist nicht einzusehen, warum Theorien im Bereich der historischen Forschung nicht so auf die narrative Organisation einer forschungs-orientierten Geschichtsschreibung durchschlagen, daß diese in eben demselben Maße durch Theorien bestimmt wird wie die Forschung, deren Ergebnisse sie verarbeitet. In der jüngsten Diskussion der westdeutschen Historiker über Möglichkeiten und Grenzen des Theoriegebrauchs in der Geschichtswissenschaft wurden mit dem Narrativitätskriterium die Versuche kritisiert, durch Einführung expliziter Theorien das Erklärungspotential der Geschichtswissenschaft und ihre Kooperationsfähigkeit mit den systematischen Sozialwissenschaften zu steigern.156 Um die Eigenständigkeit der Geschichtswissenschaft mit einer für sie spezifischen und von keiner anderen Wissenschaftsdisziplin zu übernehmenden Aufgabe zu begründen, wird ihr eine narrative Erklärungsfunktion ^gesprochen, die den Spielraum von Erklärungen mit Hilfe expliziter fheorien systematisch einschränkt. Dabei wird dem Mißverständnis der Argumente von Danto und Baumgartner Vorschub geleistet, Erklärung durch Erzählen mache als eigentlich historisches Verfahren pudere Erklärungsarten für die Geschichtswissenschaft überflüssig. 2ugestanden wird indes höchstens ein heuristischer Nutzen expliziter fheorien, - deren Funktion wird also auf die niedrigste Stufe der methodischen Operationen der historischen Forschung eingeschränkt.157 Gewiß entspricht dies nicht der Absicht, mit der Habermas Forschung und Geschichtsschreibung hinsichtlich ihrer Theoriefähigkeit streng unterscheidet. Im Gegenteil: Er will mit dieser Unterscheidung gerade begründen, warum und wie man sozialwissenschaftliche Theorien in der Geschichtswissenschaft anwenden kann. Seine Unterscheidung läßt sich aber wissenschaftsstrategisch umkehren und dabei mit dem Gewicht des Arguments versehen, daß nur die Forschung als eigentlich historische anzusehen sei, die in Geschichtsschreibung nuinde. Habermas hat kritisch gegenüber Tenbrucks Plädoyer für eine Erneuerung des späthistoristischen Individualitätsaxioms1 auf theoriegeleitete Formen von Geschichtsschreibung hingewiesen, die die narrative Brauchbarkeit sozialwissenschaftlicher Theorien erweisen. Ich möchte der Intention dieses Hinweises folgen und ihn systematisch verstärken: Narrativ ist jede Geschichtsschreibung; die Geschichtswissenschaft hat mit dem Narrativitätskriterium sich lediglich als literarische Veranstaltung wiedelentdeckt,160 aber damit noch nichts zur Realisierung des Erkenntnisfortschritts getan, zu dem sie als Wissenschaft verpflichtet ist. Forschungsbezug ist das Kriterium, das zur Narrativität notwendig hinzugedacht werden muß, damit diejenige Geschichtsschreibung in den Blick kommt, die für die Geschichte als Wissenschaft charakteristisch ist. Damit aber wird Theoriegebrauch zu keinem Abgrenzungskriterium der Forschung von der Geschichtsschreibung, sondern zu einem Ansinnen an die Geschichtsschreibung. Kein Historiker, der in seinen Forschungen vergangenes menschliches Handeln mit Flilfe von Theorien komplexer zeitlicher Handlungsfolgen identifiziert, erklärt, abgrenzt, vergleicht und spezifiziert, wird in der historiographischen Darlegung seiner Forschungsergebnisse darauf verzichten, die Gründe dafür (theoretisch) anzugeben, warum er das von ihm behandelte Stück Vergangenheit so und nicht anders 114 interpretiert. Seine narrative Anordnung der zeitlichen Handlungsfo gen dürfte dafür in der Regel nicht ausreichen. Er erzählt immer weni. ger, als er interpretiert,161 und dieser diskursiv und nieht narrativ vorgebrachte Interpretationsüberschuß charakterisiert den Forschungsbezug seiner Historiographie. Ich kann mir keine wissenschaftlich anspruchsvolle Geschichte der Industrialisierung oder eine J Revolution denken, in der nicht diskursiv zwischen verschiedenen! Hypothesen darüber abgewogen und entschieden würde, welche Fak-I toren in welcher Gewichtung für die Entstehung der industriellen] Wirtschaftsform oder für den Ausbruch einer Revolution zu veranJ schlagen sind. Gibt es Theorien, mit denen forschend verfahren werden kann undl deren Darlegung den Rahmen aller möglichen Historiographie! sprengt? Spekulative Geschichtsphilosophien lassen sich forschend! nicht verwenden; deswegen sind sie vom Historismus kritisiert wor-j den, obwohl er ihnen in der Organisation seiner Forschung und seiner. Geschichtsschreibung in Form von Imcrpretationsrahmen und narra-tiven Leitfäden in einer erkenntnistheoretisch dubiosen Weise162 verpflichtet blieb. Theorien der sozialen Evolution - in gewisser Hinsicht Nachfolgerinnen der Geschichtsphilosophie - lassen sich auf doppelte Weise forschend verwenden: Entweder werden ihre Aussagen über, universale gesellschaftliche Entwicklungen auf geschichtliche Ereignisse empirisch bezogen und dadurch sozusagen dingfest (im Sinne einer partikularen Empirie zeitlich realer Handlungsfolgen) gemachti oder geschichtliche Ereignisse werden mit ihrer Hilfe hinsichtlich ihrer epochalen Signifikanz erschlossen und dadurch sozusagen typisch (im Sinne einer universalen Typologie zeitspezifischer Handlungsformen) gemacht. Mindestens die zweite Möglichkeit fällt in die Fach-kompetenz des Historikers (die erste dürfte er eher als Anwendung seiner Forschung in der Soziologie einschätzen). Er wird seine evolutionstheoretische Interpretation der von ihm erforschten Sachverhalte; in deren historiographisch narrative Rekonstruktion voll einbringen, und zwar in Form einer Begründung für die Bedeutung, die er diesem Sachverhalten in der Zeitfolge mit anderen beimißt. Der Meinungsstreit der Historiker, in dem der Erkenntnisfortschritt ihrer Wissenschaft betrieben wird, wäre ja auch kümmerlich, wenn er historiographisch so ausgetragen würde, daß seine Kontrahenten - eingedenk des Literaturnobelpreises für Theodor Mommsen und der allgemeinen Aversion gegen die hochelaborierte Fachsprache der theoretischen Soziologie - sich an Verständlichkeilsgebote der interessierten Öffent- 116 [ichkeit hielten und wenn die Historiker ihren Habermas, Luhmann, jylarx, Max Weber, Carl Schmitt oder wer immer Pate bei ihren Deutungen stand, zwischen den Zeilen ließen. 4. Über allgemeine Geschichtstheorien in der Entwicklung der Geschichtswissenschaft pas Kriterium der Narrativität historischer Aussagen scheint einer -Öffnung der historischen Erkenntnis für interpretierende Theorien Wort eine unüberschreitbare Grenze zu setzen, wo solche Theorien 1 Geschiehte als Totalität realer zeitlicher Welt Veränderungen durch Imenschliches Handeln konzipieren. Wie ist im Lichte einer solchen ferkenntnistheoretisch vorgeschriebenen Begrenzung die erkenntnis-}'praktische Tatsache zu beurteilen, daß universalistische Geschichts-Kheorien in allen großen Formen von Geschichtsschreibung verwendet Iworden sind? Dies gilt auch für die Geschichtsschreibung, die die ■Entwicklung der Historie als Wissenschaft begleitet. Ich erinnere an [die theoretical history der schottischen Aufklärer, mit der sie die Stadien der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit bestimmten und die sie zur sozialwissenschaftlichen Untcrmaucrung ihrer Historiographie verwandten,163 und an die gattungsspezifischen Entwicklungstheorien des Historismus, wie sie etwa in Droysens Konzeption der weltgeschichtlichen Dynamik der sittlichen Mächte,164 in Rankes Vorstellung von Weltgeschichte als »Herbeiführung der verschiedenen Nationen und der Individuen zur Idee der Menschheit und der Kultur«, in der »der Fortschritt ein unbedingter« sei,165 und in Burck-hardts Schema der drei Potenzen und sechs Bedingtheiten als Konsti-tuentien eines universalen Kulturentwicklungsprozesses166 vorliegen. Diese Theorien erscheinen heute überholt; die sie auszeichnenden Universalien menschlicher Weltveränderungen sind (hinsichtlich der Aufklärung) wegen ihrer ahistorischen Anthropologisierung und natu rreelulichen Normierung geschichtlieh variabler Handltingsformen oder {hinsichtlich des Historismus) wegen ihrer theologischen und metaphysischen Elemente als nicht tragfähig kritisiert worden. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, daß diese Theorien ihrerseits jeweils schon Produkte einer grundlegenden Kritik allgemeiner ge-schichtstheoretischcr Annahmen darstellen. Die Fortschrittstheorie der Aufklärung kritisierte und ersetzte den heilstypologischen Rah- H7 men des mittelalterlichen historischen Denkens; die Entwieklungs-theorie des Historismus kritisierte und ersetzte die Fortschrittskon-zeption der Aufklärung. Die Theorien wechselten also, die Theoriege-leitetheit der Geschichtsschreibung blieb. Was folgt aus diesem historischen Befund systematisch? Es wäre ein naturalistischer Fehlschluß, aus der Tatsache, daß universale Geschichtstheorien in Geschichtsschreibung eingegangen sind, zu folgern, die Geschichtsschreibung müsse notwendig mit solchen Theorien organisiert werden. Soll aber andererseits nicht an dieser Geschichtsschreibung das transzendentalphilosophische Exempel der strikten Narration statuiert werden, sie sei gar keine, so daß die Historiker der Mühsal ausgeliefert würden, Geschichte wie noch nie zu schreiben, dann müßte gezeigt werden, daß und wie Theorien, die Geschichte mit Hilfe von Universalien zeitlicher Weltverändcrung durch menschliches Handeln thematisieren, sinnvoll in der Geschichtsschreibung gebraucht werden können. Kritik und Transformation allgemeiner Geschichtstheorien in den Paradigmawechseln der Geschichtsschreibung müssen als Konsequenz der lebensweltlichen Verankerung der Geschichtsschreibung im common sense ihrer Zeit verstanden werden. Gerade auf der Ebene solcher abstrakten Dimensionen, in denen die Vergangenheit ihren je anderen geschichtlichen Charakter gewinnt, werden die Erfahrungsschübe und normativen Umorientierungen deutlich sichtbar, die dem historischen Denken aus seinem lebensweltlichen Kontext zuwachsen. Es ist trivial, daß das, was als Geschichte erzählt wird, sich danach richtet, was ihre Autoren und Adressaten an realer Veränderung ihrer Lebensverhältnisse erfahren und in den Orientierungsrahmen ihres Handelns erkennend verarbeiten müssen. Nicht trivial ist es, wie diese Verarbeitung in der Geschichtsschreibung vor sich geht167: Aus lebensweltlichen Erfahrungen und Absichten formiert sich ein Bezugsrahmen für die kognitive Aneignung von Vergangenheit, in dem die Geschichte immer schon vorentworfen ist, die dann erst mit Erfahrungsinhalten erzählt wird und als Erzählung handlungsorientierend (durch Präsentation zeitlicher Identitäten der handelnden Subjekte) wirkt. Historiographie rekonstruiert vergangenes menschliches Handeln unter Vorgaben einer ldentilätserwartung ihrer Autoren und Adressaten168 (zusammengefaßt im weitesten Sinne als Öffentlichkeit), von der es abhängt, was eigentlich als erzählbare Geschichte in Frage kommt. Diese Vorgaben gehen in den Bezugsrahmen der historischen 118 Interpretation ein und werden dort in die Form von Theorien gebracht, die den geschichtlichen Charakter der menschlichen Vergangenheit generell definiere». Von diesen Definitionen hängen die Regeln der historischen Methode ab, nach denen aus empirisch präsenter Vergangenheit reale Zeitabläufe menschlichen Handelns rekonstruiert werden. Narrativ-historiographisch werden diese Rekonstruktionen auf die Orientierungsbedürfnisse und Identitätserwartungen bezogen, die das historische Denken konstituieren; dabei werden die interpretierenden Theorien wieder um die common sense-Zusammenhänge bercichert, aus denen sie erwachsen sind und die im Iiistorischen Forschungsprozeß als solche nicht thematisiert werden. iSiarrativität und Theorieform des historischen Denkens markieren seine Verwurzelung in der Lebenswelt und seine Distanz zur Lebenswelt. Lebensweltliches Geschichtenerzählen ist zeitliche Orientierung und Identitätssicherung handelnder Subjekte durch kognitive Verarbeitung von Kontingenzerfahrung. Diese kognitive Verarbeitung wird wissenschaftlich, indem die Wahrheitsanspriichc erzählter Geschichten durch methodisch geregelte Begründungen systematisch gesteigert werden; historisches Denken wird dabei theoriebedürftig und theoriefähig. Es gewinnt seine Theorieform durch eine Transformation lebensweltlicher Sinnvermutungen gegenüber der Vergangenheit in methodisch prüfbare allgemeine Hypothesen über Zeitfolgen von Handeln: Orientierungsbedürfnisse und Ideniitätserwarumgcn werden zu forschungsleitenden ßezugsrahinen, nach denen aus empirisch präsenten Produkten und Bekundungen vergangenen Handelns und Leidens Entwicklungsprozesse menschlicher Weltveränderung rekonstruiert werden können. Dabei wird die ursprünglich praktische Orientierungsfunktion der erinnernden Zuwendung zur Vergangenheit ausgeblendet, damit die erinncrungsleitenden Hinsichten methodisch operationalisiert und theoretisch forschend verwendet werden können. Diese Ausbiendimg wird dann (mindestens partiell) rückgängig gemacht, wenn die erfolgten Rekonstruktionen historiographisch präsentiert werden. Dann nämlich erscheinen sie in der Form von Geschichten, die durch ihren Sinngehalt prinzipiell auf Handlungsorientierung angelegt sind. Nur ist dieser Sinngehalt durch Begründungen vermittelt, mit denen er sich durchaus auch gegen die ursprünglichen Oricntierungsbedürfnisse und Identitätserwartungen sperren kann. Historisches Denken ist kritisch geworden. Diese kritische Funktion verdankt die Geschichtsschreibung der Transformation lebensweltlicher Orientierungsbediirlnisse und Identitätserwartungen in theo- rieförmige Interpretattonsrahmen. Als Kritik dieser Bedürfnisse und Erwartungen ist die wissenschaftlich gewonnene Theorieform des historischen Denkens in der narrativen Präsentation von Vergangenheit erhalten geblieben. Forschungsorientierte Geschichtsschreibung ist also durch ihren Sinngehalt auf common sense bezogen. Sie ist Geist vom Geiste vor- und außerwissenschaftlicher Handlungsorientierung. Sie ist aber immer mehr als das: Sie realisiert einen Theorieüberschuß über den Identitätsbedarf von Handlungssubjekten, der zur Geschichtsschreibung führt. Meine These ist, daß dieser Theorieüberschuß als die eigentliche Vernunftleistung forschungsorientierter historischer Narration angesehen werden muß. Mit ihm transzendiert die wissenschaftliche Geschichtsschreibung genau die Partikularität lebensweltlicher common sense-Orientierungen von Handeln, in deren Schranken das historische Denken durch Berufung auf seinen narrativen Charakter prinzipiell verwiesen werden soll. Nach Habermas stehen historische Darstellungen »[...] auf der gleichen Ebene wie das historische Bewußtsein der Zeitgenossen. Zwischen dem Geschichtsschreiber und seinem Adressaten besteht kein Gefälle - wie zwischen dem Teilnehmer eines Diskurses und dem Handelnden.«169 Dies ist plausibel, wenn man bedenkt, daß die Geschichtsschreibung durch Orientierungsbedürfnisse und Identitätserwartungen handelnder Subjekte lebensweltlich konstituiert wird. Durch ihre Forschungsorientierung gewinnt sie jedoch die Eigenschaft, das historische Bewußtsein der Zeitgenossen zu verändern. Diese Veränderungskapazität wird in ihrem Theorieüberschuß manifest. Mit ihm bringt sich der Geschichtsschreiber gegenüber seinem Adressaten mindestens in ein didaktisches >Gefälle<. Die Rezeption seiner Geschichtsschreibung erfolgt zwar im Rahmen des common sense, an dem er und sein Adressat gleichermaßen partizipieren; durch die Rezeption soll aber zugleich dieser common sense verändert werden, — hinsichtlich seines Gehaltes an historischem Bewußtsein vernünftiger werden, als er es ohne diese Geschichtsschreibung wäre. Geschichtsschreibung ist »[...] in jedem Falle abhängig [...] von der hermeneutischen Ausgangslage des Erzählers«.170 Aber das heißt nicht, daß eine forschungsorientierte Geschichtsschreibung jeweils lebensweltlich geltende Traditionen affirmativ reproduziert; die Geschichte, die eine forschungsorientierte, d. h. durch methodischen Theoriegebrauch ausgezeichnete Geschichtsschreibung erzählt, ist immer (sozusagen forschungsapriorisch) kritisierte Tradition. 5. Über die systematische Bedeutung historischer Univcrsalien j$[ in diesem Theorieübcrschuß forschungsgelciteter Geschichtsschreibung eine Verwendung von Universalien der Weltveränderung durch menschliches Handeln möglich? Universalicn, die alle Zeitfolgen der menschlichen Weltveränderung zu einem gegenständlichen Ganzen zusammenschließen und »die« Geschichte aus den Quellen jls Sachverhalt rekonstruieren lassen, sind prinzipiell ahistorisch, flfeil sie die für ein historisches Bewußtsein konstitutive Asymmetrie der Zeitdimensionen vernachlässigen.171 Historische Erkenntnis kann also, wenn überhaupt, nur durch Universalien bestimmt werden, die dieser Asymmetrie entsprechen. Sie müssen also dort aufgesucht werden, wo Vergangenheit als eigener Erkenntnisbereich von Gegenwart und Zukunft abgegrenzt wird. Lebensweltlich geschieht eine solche Abgrenzung, wenn Erfahrungen der Divergenz von Handlungsabsichten und Handlungsresultaten in Vorstellungen einer sich durchhaltenden Identität von Handlungssubjekten verarbeitet werden. Historische Erzählungen, die zeitlichen Identitätsei wartungen entsprechen, sind genau so universell angelegt, wie menschliche Identität in zeitlichen Veränderungen durch Bezug auf Universalien auf Dauer gestellt werden soll. Vergangenheit kommt als Geschichte dann in den Blick, wenn sie als Bezugsfeld von Identitätserwartungen eine Bedeutung für den Orientierungsrahmen aktuellen Handelns gewinnt. Nun ist jeder Orientierungsrahmen von Handeln universell; in ihm ist eine Totalität von Mensch und Welt entworfen, die als Sinnkriterium für Zwecksetzungen fungiert. Die übliche Metapher des »Horizonts« für den Sinnentwurf, dem Zwecksetzungen folgen, zeigt an, daß er die Gesamtheit aller erkennbaren, vollzichba-ren und erwartbaren Handlungen umgreift. Eine narrative Vergegenwärtigung von Vergangenheit ist also immer durch die Universalien bestimmt, die Handlungsorientierungen den Charakter von Sinnhorizonten, von »Weltanschauungen« verleihen. Geschichten erzählen heißt: zeitspezifische Erfahrungen in die Vorstellung eines umfassenden Sinnzusammenhangs von Mensch und Welt zu integrieren, mit denen handelnde Subjekte sich selbst (und als vergesellschaftete immer auch: sich wechselseitig) bestimmen, ihre Identität formulieren und in Form oberster Handlungsabsichten oder höchster Werte praktisch zur Geltung bringen. Solche universalen »weltanschaulichen« Handlungsorientierungen sind 120 121 natürlich keine historischen Theorien. Sie führen aber zu historischen Theorien, zu Vorstellungen eines zeitlichen Gesamtzusammenhangs menschlicher Weltveränderungcn in der Vergangenheit, wenn 4ic Vergangenheit als solche thematisiert wird, um sie im Sinnhorizont gegenwärtiger Praxis zu halten. Dies ist dann der Fall, wenn Traditionen nicht mehr ausreichen, Erfahrungen gegenwärtiger gesellschaftlicher Veränderungen handlungsorientierend zu verarbeiten. In dem Maße, in dem solche Erfahrungen die von ihnen betroffenen Subjekte dazu nötigen, sich über sich selbst neu, d. h. in nicht-traditionaler Weise zu verständigen, um handlungsfähig zu bleiben, müssen sie die Sinnvorgaben ihrer Traditionen kritisieren. Dabei erscheint die in den Traditionen immer schon vergegenwärtigte Vergangenheit allererst als Vergangenheit und muß als solche neu angeeignet werden. Neue Aneignung von Vergangenheit bedeutet aber nicht, daß neue Geschichten erzählt werden müssen, nachdem die alten Geschichten ihre praktische Relevanz verloren haben, sondern daß die alten Geschichten neu erzählt werden müssen, damit sie ihre praktische Relevanz behalten, d. h. damit ihr Erfahrungsgehalt nicht verlorengeht, sondern um die neue Zeitdimension menschlicher Selbstidentität erweitert und vertieft wird, in die sich ein traditionssprengender lebensweltlicher Erfahrungsschub integrieren läßt. Immer dann, wenn es aus Gründen der zeitlichen Vergewisserung menschlicher Selbstidentität notwendig wird, im Orientierungsrahmen der gesellschaftlichen Praxis Vergangenheit als Vergangenheit zu thematisieren, müssen historische Theorien gebildet werden. Indem sie Vergangenheit als einen Gesamtzusammenhang menschlicher Weltveränderung, also Geschichte als Totalität vergangener Zeitfolgen menschlichen Handelns konzipieren, leisten sie zweierlei: Als historische Denkformen halten sie die Differenz zwischen gegenwärtigen Handlungsentwürfen und vergangenen zeitlichen Handlungssequenzen fest; sie strukturieren Geschichte traditionskritisch als einen eigenen Erfahrungsbereich und erweitern damit den Spielraum identitätskonformer Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen. Als genuin theoretische Denkform halten sie an der Totalität vergangenen menschlichen Handelns fest und beziehen es dadurch in den Sinnhorizont aktueller Praxis ein; sie strukturieren Geschichte gegenwartskritisch als einen eigenen Bedeutungsbereich und erweitern damit den Spielraum identitätskonformer Vergangenheitserfahrungen. Die eine Leistung ist ohne die andere nicht denkbar. Soll die Vergangenheit wirklich als eigener Erfahrungsbereich erschlossen und damit Jie historische Forschung als gegenstandsspezifisches wissenschaftliches Unternehmen in Gang gesetzt werden, dann genügt es nicht, Handlungen bloß aufgrund ihnen äußerlicher Zeitdatierungen als geschichtliche zu qualifizieren und von gegenwärtig vollzogenen und zukünftig zu erwartenden abzugrenzen; diese Zeitdatierungen müssen vielmehr eine Bedeutung gewonnen haben, die vergangenes Handeln allgemein als geschichtlich qualifizieren läßt. Und umgekehrt: Soll die Vergangenheit wirklich als eine eigene Dimension menschlicher Selbstverständigung in Anspruch genommen werden und damit überhaupt ein Interesse an einer gegenstandsspezifischen historischen Forschung geweckt werden, dann genügt es nicht, vergangene Handlungen bloß aufgrund ihrer abstrakten Vergleichbarkeit mit gegenwärtig vollzogenen und zukünftig zu erwartenden in den Erfahrungsbereich von Identitätsvergewisserungen einzubeziehen; ihre Vergangenheit muß ihnen vielmehr einen eigenen Erfahrungswert verleihen, nämlich den der Alterität, mit dem sie als geschichtliche gegenwartsrelevant werden.172 Die Geschichtsschreibung bedarf also allgemeiner Dimensionen, die die Vergangenheit als eigenen Erfahrungsbereich erschließen und sie als Geschichte den Identitätserwartungen der Gesellschaft zuordnen. Sollen solche Dimensionen nicht einfach narrativ gesetzt, sondern im Rahmen einer Geschichtsschreibung mit Wissenschaftlichkeitsan-spruch diskursiv begründet werden, dann müssen sie zu Theorien ausgearbeitet und als Theorien auch historiographisch präsentiert werden. Auf historische Beispiele für solche Theorien habe ich schon hingewiesen.173 Da aber die allgemeinen Geschichtstheorien der Aufklärung und des Historismus wegen der Kritik, die die für sie charakteristischen naturrechtlich-anthropologischen und geistesmetaphysischen Universalien gefunden haben, nicht mehr ohne weiteres für die heutige Geschichtsschreibung in Frage kommen, stellt sich die Frage, welche Theorien heute die skizzierten Aufgaben übernehmen können. Eine marxistisch orientierte Geschichtsschreibung wird auf den historischen Materialismus verweisen und mit ihm ihre Überlegenheit hinsichtlich ihres Wissenschaftscharakters gegenüber allen Formen for-schungsorientierter Geschichtsschreibung begründen, die auf einen expliziten Theoriegebrauch verzichten zu müssen glaubt. Solange es dem historischen Materialismus freilich nicht gelingt, der für ein historisches Bewußtsein konstitutiven Zeitasymmetrie zwischen Erfahrung der Vergangenheit und Erwartung der Zukunft in seinen Theo- 123 riekonzeptionen prinzipiell Rechnung zu tragen, bleiben diese Vorteile prekär. (Ebenso prekär bleiben jedoch auch die Vorteile eines Spielraums pluralistischer Perspektivierungen der Vergangenheit zur Geschichte, wenn in ihm durch Theorieverzicht die bloße Willkür der Historiker zur Entscheidungsinstanz über die Perspektivenwahl erhoben wird.) Daß es jedoch auch Theorieangebote an die Geschichtsschreibung gibt, in denen die Zeitasymmetrie des historischen Bewußtseins gewahrt und zugleich ein allgemeiner zeitlicher Gesamt/.usammenhang vergangener Welt Veränderungen durch menschliches Handeln entworfen wird, dafür mag als Beispiel die Theorie der sozialen Evolution von Jürgen Habermas stehen. Denn diese Theorie betont ihren rekonstruktiven Charakter, verpflichtet sich also der Erschließung der Vergangenheit als eines abgrenzbaren Erfahrungsbereichs; sie beansprucht, soziale Evolution als den universalen Zeitzusammenhang menschlicher Weltveränderung thematisieren zu können, der die Zeitspezifik vergangener Handlungsfolgen bestimmbar macht, unterzieht sich also der Aufgabe, den geschichtlichen Charakter vergangenen Handelns generell zu formulieren, und schließlich bezieht sie sich auf diskursive Willensbildungsprozesse der Gegenwart174, ist also auf Handlungsorientierung angelegt. Habermas hat den damit möglichen Gebrauch seiner Theorie der sozialen Evolution für die Geschichtsschreibung bezweifelt, weil durch eine solche Theoretisierung »theoretisch-narrative Mischformen« entstünden, »die einen problematischen Status haben«.175 Diese Problematik entsteht nur dann, wenn die Narrativität von Geschichtsschreibung so interpretiert wird, daß der Leitfaden, dem jede Erzählung folgt, Geschichte als Totalität von Vergangenheit aus dem Umkreis erzählbarer Vergangenheit ausschließt. Das ist insofern richtig, als die ganze Geschichte nicht erzählt werden kann. Wohl aber muß sie auch (theoretisch) gedacht werden, damit vergangene Handlungsfolgen richtig erzählt werden können. >Richtig< soll heißen: konform mit den Entwürfen einer Totalität, durch die Vergangenheit als eigener Erfahrungsbereich erschlossen und zugleich auf identitätsträchtige gegenwärtige Handlungsorientierungen hin notwendig bezogen wird. Geschichten, die solchen Entwürfen als Leitfäden verpflichtet sind, sind theoriegeleitet und hören dadurch nicht auf, narrativ zu sein.176 6. Über einige Unterschiede in der Bildung und Verwendung von Theorien für historische Zwecke Pie bisherigen Überlegungen galten dem Problem der Theorieförmig-keit des historischen Denkens überhaupt und bezogen sich überwiegend auf Theorien des zeitlichen Gesamtzusammenhangs vergangenen menschlichen Handelns. Die Geschichtswissenschaft - so war meine These - braucht solche Theorien, um Forschung und Geschichtsschreibung vernünftig zu organisieren. Es bleibt aber zu bedenken, daß die Historiker im Umgang mit den Quellen gar nicht direkt mit solchen Globaltheorien arbeiten, sondern mit Theorien eines anderen Typus. Wenn sie zeitlich begrenzte Handlungsfolgen und -komplexe aus den Quellen rekonstruieren und interpretieren, verwenden sie Bezugsrahmen, die in ihrer Reichweite mit der zeitlichen Begrenzung der gewählten Untersuchungsgegenstände zusammenfallen. Sie bemühen nicht gerade Theorien der Menschheitsentwicklung, um einzelne Sachverhalte, wie etwa eine Revolution, eine wirtschaftliche Krise, eine Phase der Bevölkerungsentwicklung in einem bestimmten Lande und ähnliches, im Rückgriff auf die Quellen zu interpretieren und darzustellen, sondern sie werden dazu partielle, auf einzelne Zeitabschnitte und Sektoren des menschlichen Handelns beschränkte Theorien entwickeln und verwenden. Beispiele solcher Theorien sind die gar nicht immer und primär von Historikern ausgebildeten, aber immer weniger von Historikern außer acht gelassenen Theorien des Imperialismus, Revolutionstheorien, Theorien der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in bestimmten Epochen. Damit sind bereits zwei Typen von Theorien angedeutet, die die Praxis der Geschichtswissenschaft maßgeblich bestimmen. Sieht man genauer hin, dann lassen sich weitere Typen ausmachen, die auf unterschiedliche Weise in historische Interpretationen eingehen. Insgesamt möchte ich zur systematischen Analyse des Theoriegebrauchs in der Geschichtswissenschaft folgende Unterscheidungen vorschlagen: a) Theorien des geschichtlichen Charakters menschlichen Handelns; b) Theorien eines zeitlichen Gesamtzusammenhangs vergangener Weltveränderungen durch menschliches Handeln; c) Theorien partieller Handlungskomplexe der Vergangenheit; d) Theorien gegenwärtiger Verhältnisse; e) theoretisch-normative Orientierungen gegenwärtiger Praxis; f) Theorien mit hilfswissenschaftlichen Funktionen. 124 125 a) Theorien des geschichtlichen Charakters menschlichen Handelns legen fest, aufgrund welcher Eigenschaften menschliches Handeln generell als geschichtlich angesprochen wird. Sie charakterisieren diejenigen Handlungsvorgänge, in denen der Zeitablauf von Handeln ein Bestimmungsgrund für Handeln selber wird, in denen also (Hegelis^ gesprochen) die Zeit des Handelns nicht etwas an ihm bleibt, sondern etwas für es geworden ist. (>Gewordcn< ist hier natürlich nicht zeitlich gemeint, sondern strukturell.) Sie zerlegen Handeln als Vollzug menschlichen Lebens in einzelne Faktoren, heben diejenigen Zusammenhänge zwischen den Faktoren hervor, die die weltverändernde Dynamik des Handelns ausmachen, und bringen sie in die Form allgemeiner Regeln. Solche Theorien sind keine Theorien wirklicher, d. h. chronologisch identifizierbarer Zeitabläufe menschlichen Handelns, sondern Theorien aller möglichen Geschichte.177 Sie grenzen aus dem Gesamtbereich aller möglichen Erfahrungen den Bereich geschichtlicher Erfahrungen heraus und ordnen ihn nach obersten Gesichtspunkten. Hierhin gehören Unterscheidungen von Natur und Geschichte, Aussagen über allgemeine Zeitstrukturen des menschlichen Handelns, d. h. überhaupt alle Theorien, die die Geschichtlichkeit des Menschen, sei es generell oder bezogen auf einzelne Komplexe seiner Lebensregelung (Bedürfnisse, Arbeit, Herrschaft, Sprache usw.), thematisieren. Als Beispiele178 seien genannt: die im Historismus zentrale Theorie der gattungsspezifischen Intentionalität des menschlichen Handelns als schaffender Kraft< menschlicher Weltveränderung. (>Ideen<); Jacob Burckhardts Theorie der drei Potenzen und sechs Bedingtheiten; Marx' Theorie der >Ersten geschichtlichen Tat< als Produktionsmittelerzeugung und Generierung neuer Bedürfnisse;179 Max Webers soziologische Grundbegriffe^180 b) Theorien eines zeitlichen Gesamtzusammenhangs vergangener Weltveränderungen durch menschliches Handeln entwerfen Bezugsrahmen, in denen chronologisch identifizierbare vergangene Handlungen durch ihre synchrone und diachrone Beziehung zu anderen Handlungen charakterisiert werden können. Sie ordnen den Zeitablauf menschlicher Weltveränderungen unter obersten Gesichtspunkten ihrer Bedeutung für die Gegenwart und transformieren dadurch Naturzeit in Geschichtszeit; aus Abläufen werden Entwicklungen, aus Weltzeit wird Systemgeschichte.181 Solche Theorien ermöglichen allgemeine Periodisierungen; sie legen Gleichzeitigkeit und Ungleich-zeitigkeit realer vergangener Handlungen nichtchronologisch (>chro- 126 Il0|ogisch< im Sinne von >naturzeitlich<) nach Kriterien ihrer inneren ^eitspezifik fest. Mit ihnen lassen sich Zeitfolgen realer vergangener Handlungen als Beschleunigungen, Regressionen, statische oder dy-Birnische Prozesse interpretieren. Hierhin gehören: Theorien der sozialen Evolution, der Kulturentwicklung; genetische Theorien gat-tungssp^ifi^he1' Kompetenzen; alle auf reale chronologische Abläufe bezogenen Fortschritts-, Verfalls- und Zyklen-Theorien mit ihren j^ischformen; alle allgemeinen Periodisierungen; Unterscheidungen von Vorgeschichte und Geschichte; Entwürfe von universalhistorischen Typologien und schließlich auch (freilich nur als Verfallsprodukte) die Buchdeckclsynthesen moderner Weltgeschichten. Als Beispiele seien genannt: die natural history der schottischen Aufklä-rtingshistorie; »[...] die allgemeinsten Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung, die den Gegenstand des historischen Materialismus bilden«;'8-5 Max Webers These von der universalen Rationalisierung und Entzauberung.184 c) Theorien partieller Handhmgskomplcxe der Vergangenheit sind ßczugsrahmen, in denen begrenzte, chronologisch und geographisch fixierte zeitliche Handlungsfolgen interpretiert werden. Jürgen Kocka hat sie folgendermaßen definiert: »Explizite und konsistente Begriffs-und Kategoriensysteme, die der Erschließung und Erklärung von bestimmten historischen Phänomenen und Quellen dienen, aber nicht hinreichend aus den Quellen abgeleitet werden können.«185 Ihre Leistungen lassen sich (in enger Anlehnung an Kocka186) folgendermaßen charakterisieren: Sie regeln nach der Wahl des Untersuchungsgebietes bzw. nach der Festlegung des historiographischen Themas die Auswahl des Untersuchens- bzw. Darstcllenswerten, indem sie festlegen, was an Quelleninformationen wesentlich und wichtig ist und was nicht; sie entwickeln »f.. .J überprüfbare Hypothesen zur Verknüpfung der untersuchten Wirklichkeitsbereiche«,187 und zwar sowohl in synchroner Hinsicht, die funktionale und strukturelle Beziehungen zwischen Teilbereichen komplexer Sachverhalte betrifft, wie auch in diachroner Hinsicht, die Ursachen, Triebkräfte, Bedingungen und Polgen von Veränderungen durch Handeln betrifft; sie ermöglichen eine genaue zeitliche Abgrenzung der untersuchten Phänomene und eine genaue Unterscheidung verschiedener Entwicklungsebenen und Abläufe; sie ermöglichen synchrone und diachrone Vergleiche und dienen schließlich zur Ausbildung und Verwendung spezieller Theorien, die Teilbereiche des Untersuchungsgegenstandes betreffen. Bei- spiele sind: Theorien des Imperialismus, des Faschismus, der Revolul tion. d) Theorien gegenwärtiger Verhältnisse charakterisieren den lebensweltlichen Zusammenhang, in dem die Geschichtsforschung und die Geschichtsschreibung stehen. Sie dienen dazu, vergangene zeitliche Handlungsfolgen den Umständen zuzuordnen, unter denen gegenwärtige gesellschaftliche Praxis erfolgt, solche Zuordnungen und die aus ihnen folgende Perspektivik historischer Rekonstruktionen der Vergangenheit zu explizieren und zu begründen und die damit verbundene Wahl der historischen Interpretationsrahmen zu rechtfertigen. Sie formulieren Gegenwartserfahrungen als Handlungsbedingungen, an denen historische Identitätsbildungen ausgerichtet werden müssen, wenn sie tragfähige Zukunftsperspektiven eröffnen sollen. Hierhin gehören alle diejenigen sozialwissenschaftlichen Theorien, die aktuell gegebene gesellschaftliche Verhältnisse und aktuell sich vollziehende Vergesellschaftungsprozesse nicht in Form eines technisch verwertbaren Wissens, sondern in Form von Zeitdiagnosen begreifen. Beispiele sind Hans Freyers Theorie des gegenwärtigen Zeitalters1** und Jürgen Habermas' Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus}^ Hierhin gehören auch aus der Tradition der Geschichtswissenschaft die Politiken, die führende Vertreter des Historismus im 19. Jahrhundert (wie Droysen, Sybel, Treitschke, Dahlmann und andere) als Bezugsrahmen der Gegenwartsorientierung ihrer Historiographie expliziert haben.190 e) Theoretisch-normative Orientierungen gegenwärtiger Praxis bilden normative Bezugsrahmen, die die mögliche Bedeutung vergangenen menschlichen Handelns für die gegenwärtige Selbstverständigung von Handlungssubjekten festlegen. Sie explizieren und begründen systematisch die Normen, auf die bezogen Gegenwartserfahrungen zu einer nichttechnischen, sondern zeitdiagnostischen Handlungsorientierung verarbeitet werden können. Sie sind daher eine notwendige Voraussetzung für die Theorien gegenwärtiger Verhältnisse, die in Entwürfe historischer Identitäten eingehen. Sie überschreiten den Horizont der Erfahrung gegenwärtiger Handlungsumstände, indem sie Absichten formulieren, in denen diese Umstände selber zu Objekten von Handlungen werden. Auf die Vergangenheit zurückgewendet, organisieren sie systematisch die historische Urteilsbildung; sie bilden deren Maßstab, insofern vergangene zeitliche Handlungsfolgen da- „ach beurteilt werden, ob und in welchem Ausmaß sie als genetische Voraussetzungen für normativ projektierte zukünftige Handlungen interpretiert werden können. Hierhin gehören alle systematisch entfalteten und begründeten Normierungen von Praxis: nicht-formalistische Ethiken, normative politische Theorien, nauirrechtliche Systeme, Interpretationen von Handlungsmustern als >klassisch<, Theorien der Emanzipation und der menschlichen Freiheit. Als Beispiele solcher systematisch ausgearbeiteten Handlungsorientierungen, die auch auf historisches Denken paradigmatisch durchgeschlagen sind, sei auf die Bedeutung des Naturrechts für die Aufklärungshistorie, politischer fslormen der bürgerlichen Emanzipation für die liberale Geschichtsschreibung und natürlich der Kommunismusvorstellung für die marxistische Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung hingewiesen. f) Theorien mit hilfswissenschaftlichen Funktionen sind alle die Resultate nomologischer Wissenschaften, die zur Rekonstruktion vergangener menschlicher Handlungen verwendet werden können. Mit ihnen werden qucllenkritische Probleme gelöst, natürliche Bedingungen und technische Voraussetzungen von Handeln festgestellt und Handlungszusammenhänge durch Rekurs auf allgemeine (nicht zeitspezifische) Gesetzmäßigkeiten erklärt. Hierhin gehören Datierungen von Quellen aufgrund ihrer natürlichen Eigenschaften mit Hilfe naturwissenschaftlicher Erkenntnisse; Abschätzungen von Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen und Ereignisfolgen durch Verwendung der Erkenntnisse derjenigen Wissenschaften, zu deren Gegenstandsbereich Ereignisse gleicher oder ähnlicher Art gehören; Charakterisierungen innerer und äußerer Handlungsumstände, die nicht schon hinreichend aus geschichtlichen Entwicklungen folgen. Besonders instruktive Beispiele solcher hilfswissenschaftlichen Theorien sind die Datierungsmethoden, die auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Als Beispiel für eine nomologische Erklärimg mit Hilfsfunktion Rheine historische Interpretation mag das von Max Weber mehrfach bemühte Greshamsche Gesetz genannt werden, mit dem Phänomene der Geldzirkulation in historischen Zusammenhängen (nicht: als historische Zusammenhänge) erklärt werden können.191 12 129 7- Über narrativen Theoriegebrauch Die Erzählung ist die angemessene Form, um Aussagen über ge_ schichtliche Zusammenhänge von Handeln zu machen. Sie ist »Minie-sis des Werdens«192; sie bringt zum Ausdruck, daß Zeitfolgen von Handeln einen Sinn haben (können), der sich auf Orientierungsprobleme gegenwärtigen Handelns beziehen läßt. Theorien sind - auf den ersten Blick - ganz andere Formen von Aussagen darüber, wie Geschehnisse aufeinander folgen: Sie besagen, daß ein Geschehen unter bestimmten Bedingungen immer so und nicht anders abläuft, und dienen zur Erklärung dafür, warum etwas unter bestimmten Bedingungen so und nicht anders geschehen ist oder geschehen wird. Sie scheinen also gerade von der Zeitspezifik abzusehen, die durch Erzählen zum Ausdruck gebracht wird. Dies ist augenfällig bei den in der Geschichtswissenschaft hilfswissenschaftlich verwendeten nomologi-schen Theorien. Gilt dies aber für alle Theorietypen, die in der Arbeit der Historiker vorkommen? Theorien des geschichtlichen Charakters menschlichen Handelns sind keine Erzählungen, sondern Aussagen darüber, was menschliches Handeln eigentlich erzählbar macht. Sie thematisieren nicht ein bestimmtes Werden, dessen gedankliche Mimesis eine Erzählung, eine Geschichte wäre, sondern Werden überhaupt, das sich wohl denken, nicht aber erzählen läßt. Anders ist es mit den Theorien eines zeitlichen Gesamtzusammenhangs und mit den Theorien partieller zeiti licher Handlungskomplexe. In ihnen wird jeweils ein Werden thematisch, - sie sind also auf etwas bezogen, das als Geschichte begriffen und durch eine Erzählung zur Sprache gebracht werden muß. Aber sie sind deshalb noch keine Erzählungen, keine mimetischen Darstellungen zeitlicher Handlungszusammenhänge; eine Theorie des Imperialismus ist noch keine Geschichte des Imperialismus. Wären sie es, hätte es keinen Sinn mehr, Theorien hinsichtlich der für sie spezifischen (und problematischen) Form historischer Aussagen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung meinte Max Weber, als er betonte, »[...] daß idealtypische Entwicklungskonstruktion und Geschichte zwei streng zu scheidende Dinge sind.«193 Historische Theorien konstruieren Geschichten, sie erzählen sie nicht. Ist eine historische Erzählung Mimesis eines Werdens, so ist die für sie einschlägige Theorie eine Konstruktion dieses Werdens. Theorien sind also Konstruktionen, nach denen erzählt werden kann, sie sind sozusagen Erzählgerüste, Baupläne von Geschichten.194 130 jch möchte also behaupten, daß es eine theorielose Geschichte gar jiicht gibt. Jeder Geschichte liegt ein konstruktiver Entwurf des zu grzählenden zugrunde, den ich narratives Konstrukt nennen möchte. historische Theorien sind explizite und begründete narrative Kondukte. Der Terminus >Theorie< soll besagen, daß solche Entwürfe yon Geschichten nicht beliebig sind, sondern vielmehr in die Form von begründeten Aussagen über zeitspezifische Handlungszusam-0ienhänge gebracht werden müssen, wenn die Geschichten, die nach ihnen organisiert werden, gut begründete Geschichten sein sollen, penn Geschichten sind nicht dann gut begründet, wenn das, was sie erzählen, sich wirklich ereignet hat. Da ich dieselben Ereignisse auch in durchaus unterschiedlichen, ja einander widersprechenden Geschichten erzählen kann, bezieht sich die Begründbarkeit einer Geschichte als Geschichte nicht ausschließlich auf ihren Erfahrungsge-halt; - sie bezieht sich vielmehr auf die narrative Organisation dieses Gehaltes zu einer Geschichte durch die allgemeinen Hinsichten, nach denen die Quellenaussagen zu Zeitzusammenhängen menschlicher Weltveränderung durch Handeln geordnet werden. Die Begründbarkeit einer Geschichte hängt also von dem narrativen Konstrukt ab, von dem Gebrauch gemacht wird, wenn Erfahrungen von vergangenen I landlungen und ihren zeitlichen Zusammenhängen zu Geschichten verarbeitet werden. Diese Geschichten stehen nicht so in den Quellen, daß sie aus ihnen (quellenkritisch) erhoben werden könnten. Sie werden als Entwürfe an die Quellen herangetragen und mit solchen Entwürfen als Bezugsrahmen einer historischen Interpretation der Quellenaussagen erzählt. Diese Entwürfe sind nicht schon von vornherein >Theorien(; erst dann, wenn sie zu einem komplexen Hy-pothesengeflecht ausgearbeitet und eigens begründet werden, also als ein Organon der historischen Forschung und der Geschichtsschreibung methodisch entwickelt und für sich diskutiert werden können, gewinnen sie die Form historischer Theorien und stellen sich als Theorien partieller Handlungskomplexe der Vergangenheit dar.195 Abgesehen von den hilfswissenschaftlichen Theorien, dienen sämtliche Theorieformen dazu, Entwürfe von Geschichten zu narrativen Konstrukten auszuarbeiten. In ihrer je eigenen Typik werden sie nicht direkt als Mittel der historischen Forschung und der Geschichtsschreibung verwendet (mit Ausnahme der Theorien eines zeitlichen Gesamtzusammenhangs für Universal- oder Weltgeschichten). Denn wie läßt sich ein narratives Konstrukt theoretisch erstellen? Um diese Frage zu beantworten, ist es nötig, die hinreichenden Bedin- 131 gungen dafür zu nennen, daß ein Zusammenhang von Aussagen als Geschichte in dem Sinne verstanden werden kann, wie Historiker Geschichte schreiben. - Am Anfang jeder Geschichte steht (genetisch gesehen) nicht ihr Anfang, sondern ihr Ende: Einem Resultat vergan. genen menschlichen Handelns wird eine solche Bedeutung für gegenwärtiges Handeln beigemessen, daß seine Genese (wie es eigentlich geworden) zu kennen wichtig wird. Die Genese ist dann gegeben, wenn eine zu diesem Resultat führende empirische Handlungsfolge gefunden worden ist, deren Sinn die in Frage stehende Bedeutung aufklärt. (Der Anfang der Handlungsfolge ergibt sich daraus, daß nur soweit zeitlich rückwärts gegangen zu werden braucht, bis sich der gesuchte Sinn ergibt). Jede Geschichte handelt also von vergangenen Zeitfolgen menschlichen Handelns; sie hat einen Anfang und ein Ende; sie präsentiert diese Zeitfolge als einen Sinnzusammenhang, der für gegenwärtiges Handeln eine Bedeutung hat. Ihr narratives Kon-strukt legt fest, welches zeitlich und räumlich identifizierbare Handeln in Frage kommt, wonach Anfang und Ende bestimmt werden und welcher Sinn ihr aufgrund welcher Bedeutung zukommt. Dieses Konstrukt in Theorieform zu bringen, heißt, den gewählten Erfahrungsinhalt, die gewählte Zeitsequenz und die gewählten Bedeutungsaspekte zu explizieren und zu begründen. Dies geschieht folgendermaßen: Durch Theorien gegenwärtiger Verhältnisse und theoretisch-normative Orientierungen gegenwärtiger Praxis werden Bedeutungsaspekte für reale (noch: gegenwärtige) Voraussetzungen, Bedingungen, Umstände und Vollzüge von Handlungen festgelegt. Durch Theorien des geschichtlichen Charakters menschlichen Handelns werden mögliche Sinnzusammenhänge zeitlicher Handlungsfolgen festgelegt. Werden nun die Gegenwartstheorien (Typ d und e) auf die Geschichtlichkeitstheorien (Typ a) bezogen, dann ergibt sich aus möglichen Sinnzusammenhängen ein Zeitraster wirklicher Handlungsabläufe, und mit diesem Raster werden diejenigen Zeitsequenzen zeitlich und inhaltlich abgegrenzt und allgemein charakterisiert, die für die speziell gewählten Bedeutungsaspekte und Gegenwartserfahrungen als historisches Pendant in Frage kommen. Damit ist ein narratives Konstrukt ausgearbeitet. Ich möchte dies am Beispiel des Weberschen Konstrukts einer Geschichte von der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus erläutern (d. h. nicht, daß ich die Geschichte erzählen will, wie es zu Webers bekannter historischer These gekommen ist, sondern daß ich die theoretischen Begründungen dafür angeben will, die erfüllt sein mußten, damit es zur Konzeption dieses - in einer Geschichte erzählbaren - historischen Zusammenhangs kommen konnte). Paß der Kapitalismus die »schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens« ist, 96 stellt zusammen mit der These der »[...] absolut unent-cinnbare(n) Gebanntheit unserer Existenz, der politischen, technischen und wirtschaftlichen Grundbedingungen unseres Daseins, in Jas Gehäuse einer fachgeschulten Beamtenorganisation«197 die Quintessenz der Weberschen Theorie gegenwärtiger Verhältnisse dar. Ähnlich läßt sich seine theoretisch-normative Orientierung der gegenwärtigen Praxis zu der zentralen Frage< zusammenfassen, »[...] was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bürokratischer Lebensideale«.198 Werden diese beiden Aspekte auf die Gegenwart bezogen, dann erscheinen dominie-[rende Gegenwartserfahrungen im Lichte einer obersten Handlungsabisicht. Webers allgemeine Geschichtlichkeitstheorie steckt in seinen soziologischen Grundbegriffen^199 Sie expliziert die geschichtskon-stituierende Dynamik menschlicher Weltveränderung als eine interessengebundene und interpretationsgeformte Intentionalität200 menschlicher Vergesellschaftung. Bezieht man diese Theorie auf die Gegenwartstheorie der schicksalhaften Bedeutung der Bürokratisierung und des Kapitalismus und auf die normative Absicht auf freie Subjektivität, dann ergibt sich als Theorie eines zeitlichen Gesamtzusammenhangs die bekannte These von der universalen Rationalisierung und 'Entzauberung, die W.J.Mommsen so zusammengefaßt hat: »Der Prozeß der Geschichte [...] läßt sich [...] in dem Bilde eines stetigen Gefälles von überwiegend charismatischen zu traditionalen und schließlich zu bürokratischen Lebens- und Herrschaftsformen beschreiben, das immer wieder ganz oder teilweise von charismatischen Eruptionen durchbrochen und in neue Richtungen gelenkt wird«.201 Bezieht man nun diese Theorie auf die Frage nach der Bedeutung der Religion für die Entstehung des Kapitalismus und grenzt dadurch die entsprechenden historischen Erfahrungsbereiche und Handlungssequenzen heuristisch ein, dann ergibt sich das narrative Konstrukt einer Geschichte, die den historischen Zusammenhang zwischen der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus präsentiert. Natürlich ist diese Skizze eines narrativen Konstrukts selber konstruiert. Ich behaupte nicht, daß alle Historiker so vorgegangen sind oder so vorgehen müssen, wenn sie eine Geschichte entwerfen, wohl aber, daß sich die Baupläne ihrer Erzählungen zu Theorien explizieren und 132 133 als Theorien begründen lassen. Es lassen sich die dafür in Anspruch zvifl nehmenden Theoriebereiche und Theorieformen auch anders vonein-l ander unterscheiden und aufeinander beziehen, und sicher müssen diel hier entwickelten Vermittlungen zwischen verschiedenen Theorie-Ar-1 ten genauer untersucht werden, um die Eigenart narrativer Kon-strukte weiter zu explizieren und zu begründen. (Analysen einzelner historiographischer Werke unter dem Gesichtspunkt ihres narrativen Aufbaus durch Theoriegebrauch könnten hier wertvolle Aufschlüsse geben.) Entscheidend aber ist, daß historische Erzählungen, soll die Art, wie in ihnen Vergangenheit narrativ erinnert wird, nicht willkürlich sein,, sondern begründet werden, theoriebedürftig und theoriefähig sind. Ohne explizite Theorien sind historische Erzählungen nur mimetisch. I Ihre Anschaulichkeit und Plastizität verleihen ihnen einen ästhetischliterarischen Wert, - ihre Begründungen aber bergen sie nicht in sich. Durch Theorien werden historische Erzählungen konstruktiv. Damit wird ihr mimetischer Charakter nicht aufgehoben, nur gehen ihre Anschaulichkeit und Plastizität zugunsten eines Gewinns an Trennschärfe und Präzision verloren,202 - zugleich aber haben die historischen Erzählungen ihre Begründungen in sich. Damit müssen sie nicht notwendig ästhetisch wertlos werden (denn dann wären dies auch viele bedeutende moderne Romane). Die Charakterisierung von Historiographie als narrative Rekonstruktion gewinnt erst hier den genauen Sinn, daß historische Erzählungen vernunftfähig sein können; denn mit ihrem konstruktiven Charakter realisiert eine historische Geschichte die Begründungen, die sie erst vernünftig machen.203 Sie gewinnen die für die Geschichte als Wissenschaft wesentliche >narra-tive Prägnanz«.204 Begründungen, welche Geschichtsschreibung vernünftig zu machen vermögen, werden nicht schon dadurch hinreichend realisiert, daß ihr Erfahrungsgehalt nach den Regeln der historischen Methode gewonnen und gesichert wird.205 Erst dann, wenn auch ihr Sinngehalt begründet wird, wird sie in der eingangs erwähnten doppelten Weise vernünftig: Sie ist dann eine Geschichte, der ich nicht nur zustimme, weil das, was sie als Vergangenheit präsentiert, an den Quellen überprüfbar, also empirisch allgemeingültig ist, sondern auch deshalb, weil die Bedeutung, die diese Vergangenheit als Geschichte hat, an Theorien überprüfbar, also theoretisch allgemeingültig ist. Narrativer Theoriegebrauch ist also die Weise, in der man Geschichte vernünftig schreiben kann. V. Geschichtsschreibung als Theorieproblem der Geschichtswissenschaft Skizze zum historischen Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion The relation of writing history, of its rhetoric, to history itself is quite other than it has traditionally been conceived. Rhetoric is ordinarily deemed icing on the cake of history, but our investigation indicates that it is mixed right into the batter. It affects not merely the outward appearance of history, its delightfulness and seemliness, but its inward character, its essential function - its capacity to convey knowledge of the past as it actually was. And if this is indeed the case, historians must subject historiography, the process of writing history, to an investigation far broader and far more intense than any that have hitherto conducted. J. H.HEXTER206 I. Der Verlust des Problems im Wandel der Reflexionsperspektive Gerhard Ritter soll einmal gesagt haben, der gute Historiker sei zu neunzig Prozent guter Stil. Wer sich berufsmäßig mit vielen Texten aus der Feder angehender, aber auch gestandener Historiker befassen muß, wird an diesem Diktum etwas Wahres finden. Erst recht werden diejenigen es für berechtigt halten, die bei der Formulierung eigener Texte um jeden Satz kämpfen. Dennoch wird heute die Kompetenz für Geschichtsschreibung nicht primär als stilistische angesehen, sondern als Fähigkeit definiert, den Stand der Forschung zu rezipieren und kritisch zu beurteilen, und anspruchsvolle Geschichtsschreibung beruht fast immer auf eigenen Forschungen. Die Forschungskompetenz ist somit der literarischen offenkundig übergeordnet, zumindest dort, wo Geschichte von Wissenschaftlern geschrieben wird. Wieso ist dann - einmal abgesehen von den Annehmlichkeiten eines gut geschriebenen historiographischen Textes - die Geschichtsschreibung ein Theorieproblem der Geschichtswissenschaft? Theorieprobleme gibt es, wo Theorien zum Zwecke der Erhebung geschichtlicher Sachverhalte aus den Quellen und zur Erklärung dieser Sachverhalte konstruiert werden, und wo die für die Geschichte als Wissenschaft maßgebenden Prinzipien der historischen Erkenntnis expliziert und begründet werden. Beide Aspekte spielen auch in der Geschichts- 134 r35 Schreibung eine Rolle. Verwendet man historische Theorien, um die menschliche Vergangenheit forschend zu rekonstruieren, so stellt sich unvermeidlich die Frage, ob und wie diese Theorien auch auf die historiographische Präsentation der Forschungsergebnisse einwirke«; und reflektiert man die Prinzipien der historischen Erkenntnis und vergißt dabei deren literarische Torrn nicht, dann läßt sich die Frage nicht umgehen, welche Bedeutung diese literarische Form für die der Geschichte als Wissenschaft eigentümliche Art und Weise des historischen Denkens hat. Die Theorieprobleme der Geschichtsschreibung sind im Laufe der Entwicklung des historischen Denkens höchst unterschiedlich verstanden worden. Zunächst stand sie als literarische Veranstaltung im Mittelpunkt der Reflexionen über die Aufgabe des Historikers und die kulturelle Funktion des historischen Denkens. Zuständig für diese Reflexion war die Rhetorik.208 Sie legte dar, mit welchen sprachlichen Mitteln der Zweck der Geschichtsschreibung, den Erfahrungsraum des menschlichen Handelns nach moralischen Kriterien zu erschließen, erreicht werden konnte, und rückte dabei den Historiker in die Nähe des Dichters. Die Verwissenschaftlichung des historischen Denkens führte dann zu einer ganz neuen Konstellation in der Reflexion der Geschichtsschreibung: Die Sachhaltigkeit der historischen Darstellung wurde nun zu einem Problem, das nicht mehr mit literarischen Mitteln bewältigt werden konnte, sondern einer ganz andern Lösung bedurfte. Die methodischen Fortschritte der Quellenkritik rückten das Geschäft des Historikers aus dem Umkreis der Orientierungskompetenz der Rhetorik heraus. In dem Maße, in dem die Geschichtsschreibung auf eine methodisch gesicherte Tatsachenerhebung aus den Quellen angewiesen war, erwuchsen der Reflexion über Eigenart und Aufgabe der Geschichtsschreibung ganz neue Problemstellungen. Es ging ihr nun nicht mehr vornehmlich um die sprachlichen Formen, durch die der Bereich der Zeiterfahrung im Umkreis der menschlichen Praxis nach moralischen Handlungskriterien erschlossen wird, sondern um methodische Operationen, durch die die Erkenntnis dieser Erfahrung geregelt und gesichert wird. War für die Rhetorik die Sachhaltigkeit der Geschichtsschreibung letztlich dadurch gewährleistet, daß ihre Darstellungsform dem moralischen Orientierungsbedürfnis des Publikums entsprachen, so wurde nun der durch methodischen Verstandesgebrauch erhobene und gesicherte Sachgehalt der Geschichtsschreibung zum Bestimmungsgrund ihrer Gestaltungsart. 136 pies läßt sich an zwei Beispielen gut illustrieren: am Bedeutungswandel des Terminus »historische Methode« und an der Rhetorik-Kritik der Historik. Bevor sich das historistische Paradigma in der Geschichtsschreibung durchgesetzt und institutionalisiert hatte, war historische Methode209 der Inbegriff der Darstellungsformen, mittels dessen die menschliche Vergangenheit vergegenwärtigt wurde. Seitdem sich die Geschichte als Fachdisziplin etabliert hatte und die Geschichtsschreibung zur Domäne von wissenschaftlich gebildeten Fachleuten geworden war, bedeutete historische Methode soviel wie Inbegriff der Regeln der historischen Forschung. Der in diesem Begriffswandel von »historischer Methode« sich spiegelnde fundamentale Wandel in den leitenden Gesichtspunkten des historischen Denkens führte auch zu einer scharfen Kritik an der Rhetorik. Rhetorik wird nun nicht mehr als Sicherung der formalen Kohärenz der Geschichtsschreibung verstanden, sondern als Lehre von Redekünsten, deren der Historiker nicht nur nicht bedürfe, um sein Publikum zu überzeugen, sondern die überdies die Wissenschaftlichkeit seiner Geschichtsschreibung gefährde. Typisch dafür ist eine Äußerung Droysens, in der ein »rhetorisches Kunstwerk« als Gegenteil seiner »historischen Darstellung« bezeichnet wird.210 Die Geschichtsschreibung wurde also der Direktive rhetorischer Kunstregeln der guten Rede entzogen und derjenigen eines fundamentalen Bezuges auf methodisch geregelte Forschung überantwortet. Geschichte zu erforschen ist aber nicht das gleiche wie sie zu schreiben. Die Geschichtsschreibung bleibt eine literarische Veranstaltung, und als solche stellt sie in der Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft (Historik) auch über die methodischen Fragen der Forschung hinaus ein Problem dar. Für diese nicht methodologisch zu lösenden Probleme fand der Historismus die Lösung einer hermeneutisch konzipierten Ästhetik.211 Programmatisch dafür ist Wilhelm von Humboldts berühmte Akademie-Abhandlung Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers.2*2 Hier werden keine Kunstregeln der Geschichtsschreibung entworfen, sondern beschrieben, wie die quellenkritisch ermittelten Tatsachen der menschlichen Vergangenheit zu einer in sich kohärenten Geschichte verknüpft werden müssen. Diese Verknüpfung habe nach dem Leitfaden der im vergangenen menschlichen Handeln wirksamen ideellen Triebkräfte der menschlichen Weltveränderung und Selbsthervorbrin-gung zu geschehen. Diese Ideen konstituieren nicht nur den geschichtlichen Charakter des menschlichen Handelns, indem sie der !37 1 zeitlichen Verknüpfung menschlicher Handlungen den Sinn einer kontinuierlichen Kulturschöpfung verleihen; sie sind auch in der historischen Erkenntnis als deren leitende Interessen wirksam. Die Geschichtsschreibung wird von diesem inneren Zusammenhang zwischen Subjekt und Objekt der historischen Erkenntnis hergeleitet. »Auf diese Assimilation der forschenden Kraft und des zu erforschenden Gegenstandes kommt allein alles an.«213 >Verstehen< ist der Inbegriff der geistigen Operationen, die diese Assimilation leisten. Und da durch diese Operationen die Tatsachen der Vergangenheit nach den Sinnkriterien einer (kultur-)schöpferischen Subjektivität historisch geordnet und vergegenwärtigt werden, kann Humboldt die Aufgabe des Geschichtsschreibers in Analogie zu derjenigen des Künstlers beschreiben, der ja auch die Selbst- und Welterfahrung handelnder Menschen im Lichte der obersten Sinnkriterien ihres Handelns erscheinen läßt. Für Humboldt besteht der Unterschied zwischen Künstler und Geschichtsschreiber lediglich darin, daß der eine die schöpferische Kraft seiner Subjektivität als freies Spiel der Einbildungskraft mit der Erfahrung zur Geltung bringt, während der andere diese seine Subjektivität »der Erfahrung und der Ergiündung der Wirklichkeit unterordnet«.214 Beide allerdings müssen die Faktizität empirischer Befunde ideengeleitet transzendieren, um in ihr die Spur des menschlichen Geistes sinnfällig werden zu lassen, der der Mensch immer schon folgt, wenn er absichtsvoll handelt. Der Historiker muß nach Humboldt also die Tatsachen, die ihm die Quellen liefern, transzendieren, um sie als Geschichte erkennen und darstellen zu können; er muß im Umgang mit ihnen die Fähigkeit der Kulturschöpfung einbringen, die seine eigene Subjektivität ausmacht, um Geschichte als Kulturschöpfung zu entschlüsseln. Humboldt hat in seinen Analysen dieser Leistung unterschieden zwischen einer historischen Forschung als Ermittlung empirischer Befunde des in der Vergangenheit Geschehenen und der Geschichtsschreibung als schöpferischem Akt, in dem das Geschehen erst den Charakter einer sinnvollen Geschichte erhalt. Die eigentlich historische Operation ist diejenige der Geschichtsschreibung, denn erst durch sie wird aus dem vergangenen Geschehen Geschichte. Die Frage, wie die historische Forschung und die Geschichtsschreibung miteinander vermittelt sind und ob es dazu besondere methodische Regeln gibt, blieb offen. Was folgt daraus für das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft, wie es sich in den Historiken des 19. Jahrhunderts artikulierte. Zwei ganz unterschiedliche Konsequenzen konnten aus jlumboldts Ausführungen gezogen werden. Für die eine ist die Histo-rjk von Gervinus typisch, für die andere die Historik von Droysen. Gervinus knüpft an die Tradition der Rhetorik an, indem er seine Historik als Poetik der Geschichtsschreibung konzipiert. Hier erscheint die Geschichtsschreibung selbst als derjenige Vorgang, in dem 311s den Quellenbelunden der Sinnzusammenhang des vergangenen menschlichen Handelns erschlossen wird und durch den der Historiker die »geschlossene und totale Wirkung des Kunstwerks mit seiner Erzählung« erzielt. 1 Es nimmt daher auch nicht wunder, daß die dabei maßgebende Operation als »dichterisches Verfahren«217 verstanden und die Profession des Historikers mit subjektiven (moralisch-politischen) Dispositionen identifiziert wird.218 Die Gegenposition dazu bezieht Droysens Historik. Sie rückt von Gervinus' Konzeption mit dem Argument entschieden ab, daß dort die Geschichtsschreibung »nicht aus dem Wesen und Begriff unserer Wissenschaft und ihrer Methode« hergeleitet werde219, daß sie also das Charakteristikum einer verwissenschaftlichten Geschichtsschreibung verfehle. Die geschichtstheoretische Pointe dieser Kritik besteht darin, daß sie von den gleichen, in Humboldts Programmschrift formulierten Voraussetzungen ausgeht, aber aus ihnen entgegengesetzte Konsequenzen zieht. Droysen stimmt mit Gervinus darin überein, daß die entscheidende historische Erkenntnisoperation, durch die aus den Tatsachen des vergangenen menschlichen Handelns (aus »Geschäften«) eine Geschichte wird, in der (hermeneutischen) Ermittlung der geistigen Triebkräfte dieses Handelns bestehe, der Ideen. Nur bestimmt Droysen diese Operation als methodischen Vollzug der historischen Forschung und nicht mehr als poetischen Vollzug der Geschichtsschreibung. Damit indes treibt er die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung auf die Spitze, nämlich auf den Punkt, wo die Quelleninformationen über die menschliche Vergangenheit in die Form einer Geschichte gebracht werden, die als Sinn- und Bedeutungszusammenhang zwischen gegenwärtigem und vergangenem menschlichen Handeln nicht in den Quellen steht. Auch für Droysen ist diese Übersetzung eine schöpferische Leistung des Historikers, in der er seine Subjektivität als Fähigkeit zur Sinngebung seines Handelns im gesellschaftlichen Leben der Gegenwart ins Spiel bringt; aber er expliziert sie im Hinblick auf die Rationalitätsstandards der historischen Forschung, die die Geschichte als Fachwissenschaft inzwischen erarbeitet hatte. Historische Interpretation erscheint nun als Forschungsleistung und nicht mehr als literarische Gestaltung. Sie ist kein 138 139 »dichterisches Verfahren« mehr, mit dem der Historiker die »geM schlosserte und totale Wirkung des Kunstwerkes« erzielt220; die ästhe J tische Freiheit des Geschichtsschreibers wird streng zurückgebundenl an die methodischen Regeln der historischen Forschung, die den Er-1 kenntnisfortschritt der Geschichtswissenschaft verbürgen. Dies hat für die Thematisierung der Geschichtsschreibung in der Hi-, storik weitreichende Folgen: Sie erscheint immer mehr als bloße-Funktion der historischen Forschung; sie verliert die Bedeutung eines Theorieproblems ersten Ranges und wird marginal; sie rückt buchstäblich ans Ende der Texte, in denen die Historiker sich und ihrerni" Publikum Rechenschaft über ihr Metier geben. Zwar hat es im Laufe1 der Wissenschaftsentwicklung nie an Stimmen gefehlt, die auf die Nähe der Geschichtswissenschaft zur Literatur als Kunst hinwiesen. Kein Geringerer als Theodor Mommsen hat der Historie sogar eine Professionalisierungsaufgabe an der Universität abgesprochen und den Geschichtsschreiber »mehr zu den Künstlern als zu den Gelehrten gerechnet«,221 und Trevelyan hat gegen Bury die Gleichrangigkeit von literarischer Qualität und Forschungsbezug der Geschichtsschreibung betont.222 Das Selbstverständnis der Fachhisroriker dürfte aber eher in der Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Kunst und in derjenigen Funktionsbestimmung der Geschichtsschreibung zum Ausdruck kommen, die Ernst Bernheim in seinem Lehrbuch der historischen Methode formuliert hat: »Es ist nur ein ererbtes Vorurteil, daß man die Geschichte eine Kunst oder zugleich Wissenschaft und Kunst nennt, ein Vorurteil, dem man nicht scharf genug entgegentreten kann, weil es den streng wissenschaftlichen Betrieb der Geschichte schädigt.«223 Diese radikale Entästhetisierung läßt als Funktion der Geschichtsschreibung nur noch übrig, »[...] die gewonnenen Forschungsresultate möglichst unentstellt zur Mitteilung zu brin- \ 224 gen«. Diese Auffassung hat sich als breiter Konsens unter den Fachhistorikern bis in die Gegenwart gehalten. Die Geschichtsschreibung war kein Thema mehr, das die Theorie-Diskussion in der Geschichtswissenschaft ernsthaft beunruhigt hätte, wenn sie dort überhaupt noch berücksichtigt wurde. Selbst dort, wo ihr noch Bedeutung beigemessen wurde, blieb sie letztlich eine abhängige Variable im Bedingungs-gefüge des historischen Denkens. So hat z.B. Theodor Schieder der Geschichtsschreibung folgende wichtige Funktion zugewiesen: »Die großen Sinneinheiten der Geschichte sind nicht offenbare, manifeste Gegebenheiten wie in den Kunstwissenschaften der großen Opera fr..], sondern sie werden erst manifest in den historischen Darstellungen. Darum stein und fällt die Geschichte als Wissenschaft mit der Anwendung der Mittel der Darstellung.«225 Dies könnte fast als Wie- iderentdeckung der ästhetischen Dimension der historischen Erkenntnis gelten, wenn Schieder in Übereinstimmung mit der generellen fendenz der Historik seit Droysen die Geschichtsschreibung letztlich nicht doch von der Forschung her bestimmt hätte: »Die Darstellungs-ferca ergibt sich nicht aus äußeren oder formalästhetischen Gesichtspunkten, sondern aus der Art unseres Fragens, und das bedeutet, unseres Forschens.«226 Dem entspricht auch der Befund, daß dort, wo der literarische Charakter der Geschichtsschreibung zur Debatte steht, sich die Historie eher »als Zuschauer, als interessierter, aber unbeteiligter Dritter« vorkommt, sich also nicht eigentlich angesprochen fühlt.227 Wie sehr der Problemverlust hinsichtlich der Geschichtsschreibung auch auf diejenigen durchgeschlagen ist, die sich finit den Formen der literarischen Darstellung wissenschaftlich beschäftigen, zeigt ein Blick in die einschlägige Literatur zur Theorie des Erzählens: Die Geschichtsschreibung wird hier als besondere Gattung so gut wie gar nicht beachtet.228 2. Die Wiederentdeckung des Problems im Streit um Theorie und Erzählung Warum kann es bei dieser Depocenzierung der Geschichtsschreibung als Theorieproblem der Geschichtswissenschaft nicht sein Bewenden .haben? Warum kann man sich nicht mit dem Diktum des Historikers Ibegnügen, der in vollem Bewußtsein des methodischen Fortschritts der Geschichtswissenschaft angesichts der immer weitergehenden Verwendung quantifizierender Methoden zur Geschichtsschreibung erklärte: »It will never be literatúre.«229 Der Grund dafür nimmt sich angesichts dieser Versicherung geradezu ironisch aus: Eben die durch den methodischen Fortschritt der historischen Forschung bewirkte fortschreitende Verwissenschaftlichung Ber Geschichtsschreibung, mit der ihr literarischer Charakter zunehmend in den Hintergrund des Selbstverständnisses der Historiker trat, ließ die Frage nach der methodischen Eigenständigkeit der Geschichtswissenschaft immer dringlicher werden und führte zur Wiederentdeckung der Geschichtsschreibung als Grundproblem der Geschichtswissenschaft. 140 141 Als Droyscn die historische Interpretation als eigentlich historische Erkenntnisoperatton von der Geschichtsschreibung abkoppelte u»4 zur methodischen Leistung der historischen Forschung verselbstän-. digte, vollzog er auf der Ebene einer theoretischen Reflexion der Grundlagen der Geschichtswissenschaft einen Rationalisierungsprozeß der historischen Methode nach, der dann über seine Methodologe hinausging: Über die ursprünglichen Methoden hinaus wurden iininer entschiedener analytische Verfahren in die historische Forschung einbezogen, die sich in den stärker nomologisch orientierten (Sozial-) Wissenschaften bewährt hatten.230 Damit wurde die im Historismus vorherrschende Abgrenzung der historischen von den nomologischen Wissenschaften mit dem Argument eines fundamentalen Unterschieds zwischen Verstehen und Erklären231 fragwürdig.232 Zugleich wurde es schon aus Gründen der disziplinaren Selbsterhaltung der Geschichtswissenschaft unumgänglich, Kriterien zu finden, mit denen ihre Eigenart und Aufgabe im Kontext mit anderen Wissenschaften eindeutig bestimmt werden können. Als dieses Kriterium hat sich inzwischen die narrative Struktur historischer Aussagen erwiesen.233 Und mit der Erzählung als fundamentalem Schema, das Aussagen über die menschliche Vergangenheit als genuin historische qualifiziert, wird die Ge-schichtsschreibung als der Vorgang thematisch, in dem die Geschichtswissenschaft diese ihre Eigenart als Wissenschaft realisiert. Dies bedeutet für die Historik eine neue Weichenstellung. Mit dem Narrativitätskriterium gewinnt die Geschichtsschreibung die Bedeutung zurück, die ihr (im Rahmen einer Historik) zuletzt noch Gervi-nus zugebilligt hatte. Natürlich wird damit der Ertrag der Historik in der Explikation der Grundlagen der historischen Forschung nicht überflüssig. Die Einsicht in die Logik der Forschung muß vielmehr vertieft werden durch eine Analyse ihrer narrativen Elemente und Faktoren. Dabei muß die gängige Funktionalisierung der Geschichtsschreibung auf die historische Forschung radikal überprüft und die Frage aufgeworfen werden, ob nicht Erzählstrukturen mit den ihnen eigenen ästhetischen, poetischen oder rhetorischen Prinzipien über die historische Methode als Inbegriff der Forschungsverfahren entscheiden. Dies läßt sich am Problem der Theoriebildung in der Geschichtswissenschaft deutlich zeigen. Die Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen historischer Theorien entzündete sich an den Versuchen, das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu den systematischen Sozialwissenschaften nicht mehr wie im Historismus als Abgrenzungsproblem zu behandeln, sondern im ginne einer Erweiterung des methodischen Arsenals der historischen Forschung über das Wissenschaftsparadigma des Historismus hinaus zu thematisieren. * Der Schwerpunkt der dafür einschlägigen Argumentation lag im Gebiet der Methodik, und wenn die Geschichtsschreibung in den Blick geriet, dann zunächst ganz im Sinne ihrer traditioneilen Funktionalisierung auf die Forschung hin. Die von der analytischen Geschichtsphilosophie erarbeitete Einsicht in die narrative Struktur der historischen Erkenntnis, die von Baumgartner tran-szendentalphilosophisch vertieft wurde23', erschien den Verfechtern eines methodischen Theoriegebrauchs in der historischen Forschung zunächst als Einwand gegen den Sinn ihres Unternehmens, Geschichte als historische Sozialwissenschaft zu konzipieren. Sie sahen in den Argumenten, mit denen die narrative Eigenart der historischen Erkenntnis begründet wurde, ein Plädoyer für eine erzählende Geschichtsschreibung im Stile des 19.Jahrhunderts, die sie durch eine I andere - eben an historischen Theorien orientierte - Form der historischen Darstellung ersetzen wollten.236 Da umgekehrt die Verfechter der Narrativitätsthese den Theorien, die als Bezugsrahmen der historischen Interpretation und ihr folgend auch der Geschichtsschreibung vorgeschlagen und eingeführt wurden, eine nomologische Struktur unterstellten, die gerade nicht die Kriterien spezifisch historischer Aussagen erfüllt, mußte ihnen eine Orientierung der Geschichtsschreibung an Theorien als schlechthin widersinnig, als Aufhebung der Eigenart des historischen Denkens erscheinen. Damit scheint eine Frontstellung zwischen Theorie und Erzählung in der Geschichtswissenschaft238 aufgebaut zu sein, die zur Entscheidung herausfordert, entweder im Namen der Geschichtsschreibung auf Theorien als Bezugsrahmen der historischen Forschung zu verzichten oder aber im Namen der Forschung die Geschichtsschreibung an solchen iiezugsrahmen zu orientieren. Diese Alternative ist prekär: Die methodologischen Fortschritte eines Theoriegebrauchs im Umgang mit den Quelleninformationen scheinen Eigenart und Eigenständigkeit der Geschichtswissenschaft zu negieren, und die Bewahrung dieser Eigenart und Eigenständigkeit scheint den Erkenmnisfortschrm der historischen Forschung zu blockieren. Als historische Pointe dieser Kontroverse sei noch auf eine bemerkenswerte Umkehrung der jeweils verwandten Argumentationsstrategien verwiesen: Die Verfechter einer Restriktion des methodischen Theoriegebrauchs zugunsten einer Bewahrung des erzählenden Charakters der Geschichtsschreibung reklamieren für sich das Erbe des 142 143 Historismus, wenn sie mit der narrativen Form historischer Aussagen argumentieren, während dieser die disziplinare Eigenart der Geschichtswissenschaft mit der historischen Methode begründete; die Verfechter einer Theoretisierung der historischen Interpretation nehmen demgegenüber für sich eine Uberwindung des Historismus in Anspruch und stimmen folglich mit ihm darin überein, daß darüber, wie die Geschichte geschrieben werden soll, die historische Methode und nicht die Form der Darstellung entscheidet. Diese Frontstellung ist unhaltbar, weil Erzählung und Theorie überhaupt keine Alternativen sind, die sich gegenseitig ausschließen.2^ Zwar rückt die Narrativitätsthese die Geschichtswissenschaft aus dem Bannkreis ihrer Unterwerfung unter die Rationalitätskriterien einer nomologischen Erklärung, aber sie kann nicht zur Austreibung no-mologischer Elemente aus den historischen Erklärungen verwendet werden, weil der Historiker stets Gebrauch von nomologischem Wissen in der Rekonstruktion der menschlichen Vergangenheit macht. Restriktiv ist diese These also nicht, wohl aber kritisch: Sie läßt lediglich einen hilfswissenschaftlichen Gebrauch nomologischen Wissens in den Operationen der historischen Interpretation zu und zeigt auf, daß eine Organisation dieser Operationen nach den Prinzipien einer nomologischen Erklärung widersinnig ist, weil dabei die für die historischen Aussagen fundamentale Form einer Erzählung verloren Damit ist aber das Problem eines methodischen Theoriegebrauchs in der Geschichtswissenschaft nicht erledigt. Denn der Vorschlag, Theorien zur historischen Interpretation der menschlichen Vergangenheit zu verwenden, bedeutet weder, daß jene Erkenntnisse verstanden werden sollen, die die Geschichtswissenschaft von nomologisch verfahrenden (Sozial-)Wissenschaften einfach übernimmt, noch will er die Verwendung von Theorien auf eine bloß hilfswissenschaftliche Punktion eingeschränkt wissen. >Theorien< meinen vielmehr explizite Bezugsrahmen der historischen Interpretation, und damit ist die Frage unabweisbar, ob und wie solche Bezugsrahmen der narrativen Struktur der historischen Erkenntnis entsprechen. Sieht man sie als explizite Leitfäden einer narrativen Rekonstruktion der menschlichen Vergangenheit an, dann sind sie im Kern narrativ; - sie sind ein organisierendes Prinzip der historischen Erzählung selber. In der Tat lassen sich historische Theorien so explizieren: In ihnen werden die leitenden Hinsichten dargelegt und begründet, in denen die Quellenbefunde als geschichtliche Zusammenhänge vergangenen menschlichen Handelns 144 lincl Leidens erscheinen. Geschichtsschreibung und historische Forschung sind dann keine Gegensätze mehr; die Forschung selbst ist iointer schon (in ihren leitenden Hinsichten) auf die Form einer >Ge-schichte< als Struktur historischer Aussagen ausgerichtet, und die Geschichtsschreibung ist die Fortsetzung der Forschung mit anderen (literarischen) Mitteln. pieses Vorabentworfensein der Forschung auf (mögliche) Geschichtsschreibung führt zu einer neuen Fragestellung: Sie muß den Voraussetzungen der methodischen Operationen der historischen Forschung nachspüren, in denen deren Ausrichtung auf eine (erzählbarc) Geschichte beschlossen liegt. Mit anderen Worten: Sie muß den Konstitutionszusammenhang der historischen Erkenntnis, der der Forschung und Geschichtsschreibung zugleich voraus- und zugrundeliegt, als geistige Aneignung der menschlichen Vergangenheit durch Erzählen aufweisen und die hier maßgebenden Faktoren systematisch untersuchen. 3. Zur Problemkonstellation heute Die Frage nach dem Erzählen als konstitutivem Akt der historischen Erkenntnis führt (zunächst) von den Problemen der historischen Forschung weg. Sie lenkt den Blick hinter sie zurück auf Vorgänge der Sinnbildung im historischen Bewußtsein, in denen sich aus den Tatbeständen des vergangenen menschlichen Lebens allererst so etwas wie eine erforschbare Geschichte bildet. Damit werden genau die schöpferischen Leistungen der menschlichen Subjektivität wieder thematisch, die Humboldt als >Aufgabe des Geschichtsschreibers« angesprochen und die Gervinus in den Mittelpunkt seiner Flistorik gestellt haue. Erzählen ist ein schöpferischer Akt der Zeitorienticrung des menschlichen Lebens, in dem sich die menschliche Vergangenheit überhaupt erst als Geschichte erschließt, in dem sich also auch so etwas wie historische Erfahrung erst bildet. Geschichte ist ein Sinngebilde des Menschen, in dem er seine Erfahrungen vom zeitlichen Wandel seiner Welt und seiner selbst auf sein Bedürfnis nach Selbstvergewisserung (oder Identitätsstabilisierung) in diesem Wandel bezieht, sich dabei diese Erfahrungen geistig aneignet und dadurch sein Handeln und Leiden in der Zeit orientiert, ja als Vollzug von Zeit intentional organisiert. Ein solches Sinngebilde kommt ohne die Tätigkeit der menschlichen Einbildungskraft nicht zustande. Max Weber, dem man 145 wohl kaum einen künstlerischen Umgang mit der Geschichte nachsa-1 gen kann, hat auf diese Fundierung jeder historischen Wissenschaft in schöpferischen Sinnbildungsprozessen der menschlichen Subjektivität nachdrücklich hingewiesen, indem er als »transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft« festhielt, »[...] daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zUr Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen«.241 Will die Historik nicht blind gegenüber diesen elementaren Vorgängen der historischen Bewußtseinsbildung sein, dann muß sie diese Tätigkeit der menschlichen Einbildungskraft als notwendige Bedingung der durch die Geschichtswissenschaft erbrachten historischen Erkenntnis berücksichtigen und die hier maßgebenden Bewußtseinsoperationen im einzelnen aufschlüsseln. Mit dieser Aufgabenstellung wird sie wieder zu dem, was sie vor ihrer Wendung zur Methodologie der historischen Forschung war: zur Poetik der Geschichtsschreibung oder - in moderner Terminologie - zur Pragmatik oder Rhetorik historiographischer Texte}*2 Sie kann nicht umhin, der historischen Erkenntnis eben die ästhetische, rhetorische oder textpragmatische Dimension wieder zuzusprechen, die sie als Sinngebilde erfahrungs-bezogener Zeitorientierung des menschlichen Handelns hat und die aus dem Blick geraten war, als die Geschichtsschreibung nur als Funktion der historischen Forschung erschien. Nun ist es nicht damit getan, den Historiker angesichts der in seinem Werk manifesten Sinnbildungsleistungen in die Nähe des Künstlers zu rücken und die Geschichtsschreibung als Detailproblem einer Theorie des Erzählens zu behandeln. Zwar kann die Historik nicht darauf verzichten, sich der historischen Einbildungskraft als Faktor in den Fundamenten der historischen Erkenntnis zuzuwenden, wenn sie wissen will, was Geschichtsschreibung ist; zugleich aber muß sie die historische Darstellung als eine spezielle Form des Erzählens von anderen (im engeren Sinne poetischen) Erzählformen abgrenzen. Sie muß die allgemeinen Kriterien einer solchen Abgrenzung entwickeln, mit denen zugleich die konkrete Mannigfaltigkeit der Geschichtsschreibung erschlossen werden kann. Sie muß gleichsam eine Strukturlandkarte der Geschichtsschreibung entwerfen, die klarmacht, in welche Darstellungsformen sich die historische Einbildungskraft umsetzen kann und welche Faktoren hier den Ausschlag für unterschiedliche Formen geben. Die in der Theoriediskussion der Geschichtswissenschaft bisher verhandelte narrative Struktur der historischen Erkenntnis nimmt sich angesichts der Vielfalt historischer Darstellungsformen inhaltsleer und abstrakt aus. Die Frage nach der Rolle der Einbildungskraft in der Konstitution von Geschichte als Sinngebildc der menschlichen Zeitorientierung kann als ein erster Schritt zu einer Theorie der Geschichtsschreibung gewertet werden, die die Vielfalt der Formen der historischen Darstellung systematisch erschließt. Bliebe der Historiker jedoch bei einer Poetik der Geschichtsschreibung stehen, die lediglich auf die schöpferische Subjektivität des Geschichtsschreibers rekurriert {wie bei Humboldt und Gervinus), dann geriete sie in die Schwierigkeit eines ästhetischen Subjektivismus, in dem der Historiker als Genius zeitorientierender Sinnstiftungen fungierte, ohne daß damit schon die formalen Strukturen der Geschichtsschreibung in ihrer inneren Kohärenz und in ihren je unterschiedlichen Präsenta-cionslcistungen von Geschichte deutlich würden. Eine subjektivitäts-orientierte Ästhetik der Geschichtsschreibung ist noch keine befriedigende Antwort auf die Frage nach den Formen der Geschichtsschreibung. Wie ist eine solche Antwort möglich? In welche Richtung muß die Historik über die noch immer zu abstrakte Ästhetik der Geschichtsschreibung hinausgehen, um die formale Ausdifferenzierung des Sinngebildes »historische Erzählung< in den Griff zu bekommen? Sicher ist der von Droysen gewiesene Weg, diese Ausdifferenzierung von den Strategien der historischen Forschung herzuleiten, nicht gangbar, weil dieser Strategie selbst schon die Vorgaben der historischen Einbildungskraft bestimmend zugrundeliegen. Es liegt nahe, statt dessen nach den sprachlichen Formen der Geschichtsschreibung zu fragen und sie mit Hilfe des methodischen Instrumentariums der Textlinguistik zu analysieren. Dann würde die Sinnbildungsleistting der Geschichtsschreibung, als Weltaneignung durch Sprache verstanden, in der sprachlichen Artikulation von Geschichte konkret greifbar, und der Weg zu einer Analyse der mannigfaltigen Ausprägungen der Gattung >Geschichtsschrcibung< gewiesen. Historisch gesehen, führte dieser Weg zurück hinter die Ästhetik des Geschichtsschreibers zur Rhetorik der Geschichtsschreibung, also eben dorthin, wo die neuzeitliche Reflexion des historischen Denkens ihren Ausgang genommen hatte und die Geschichtsschreibung als dominierendes Problem thematisiert worden war. Diese Wendung vollzieht sich in der gegenwärtigen Diskussion über Grundlagen, Eigenart und Funktionen des historischen Denkens. Typisch dafür ist die Untersuchung von Hayden White*43, die Georg 146 '47 Iggers als »one of the important works of historical theory of the twentieth Century« bezeichnet hat.244 Hier wird die Narrativitätstheo-rie der historischen Erkenntnis zu einer allgemeinen Poetik der Geschichtsschreibung weitergeführt, die als Interpretationsrahmen zu einer Untersuchung konkreter Formen der Geschichtsschreibung (hier. der Geschichtsschreibung des [9.Jahrhunderts) dient, Diese Poetik der Geschichtsschreibung fragt nicht nach der Subjektivität des Historikers als Quelle seiner Sinnbildungskompetenz, sondern nach denjenigen Modi sprachlicher Darstellung von Erfahrungsdaten, die die Geschichtsschreibung konstituieren. Sie thematisiert nicht die Einbildungskraft des Historikers in Analogie zum Künstler, sondern das »historische Werk« in seiner sprachlich literarischen Verfassung: »In this theory I treat the historical work as what it most manifestly is: a verbal structure in the form of a narrative prose discourse. Histories (and philosophies of history as well) combine a certain amount of >data<, theoretical concepts for >explaining< these data, and a narrative structure for their presentation as an icon of sets of events presumed to have occurred in times past. In addition, I maintain, they contain a deep structural content which is generally poetic, and specifically linguistic, in nature, and which serves as the precritically accepted paradigm of what a distinctively >historical< explanation should be. This paradigm functions as the >metahistorical< element in all historical works that are more comprehensive in scope than the monograph of archival report. «245 Hayden Whites Arbeit markiert insoweit einen Wendepunkt in der gegenwärtigen Diskussion über die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, als die Einsicht in die narrative Struktur der historischen Erkenntnis hier zu einer Theorie der Geschichtsschreibung weiterentwickelt wird, die die historische Erkenntnis als konkretes sprachliches Gebilde aufschlüsselt. Diese Theorie beansprucht, alle wesentlichen Elemente und Faktoren der historischen Erkenntnis analytisch zu identifizieren, ihren inneren Zusammenhang systematisch aufzuweisen und dabei zugleich den Spielraum abzustecken, in dem sich die unterschiedlichen Formen der historischen Darstellung entfalten. Wenn es richtig ist, daß damit die Rhetorik wieder zum Bezugsrahmen für die Problemstellung und Problemlösung der Theorie der Geschichtswissenschaft geworden ist, dann liegt die Frage nahe, ob hier auf die neue Frage nach der Eigenart der historischen Erkenntnis nicht lediglich die alte Antwort gegeben wird, in der die Geschichte als Wissenschaft noch nicht thematisch war. Nun ist der Hinweis darauf, daß neue Fragestellungen zu Antworten 148 führen, die in einer älteren Tradition Vorläufer haben, noch kein entscheidendes Argument für oder gegen den neuen Ansatz. Wohl aber macht die historische Analogie auf ein Problem aufmerksam, das eine Theorie der Geschichtsschreibung von der Art Hayden Whites zu verstellen droht: Sie überwindet zwar die Funktionalisierung der Geschichtsschreibung auf die historische Forschung, durch die die Sinn-bjldungsleistungen des historischen Erzählens als fundamentale Vorgaben der historischen Interpretation aus dem Blick gerieten und als bloße Formulierung von Forschungsergebnissen mißverstanden wurden, - zugleich aber kann mit der falschen Funktionalisierung auch das Problem verlorengehen, das zu ihr geführt hat. 0ie Rhetorik wurde als Domäne der Theorie der Geschichtsschreibung nicht deshalb verdrängt, weil die Historiker über dem Staub des Quellenstudiums die Lust an einer kunstvollen, >schönen< Rede und auch die Absicht verloren hatten, mit ihren Werken beim Publikum etwas auszurichten - dagegen sprechen literarische Qualität und politische Wirkungsabsicht vieler historiographischer Werke in der Wissenschaftstradition doch wohl eine zu deutliche Sprache. Nein, es ging diesen Historikern um den Wissenschaftsanspruch ihrer Darstellungen, "den sie aufgrund der fachwissenschaftlich betriebenen, methodisch geregelten Forschungsarbeit erheben zu können und zu müssen meinten. Mit ihrer Kritik an der Rhetorik brachten sie ihr Selbstverständnis zum Ausdruck, daß ihre Sinnbildungsleistung primär in dieser Forschungsarbeit erfolge und nicht in der von der Rhetorik betonten Formulierungsarbeit. In den neuesten theoretischen und empirischen Untersuchungen der Historiographie wird betont, daß ohne eine vorgängige sinnbildliche Formulierungsarbeit gar keine Forschungsprozesse in Gang gebracht werden können, weil schon die Forschungsobjekte als »historisch« identifizierbare Sachverhalte Produkte einer narrativen Sinnkonstitti-tion sind. Deren fundamentale Bedeutung konnte vielleicht deshalb lange Zeit in den Historiken nicht adäquat zum Ausdruck gebracht und im Selbstverständnis von Historikern, die der Reflexionsarbeit der Historik fernstehen (und das waren und sind vermutlich die meisten), schlicht ausgeblendet werden, weil sie selbstverständlich ist. Das heißt aber noch lange nicht, daß nun umgekehrt der Forschungsbezug in eben dem Maße selbstverständlich und deshalb historiographietheoretisch uninteressant werden darf, in dem die fundamentale Sinnbildungsleistung des historischen Erzählens inzwischen nicht mehr selbstverständlich und interessant geworden ist. Hier liegt die Pointe, 149 wenn die gegenwärtige textlinguistische Arbeit an der Historiographie mit der Geschichte der Reflexion über die Geschichtsschreibung fowj frontiert wird: Diese Konfrontation kann an den Forschungsbezug der Geschichtsschreibung als an ein Theorieproblem der Geschichtswissenschaft erinnern, das durch den dinguistic turn* in der Historie nicht obsolet geworden ist. Die Erinnerung daran, daß die Verdrängung der Rhetorik das Ergebnis eines nicht umkehrbaren Rationahsicrungsschubes in der Entwicklung des historischen Denkens ist, hat eine geschichtstheoretische Konsequenz: Sie mündet in die Frage, was es eigentlich heißt, Geschichte wissenschaftsspezifisch zu schreiben. Im Rahmen einer Theorie der Geschichtsschreibung, die die elementaren und fundamentalen Sinnbildungsprozesse des historischen Erzählens thematisiert, hat die methodische Rationalität des historischen Denkens, wie sie sich bislang in der historischen Forschung institutionalisiert hat, noch keinen systematischen Stellenwert erhalten. Die historiographie-theoretisch untersuchte Sinnbildungsleistung des historischen Erzählens folgt anderen Regeln als denen der historischen Methode; Hayden White legt sie als >poetische< aus. Ist die Geschichtsschreibung im traditionellen Selbstverständnis der Berufshistoriker die Fortsetzung der methodischen Forschung mit poetischen Mitteln, so legt die neuere Theorie der Geschichtsschreibung als Resultat ihres (natürlich durch Forschung gebildeten) methodischen Scharfsinns die Auffassung nahe, die Forschung sei die Fortsetzung der poetischen Geschichtsschreibung mit methodischen Mitteln. Es ist dann auch nur konsequent, wenn ein Geschichtsschreiber, der sich mit White über den Spielraum historischer Darstellungsmöglichkeiten orientieren möchte, auf die (immerhin naheliegende) Frage keine Antwort bekommt, welche Präferenzkriterien angesichts der Vielfalt möglicher Formen der Geschichtsschreibung gelten. Irgendein Rationalitätskriterium, mit dem sich die Nähe oder Ferne von Formen der Geschichtsschreibung zum Wissenschaftsanspruch der Geschichtswissenschaft ausmessen ließe, wird er nicht finden, sondern er wird vor die ihm ungewohnte Frage gestellt, ob er seine Darstellungsform nach den Textbildungsprinzipien der Metapher oder der Metonymie oder der Synekdoche oder der Ironie organisieren soll. Es ist nicht übertrieben, hier von der Gefahr einer Entrationalisierung der Historiographie zu sprechen. Solange dies lediglich im Gefilde einer Theorie der Geschichtsschreibung erfolgt, für die sich weder das breite Publikum der historisch Interessierten noch auch die Mehrheit 150 der professionellen und erst recht der nicht-professionellen Historiker interessiert, mag dies noch angehen, ja vielleicht sogar als eines der nicht gerade seltenen Schauspiele goutiert werden, in dem die Schärfe des Verstandes dazu benutzt wird, ihn auszutreiben. Weniger harmlos oder vergnüglich nimmt sich die Sache freilich aus, wenn man sie in .Jen Kontext der oft beklagten Entfremdung von Publikum und Geschichtswissenschaft rückt. Dann könnte sie die Tendenzen einer Überwindung dieser Entfremdung auf Kosten der inzwischen erreichten Standards von Wissenschaftlichkeit in der Geschichtswissenschaft verstärken. Eine Geschichtsschreibung, die dieser Tendenz folgte, könnte die Genugtuung, sich einen festeren Sitz im Leben zurückerobert zu haben, mit dem historiographie-theoretisch abgesicherten guten Gewissen verbinden, daß es sich beim Geschäft der Geschichtsschreibung sowieso nicht primär um eine Angelegenheit des selbständigen Verstandesgebrauchs handelt, sondern um prärationale Sinnbildung. Das historiographische Resultat einer solchen Sinnbildung hätte den schönen Schein eines literarischen Werkes zurückgewonnen, auf den die verwissenschaftlichte Historiographie — Hegels These vom Ende der Kunst auf ihre Weise mitvollziehend - zu Gunsten einer methodischen Sicherung ihres Wahrheitsanspruches keinen Wert mehr legte. Und mit diesem zurückgewonnenen schönen Schein prärational-poetisch generierter historischer Interpretationen könnte die Historiographie die Gunst des Publikums erobern, die der Anstrengung des Begriffs in der Regel nicht zuteil wird. Die Frage ist nur, ob ein solches narratives Gebilde noch die Sinnqualität hat, die es beansprucht; denn es ist zumindest problematisch, ob man eine Historiographie noch als sinnvoll bezeichnen kann, wenn sie gerade dort, wo sie spezifisch historisch ist, also in der narrativen Rekonstruktion der menschlichen Vergangenheit als Geschichte, den Verstand verloren hat. Man kann in der Theorie der Geschichtsschreibung nicht hinter die Einsicht zurückgehen, daß dem historischen Erzählen im Prozeß des historischen Denkens keine sekundäre Funktion, nämlich die des bloßen Darstellens, zukommt, sondern eine primäre, diejenige einer elementaren und fundamentalen Sinnbildungsleistung. Man kann also die Geschichtsschreibung nicht als bloße Funktion der historischen Forschung definieren. Damit ist aber nicht schon ausgemacht, daß die methodischen Operationen der historischen Forschung Sinngebungen, auf die sie keinen Einfluß haben, lediglich exekutieren, also bloß sekundär rationalisieren. Die Theorie der Geschichtsschreibung kann sich nicht auf die Beant- 151 wcrtung der Frage beschränken, was es heißt, historisch zu erzäh|L.n Zumindest im Rahmen einer Flistorik, also einer Rellcxion darauf was Geschichte als Wissenschaft ist, hätte sie sich der Frage zu stellen, was es heißt, vernünftig historisch zu erzählen. Sie hätte zu prüfen, ob und inwieweit die methodischen Operationen der historischen Forschung nicht selbst schon Faktoren im Sinnbildungsprozcß des historischen Erzählens darstellen. Vielleicht ließe sich im Lichte dieser Frage auch ein neues Verständnis über die Einheit der historischen Methode gewinnen, nachdem das alte, in den Lehrbüchern des späten 19.Jahrhunderts kanonisierte, durch die methodischen Fortschritte (insbesondere im Zusammenhang mit der Entwicklung der Sozialwissenschaften) brüchig geworden ist. Dann stünden Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung nicht mehr in dem prekären Verhältnis wechselseitiger Verdrängung zueinander, in dem sie bisher als Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft erschienen sind. Die Theorie der Geschichtsschreibung könnte dann in den methodischen Regeln der historischen Forschung, insbesondere in denjenigen der historischen Theoriebildung und -prüfung, eine notwendige (freilich keine hinreichende) Bedingung dafür ausmachen, daß Geschichte vernünftig geschrieben wird. VI. Die vier Typen des historischen Erzählens In te, animus meus, temporft mclior. Noli mihi obstrepere: quod esc; noli mihi obstrepere Ulrhis affectionum tuaruin, In te, inquam, tempora mecior. AUGUSTINUS Ich hoffe immernoch, daß gestern besser wird. CHARLIE BROWN21" i. Problemlage und Fragestellung Die im folgenden vorgeschlagene Typologie der Geschichtsschreibung soll einem doppelten Zweck dienen r Sie soll erstens zur Theorie der Geschichtsschreibung im Rahmen einer Historik beitragen, und sie soll zweitens allgemeine Perspektiven zur Interpretation empirischer historiographischer Befunde eröffnen. Sie knüpft an die jüngsten Entwicklungen der Historik an, in denen die narrative Struktur der historischen Erkenntnis besonders herausgearbeitet worden ist. Die Geschichtsschreibung hat hier inzwischen die Bedeutung eines Theorieproblems ersten Ranges zurückgewonnen, da sich in ihr der Sinn-bildungsprozeß manifestiert, in dem sich die >Geschichte< genannte Qualität der Vergangenheit konstituiert.347 Als ein solcher Sinnbildungsprozeß läßt sich der Vorgang des Erzählens identifizieren und beschreiben.248 Droysens bekannte Frage, wie aus Geschäften Ge- / schichte wird, hat die Antwort gefunden: durch Erzählen. Von hier] aus läßt sich die alte Aufgabe der Historik, die für den Historiker maßgebenden Prinzipien der Geschichtsschreibung zu explizieren und zu begründen, auf neue Weise lösen: weder (wie in der vorhisto-ristischen Historik) in Form von Kunstregeln der Darstellung noch (wie in der historistischen Historik) in der Form einer strikten Rück-bindung an und Unterordnung unter die methodischen Regeln der historischen Forschung, sondern in der Form einer Analyse der für die Geschichtsschreibung maßgebenden Sinnbildkriterien und ihres systematischen Zusammenhangs. Die Untersuchung des Erzählens als Grundlage der historischen Erkenntnis ist von der abstrakten Feststellung der narrativen Struktur 152 153 historischer Aussagen ausgegangen und inzwischen bei der AnalySe komplexer Sinnbildungsprozesse in der Konstitution konkreter histo-riographischer Texte angelangt. (Die Entwicklungslinie mag mit den Namen Danto249 und Hayden White250 illustriert werden.) Sie hat aber zwei für die Belange der Historiker wichtige Problemkomplexe ausgeklammert. Der eine betrifft die im Rahmen einer Historik unerläßliche Frage nach der Wissenschaftsspezifik von Geschichtsschrei-bung (sie bleibt im Rahmen einer textlinguistischen Untersuchung von Grundstrukturen der Geschichtsschreibung unbeantwortet), und die andere betrifft die für die Geschichte der Historiographie unerläßliche Frage nach der historischen Dimension des Erzählens in den ' Grundlagen der Geschichtsschreibung. (Sie bleibt ebenfalls unbeantwortet, wenn es um Grund strukturen der Historiographie überhaupt geht, also um etwas, das noch diesseits ihrer geschichtlichen Spezifikation liegt.) Beide Defizite lassen sich an Hayden Whites Typologie der Geschichtsschreibung illustrieren: Erstens ist die Wissenschaftsspezifik der für die Geschichtsschreibung maßgeblichen Sinnbildungsprozesse des Erzählens für White deshalb kein Problem, weil es diese Prozesse im vorwissenschaftlichen Bereich der Konstitution historischer Objekte ansiedelt und folgerichtig die »nonscientific or protoscientific nature of historical studies« betont (auf deutsch müßte man sagen: die >nichtszientifische oder protos-zientifische Natur der Geschichtswissenschaft, um deutlich zu machen, daß hier ein terminologisch eingeschränktes Wissenschaftsverständnis vorliegt). White hat seine Typologie unbeschadet der Grundsätzlichkeit seiner Ausführungen als Instrumentarium zur Analyse des historischen Denkens und der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts entwickelt. Es ist immerhin bemerkenswert, daß er der in dieser Zeit erfolgten Verwissenschaftlichung des historischen Denkens keine prinzipielle Bedeutung für die von ihm thematisierten Sinnbildungsstrukturen und -prozesse beimißt. Er spricht zwar von >explanation< als wesentlichem Gesichtspunkt seiner Analyse, verwendet diesen Terminus jedoch ganz anders als in der Wissenschaftstheorie, nämlich nicht als Ausdruck einer methodisch geregelten, rationalen Argumentation, sondern als einen Modus sprachlicher Sinnbildung, der aus chronikalischen Fakten Geschichten macht und der als >essentially poetical act<252 angesehen wird. Von Forschung als wesentlichem Element der historischen Sinnbildung ist nicht die Rede. Demgegenüber müßte gefragt werden, ob nicht in den sinnbildenden Konstitutionsleistungen des historischen Erzählens selber schon Elemente einer 154 diskursiven Rationalität wirksam sind, in denen Geschichte als Wissenschaft wurzelt. Obwohl der Titel von Whites Typologie - Metahistory - auf die Kon-stiiutionsebene historischer Sinnbildungsleistungen verweist, verrät er zweitens auch eine Betrachtungsweise, die diese Sinubildungsleistun-gen in einem ahistorischen Raum struktureller Beziehungen ansiedelt, piese Typologie ist unhistorisch; mit ihr läßt sich die innere zeitliche Dynamik der historischen Formung zeitlicher Erfahrung nicht begreifen, auf der der Wandel historischer Darstellungsformen beruht. White selber untersucht einen solchen Wandel, und zwar eine epochale Entwicklung; deren historische Eigenart - wie überhaupt die innere Historizität von Geschichtsschreibung - kann aber mit der als Untersuch im gsinstrumemari um entwickelten Typologie nicht erschlossen werden: sie entwirft keine historischen Perspektiven. Mit ihr können die Sinnbildungslcistungen, die aus Geschäften Geschichte machen, nicht als Prozesse, sondern nur als (zeitlose) Strukturen rekonstruiert werden, und damit bekommt das historische Denken eine eigentümlich weltlose Signatur: Die Geschichte, die es sinnbildend konstituiert, ist dort, wo die für sie maßgebenden Konstitutionsfaktoren bestimmt (typologisch beschrieben) werden, den zeitlichen Verstrickungen ihrer Sinnbilder (der Geschichtsschreiber und ihres Publikums) entzogen. Dies hindert natürlich den Historiker White nicht daran, in den empirischen Teilen seines Werkes mit wünschenswerter Deutlichkeit zu zeigen, wie sehr eben diese Verstrickung sich in den Geschichten spiegelt, die geschrieben wurden (und werden), um mit ihr fertigzuwerden. Demgegenüber müßte gefragt werden, ob und inwieweit sich die sinnbildenden Konstitutionsleistungen des historischen Erzählens als geschichtliche Vorgänge verstehen lassen, so daß ihre theoretische Analyse ohne Verlust ihres kognitiven Gehalts für eine historische Rekonstruktion der Geschichtsschreibung in Anspruch genommen werden kann. Ich möchte mit den folgenden Vorschlägen zu einer Typologie der Geschichtsschreibung diese beiden Defizite überwinden. Einen Weg dazu sehe ich darin, daß bei der Bestimmung der Eigenart und bei der typologischen Erschließung der Vielfalt der Geschichtsschreibung deren Funktion als maßgeblicher Bestimmungsfaktor in den Vorder^, grund gerückt wird. Ohne Berücksichtigung der Funktion - das zeigen-neuere gattungstheoretische und gattungsgeschichtliche Untersuchungen 5:5 - kann weder die formale noch die historische Eigenart von historiographischen Texten hinreichend rekonstruiert werden Ich möchte also eine Typologie vorschlagen, die nicht primär an poefischen Kriterien der Textbildung orientiert ist, sondern an Funktionen dieser Texte. Zugleich möchte ich aber den von White geschärften Blick nicht von der Ebene konstitutiver Sinnbildungsvorgänge ablenken, sondern ausdrücklich an die Problemstellung einer Analyse historischer Sinnbildung durch Erzählen anknüpfen und in Form einer Typologie den Spielraum solcher Sinnbildungen zugleich systematisch und historisch erschließen. In systematisierender Absicht soll die Typologie allgemeine und elementare Gesichtspunkte der historischen Sinnbildung durch Erzählen unterscheiden und aus diesen Gesichtspunkten Konstellationen von Erzählweisen konstruktiv bilden, mit deren Hilfe sich die Eigenart konkreter historischer Darstellungen als (je verschiedene) Ausprägungen solcher Konstellationen begrifflich trennscharf bestimmen lassen. In historisierender Absicht soll sie Entwicklungstrends in de^Verän-derung historischer Erzählweisen als Metamorphosen solcher Konstellationen ebenfalls begrifflich trennscharf bestimmbar machen. Um eine solche Typologie entwickeln zu können, die den Spielraum des historischen Erzählens umfassen soll, ist es notwendig, von einer lebensweltlichen Grundfunktion des historischen Erzählens auszugehen, die so allgemein und elementar ist, daß sie als Bestimmungsgrund in jeder Form des historischen Erzählens nachgewiesen werden kann. Ich knüpfe hier an die entsprechende Fragestellung Hans-Ulrich Gumbrcchts254 an. Allerdings lassen sich aus einer anthropologischen Grundfunktion weder deren unterschiedliche Realisationsformen noch die geschichtliche Entwicklung ohne weiteres ableiten. Dazu bedarf es spezifizierender Gesichtspunkte. Solche Gesichtspunkte zu entwickeln, ist die wichtigste Aufgabe einer allgemeinen Typologie des historischen Erzählens. Sie bedarf, um nicht von einer willkürlichen oder unbegründeten Abgrenzung ihres Gegenstandsbereichs auszugehen, einer anthropologischen Grundlegung, muß aber von der Abstraktheit der diesen Gegenstandsbereich abgrenzenden Grundfunktion fortschreiten zur Formenspezifik konkreten historischen Erzählens. Dazu ist es erforderlich, Typen des historischen Erzählens zu identifizieren, zu unterscheiden und systematisch einander zuzuordnen, in denen sich dessen lebensweltliche Grundfunktion realisiert. Solche Typen stellen Muster (patterns) oder Schemata des historischen Erzählens dar255, über die sich seine allgemeine Funktion zu besonderen Erzählweisen realisiert. Diese Typen müssen einerseits noch so allgemein und elementar sein, 156 jaß sie zusammengenommen den Spielraum möglicher Realisationen abdecken, andererseits müssen sie sich so unterscheiden und aufeinander beziehen lassen, daß sie ein Netz von (möglichen) Realisationen ergeben, dem folgend die Variationsbreite wirklicher Erzählweisen systematisch abgesteckt und historisch identifiziert werden kann. Dies bedeutet, daß die einzelnen Typen sich nach zeitlichen Gesichtspunkten ordnen lassen müssen; ihre Reihung soll eine historische Perspektive in Form eines allgemeinen Leitfadens abgeben, dem folgend sich Jie Geschichte des historischen Erzählens als eine gerichtete Be\ve-:; gung rekonstruieren läßt, die in die heute maßgeblichen Formen der1 jiistorischen Sinnbildung einmündet. Ein solcher Leitfaden könnte die Gleichzeitigkeit des Ungleiclr/eitigen und die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen in der Geschichtsschreibung begrifflich präzise bestimmen, und er könnte auch in der oben monierten Weise Gesichtspunkte zur Abwägung von Sinnkriterien für die gegenwärtige Geschichtsschreibung abgeben. Zugleich müssen sich die Typen quer zu solchen Zeit reihen so miteinander kombinieren lassen, daß sie den Formenreichtum innerhalb einer geschichtlichen Entwicklung nicht zugunsten einliniger Verläufe übersehen lassen. Ich möchte also im folgenden (2.) historisches Erzählen als lebensweltliches Phänomen im Sinne einer allgemeinen und elementaren Operation des menschlichen Bewußtseins beschreiben. Daran anschließend möchte ich (3.) vier Typen des historischen Erzählens unterscheiden und als Erzählschemata charakterisieren. Danach möchte ' ich (4.) andeuten, inwieweit sich mit diesen Schemata der Variationsspielraum der Formen des historischen Erzählens erschließen läßt. Ferner möchte ich (5.) zeigen, daß sich mit den vier Typen historische Perspektiven zur Rekonstruktion von Entwicklungen des historischen Erzählens entwerfen lassen. Abschließend möchte ich (6.) dann die eingangs aufgeworfene Frage nach der wissenschaftskonstituierenden Rationalität in den Prozessen der historischen Sinnbildung behandeln. Erzählen ist eine Sprachhandlung, durch die über Zeiterfahrungen Sinn gebildet wird.^56 Man_köjmje^jich_sagen: Erzählen macht ans. <-Zeit Sinn. Damit ist folgendes gemeint: Menschliches Handeln ist1 notwendig an die Bedingung geknüpft, daß seine Subjekte über Orien- 157 2. Historisches Erzählen als Sinnbildung über Zeiterfahrung durch Erinnerung tierungen verfügen, die ihnen die Umstände und Verhältnisse ihres Handelns so interpretieren, daß sie sie >behandeln< können. Nur aufgrund solcher Orientierungen ist es möglich, daß sich Bedürfnisse in (mehr oder weniger) bewußte Interessen umsetzen und diese Interessen in Form von Absichten Handlungen bestimmen. Die Handlungsfähigkeit des Menschen hängt nicht nur von der Verfügbarkeit über Ressourcen zur Fristung seines physischen (materiellen) Lebens ab, sondern auch von einer vorgängigen Interpretiertheit der im Handeln komplex gegebenen Zusammenhänge von Subjekt und Objekt, Mensch und Welt. Man muß die Welt immer schon interpretiert haben, um sie verändern zu können. Max Weber hat für diese Selbstverständlichkeit, die angesichts vieler nach wie vor aktueller Versuche, Handlungsintentionen aus nicht-intentionalen Handlungsbedingungen abzuleiten, keine ist, die bekannte und einprägsame Formulierung gefunden: »Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die >Weltbilder<, welche durch >Ideen< geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.«257 >Sinn< ist der Inbegriff von Handlungs- (oder allgemeiner: Daseins-) Orientierung durch >Ideen<. Und Erzählen ist einer der Vorgänge, in denen >Ideen< als >Weltbilder< Handlungen den Weg bahnen. Seine Eigenart ist einerseits dadurch bestimmt, wovon die Ideen Ideen sind, d. h. worüber oder worin sie orientieren sollen, und andererseits dadurch, woraufhin sie als Ideen wirken, d.h. auf welches Orientierungsbedürfnis sie rekurrieren. Das >Worüber< bzw. >Worin< ist der Bereich einer bestimmten Zeiterfahrung, derjenigen nämlich, die handelnde Menschen mit der nicht intendierten - also primär erlittenen - zeitlichen Veränderung ihrer Welt und ihrer selbst machen. Es handelt sich um die allgemeine und überwältigende Erfahrung eines lebensbestimmenden Zeitflusses, in den alles menschliche Handeln vorgängig eingebettet ist und den es mitvollziehen muß, ob es will oder nicht. Es handelt sich um die Zeit, in der sich die Menschen und ihre Welt verändern, ohne daß diese Veränderungen als solche (primär) beabsichtigt wären. Es ist eine Zeit, die als eine allen Handlungen vorgängig vorausliegende eigens (eben durch die ideellen Sprachhandlungen des Erzählens) behandelt werden muß, damit angesichts ihrer überhaupt Handlungsabsichten möglich werden. Ich möchte diese Zeit, die gleichsam quer zum Vollzug absichtsvoller Handlungen liegt, Naturzeit nennen und damit dieje- nige Qualität von Zeiterfahrung hervorheben, die die Betroffenen picht auf sich beruhen lassen können, sondern auf die sie mit Sinnfragen reagieren müssen. Solche Fragen, in denen Zeit als Sinnproblem auftaucht, knüpfen sich an die Grunderfahrung von Kontingenz und Zwang im zeitlichen Verlauf des menschlichen Lebens, picse Grunderfahrung von Naturzeit als zwanghafte, unbeabsichtigte Veränderung von Mensch und Welt, die den menschlichen Lebensvollzug wesentlich berührt (also seine >Idecn<-Produktion entschieden herausfordert), manifestiert sich am deutlichsten in der Erfahrung des Todes, und es gibt keine nachdrücklichere Herausforderung, sie deutend in den Orientierungsrahmen des menschlichen Handelns einzu-beziehen, als die Todesangst. Dies läßt sich an einer der größten Erzählfiguren der Weltliteratur, an Scheherazade, sehr gut illustrieren: Um nicht vom König von Samarkand getötet zu weiden, muß sie ihm bekanntlich tausend und eine Nacht lang Geschichten erzählen. Dieser hier selbst als Erzählung präsentierte innere Zusammenhang von Tod und Erzählen wird auch durch die verbreitete Meinung unterstrichen^ daß Sterbende auf den nahenden Tod mit der Imagination ihrer Lebensgeschichte, also (bildlich) erzählend, reagieren. Walter Benjamin hat diesen Zusammenhang so charakterisiert und dabei ebenfalls das Naturhafte der erzählend zu deutenden Zeit hervorgehoben: »Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. Vom Tode hat er seine Autorität geliehen. Mit anderen Worten: es ist die Naturgeschichte, auf welche seine Geschichten zurückverweisen.«^ Das Woraufhin der Sinnbildung über diese Zeiterfahrung durch Erzählen ist bestimmt davon, daß sich die Menschen die durch ihr Handeln vollzogenen und bewirkten zeitlichen Veränderungen ihrer Welt und ihrer selbst so vorstellen müssen, daß sie sie beabsichtigen können. Durch ihr Handeln wollen sich die Menschen als Subjekte einbringen in den Fluß der Zeit, und zwar so, daß sie sich In ihm nicht nur erhalten, d. h. in ihm nicht untergehen, sondern zur Geltung bringen, d.h. in ihm Vorstellungen davon verwirklichen, was sein soll, aber noch nicht oder nicht mehr ist. Hier kommt Zeit in der Form von Absichten ins Spiel, in denen der Wandel von Mensch und Welt nach Maßgabe frei gesetzter Zwecke gewollt und als freie Selbsthervorbrin-gung der zweck setzenden Subjekte vorgestellt wird. Es handelt sich um die allgemeine und überwältigende Absicht eines lebensbestimmenden Zeitflusses, den alles menschliche Handein intendiert, insofern die Handelnden sich durch ihr Handeln selbst zur Geltung brin- 158 gen wollen. Versteht man unter Humanität den Inbegriff solcher freien Zwecksetzung, solchen normativen Intentionalitätsüberschus-ses über vorgegebene Bedingungen und Umstände, dann handelt es sich hier um die menschliche Fundamentalintention von humaner Zeit. (Man könnte auch von Zeit als Geist reden, wenn man unter >Geist< die Transzendierungsfähigkeit des menschlichen Bewußtseins versteht.) Diese Zeit manifestiert sich am entschiedensten in der Absicht, den , Tod zu überwinden, - dafür hat VolkexXlotz die glänzende Formulierung gefunden, Erzählen sei Entstören,259 - und es gibt keine nachdrücklichere Form dieser Absicht als Lust an der Ewigkeit oder ihre Kehrseite, die Trauer über Vergänglichkeit. Auch hier sei auf das Beispiel der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht verwiesen. Scheherazade überwindet durch ihre Erzählungen den ihr drohenden Tod, und sie verwandelt dabei zugleich den mörderischen Sinn des Königs Schahriar so, daß er wieder Freude an einem ethisch geregelten Leben gewinnt. Daß dieses Leben seinerseits sub specie aeternitatis gesehen werden soll, dafür stehen nicht nur die iooi Nächte als kleine Ewigkeit der Dauer des Erzählens, sondern erst recht die den Anfang und das Ende dieses Erzählzyklus markierenden rituellen Anrufungen Gottes. (Auch die bekannte Schlußformel von Märchen >und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch< verstehe ich so, daß der erzählend intendierte Zeitstatus über der Grenze zwischen Leben und Tod liegt.) Erzählen ist nun die Art und Weise, wie über die (Natur-)Zeiterfah-mng Sinn gebildet wird im Hinblick auf eine absichtsvoll entworfene Zeit menschlicher Selbstgewinnung durch handelnden Eingriff in die erfahrenen Veränderungen von Mensch und Welt. Erzählen transzen-diert auf der Ebene der Handlungsorientierung Naturzeit in humane Zeit. Man könnte auch sagen: Erzählen ist eine Weise, wie die Zeit (durch Sprachhandlungen) die Wunden heilt, die sie geschlagen hat. Dies geschieht durch eine Deutung der erfahrenen Naturzeit im Lichte von Zeitvorstellungen, die Absichten formulieren. Erfahrene Zeitverläufe werden sprachlich reproduziert, und dabei werden sie so auf beabsichtigte Zeitverläufe bezogen, daß zwischen beidem ein kohärentes Verhältnis entsteht: Sie müssen sich wechselseitig entsprechen, sonst wäre der Lebensfluß menschlichen Handelns dort empfindlich gestört, wo er als Zeitvorstellung alles Handeln muß begleiten können. Worum es geht, hat Shakespeare in einem Dialog zum Ausdruck ge-160 bracht, in dem die (Natur-)Zeit als Ghaotisierung der Weltordnung jjfid daher als tödliche Bedrohung erfahren und diese Erfahrung zu einem Orientieruiigsfaktor zweckgelciteten Handelns deutend verarbeitet wird: König Heinrich. O Himmel, könnte man im Buch des Schicksals Doch lesen, und der Zeiten Umwälzung Die Berge ebnen, und das feste Land, Der Dichte überdrüssig, in die See Wegschmelzen sehn! und sehn des Ozeans Umgürtend Ufer für Neptunus Hüften Ein andermal zu weit! Wie Zufall spielt, Und Wechsel der Vcrä'iulrung Schale füllt Mit mancherlei Getränk! O sah man das, Der frohste Jüngling, diesen Fortgang schauend, Wie hier Gefahr gedroht, dort Leiden ttahn: Er schloss' das Buch, und setzte sich und stürbe... WARMcicK. Ein Hergang ist in aller Menschen Leben, Abbildend der verstorbnen Zeiten Art: Wer den beachtet, kann, zum Ziele treffend, Der Dinge Lauf im ganzen prophezein, Die, ungeboren noch, in ihrem Samen Und schwachem Anfang eingeschachtelt liegen. Dergleichen wird der Zeiten Brut und Zucht... König Heinrich. Sind diese Dinge denn Notwendigkeiten? Bestehn wir auch sie wie Notwendigkeiten!'*0 Es ist kein Zufall, daß Warwick, der König Heinrich den handlungs-hemmenden Schrecken der Naturzeiterfahrung durch deren deutende Verarbeitung in eine humane Zeitvorsteilling nehmen will, von »hi-story« spricht; denn die Form, in der Zeiterfahrung reproduziert, auf Zeiterwartung und -absieht bezogen und zwischen beiden ein kohärentes Verhältnis hergestellt wird, ist diejenige einer Geschichte. Geschichten organisieren Zeiterfahrungen zu Handlungsorientierungen, mit denen die Handlungssubjekte sich darüber versichern, daß sie in den durch ihre Handlungen vollzogenen und bewirkten zeitlichen Veränderungen ihrer Welt und ihrer selbst sich nicht verlieren, sondern gewinnen. Man könnte auch sagen: Geschichten sind Symbole, die Erfahrungen und Erwartungen von Zeit so miteinander verknüpfen, daß Handlungsabsichten zwischen vorgegebenen Zeitlagen und beabsichtigten Veränderungen mit Aussicht auf Erfolg nach dem Kriterium subjektiver Gcltungsansprüche {Anerkenmingsbedürfnisse) austariert werden können. 161 Das, was Historiker tun, ist nichts anderes als das Erzählen solche,. Geschichten. Aber nicht alle Geschichten, die erzählt werden, können als >historische< angesprochen werden. Wie läßt sich hier eine Unterscheidung treffen, die der bisher im Vordergrund stehenden Allge. meinheit und Elementarität des Erzählens gerecht wird, - eine Unterscheidung also, die selbst lebensweltliche Qualität hat, d. h. in aller, historisch verschiedenen Formen menschlicher Vergesellschaftung vorkommt? Wie läßt sich »historisches. Erzählen, als besondere Er-zählweise mit einer besonderen Funktion, so definieren, daß es als spezifische Realisation der allgemeinen Erzählfunktion erscheint; ohne mit einer kulturspezifischcn Form von Geschichtsschreibung exklusiv identifiziert zu werden? Die Neigung ist groß, eine kulturspezifische Ausprägung des Erzählens, die traditionell als Darstellung von »Geschichte« von anderen Erzählformen unterschieden wird (z. B. Herodot von Homer), zur metahistorischen Spezifikation des »historischen Erzählens< zu generalisieren. Andererseits läßt sich jenseits solcher historischen Ausdifferenzierung des Erzählens in verschiedene Formen und Funktionen gar nicht sinnvoll danach fragen, was »historisches Erzählen< ist und welche allgemeine und elementare, durch alle historische Variabilität des Erzählens hindurchgehende Eigentümlichkeit es auszeichnet. Es geht darum, die vorgegebene Ausgrenzung eines spezifisch >historischen< Erzählens aus dem Gesamtbereich der Erzählhandlungen auf ihr lebensweltliches Fundament hin durchsichtig zu machen. ./ Die Theorietradition bietet die Unterscheidung zwischen fiktionalem I und nicht-fiktionalem Erzählen an. Historiographie wäre dann ein Erzählen, das Sinn über wirkliche Zeiterfahrungen im Hinblick auf zeitliche Absichten wirklichen Handelns bildet, und in diesem Wirklichkeitsbezug bestünde seine Eigenart gegenüber allen anderen Formen von Sinnbildung durch Erzählen. Historisches Erzählen behandelt res factae, nichthistorisches Erzählen bezieht sich auf res fictae. Das Unterscheidungskriterium der Historik des 19. Jahrhunderts -der Rückbezug des Erzählens auf die historische Forschung - stellt eine Spezifikation dieser älteren Abgrenzung dar: Forschung wird als die über den eigentlich historischen Sinn erzählender Aussagen entscheidende Instanz der Ermittlung und Interpretation von Tatsachen angesehen. Diese Unterscheidung hat neben ihrer ehrwürdigen Tradition noch den Vorteil der Selbstverständlichkeit für sich. Bevor man sie reflektierend auf ihre Stichhaltigkeit überprüft (und ihre Fragwürdigkeit 162 8 § entdeckt), leuchtet sie insofern ein, als man sich keine Geschichtsschreibung denken kann, die nicht den Anspruch erhöbe, das, was sie erzähle, habe sich wenn nicht wirklich, dann zumindest wahrscheinlich so und nicht anders zugetragen. Eine Erzählung, die - sei es vom Autor beabsichtigt oder nicht - zeitliche Veränderungen so aussagt, daß sie als Erfindungen, als unwirkliche, als bloß mögliche, kurz als nicht stattgefundene verstanden (rezipiert) werden, dürfte denen, die sie so auffassen, wohl schwerlich als Geschichtsschreibung gel- ten. 2C1 Problematisch ist dieses Kriterium (auch in seiner strengen Form als Forschungsbezug) deshalb, weil es den Punkt nicht genau trifft, um den es geht: eine Weise des Erzählens von allen anderen als diejenige abzugrenzen, die spezifisch ist für historische Sinnbildung. Zwar geschieht diese Sinnbildung immer so über (Zeit-)Erfahrungen, daß deren Wirklichkeit als solche thematisch bleibt, und sie ist dabei auf (Zeit-)Absichten wirklichen Flandelns bezogen, aber der sich bildende Sinn ist etwas, was diesseits der Unterscheidung zwischen Faktizit'dt und Eiktionalität des Erzählens liegt. Die res factae und die res fictae lassen sich nicht sauber auf die Bereiche: hie Geschichtsschreibung und da >schöne< Literatur aufteilen. Unbestreitbar sind sie beide für beides wesentlich, da sich >Sinn< als Orientierungsfaktor nur durch Bezug auf beide Bereiche bildet.262 Für die Identifikation des historischen Erzählens kommt es also darauf an, nicht bloß dessen Absicht auf die Tatsächlichkeit des Erzählens zu betonen, sondern genauer herauszuarbeiten, in welche Sinnzusam-menhänge die Tatsachen eingerückt werden, wenn sie >historisch< zur Sprache kommen. Man mag die Theorietradition, die zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Erzählen unterscheidet und die Geschichtsschreibung generell dem letzteren zuordnet, für so historisch voraussetzungsvoll halten, daß mit ihr eine metahistorische Ausgrenzung des Typs »historisches Erzählen« oder »Historiographie« aus dem Gesamtbereich nar-rativer Sprachhandlungen nicht möglich ist. Faßt man nun die elementaren und allgemeinen Konstiiuenticn des durch historisches Erzählen gebildeten spezifischen »Sinnes« ins Auge, dann hintergeht man gleichsam diese traditionelle Unterscheidung, und man braucht dann auch nicht mehr von einer bestimmten inhaltlichen Vorstellung darüber auszugehen, was »Geschichte« als Sinnkonstrukt des historischen Erzählens ist. 'Historisches Erzählen' -wird vielmehr als eine Erzähl-} handlung definiert, durch die ein bestimmtes Zeitbewußtsein sich bil-l 163 zr^ž-.v/tsjť lýr-/C --^-ívr--^ vn-'' hinten< in die Vergangenheit hinein verlängert. Dadurch macht es die Gegenwartserfahrung allererst übersehbar. Es schließt sie rückwärts an die in der Erinnerung aufbewahrten und dort immer schon (wenn auch oft nur in Ansätzen) deutend bewältigten Erfahrungen der Vergangenheit an. Durch diesen Anschluß werden Gegenwartserfahrun-I gen zeitlichen Verläufen zugerechnet, über die es bereits orientieren-\ des Wissen gibt. 1 Eine solche Zuordnung durch Erzählen ist nicht das gleiche wie der normale, sich ganz unvermerkt vollziehende Vorgang der identifizierenden Zurechnung von aktuellen Erfahrungen durch Erinnerung zu 164 1 i schon gemachten. Sondern es bedarf einer ausdrücklichen MobjUmc ritng von Erinnerung. Die in ihr aufbewahrte Vergangenheit muß jnreh die Tätigkeit des Erzählens absichtsvoll so vergegenwärtigt werden, daß sie zu den Gegenwartserfahrungen paßt, von denen her die (historische) Frage an die Erinnerung gerichtet und auf die hin das historische Erzählen seine Antwort formuliert. Diese Mobilisierung ist nicht primär als Suche nach Vergessenem zu verstehen, sondern als Aktualisierung der in den Prozessen des Erinncrns (die immer auch Prozesse des Vergessens sind) wirksamen Deutungsmuster. In diese Deutungsmuster hinein wird eine Zeiterfahrung, die vergeht, erinnernd als bedeutsame gegenwärtig gehalten, oder sie wird durch diese Deutungsmuster hindurch als belanglos vergessen. Es kann die Folge einer solchen Aktualisierung sein, daß Vergessenes neu erinnert und die Erinnerung durch eigens »ausgegrabene* Tatsachen der Vergangenheit bereichert wird. Historisches Erzählen mobilisiert also die Erinnerung so, daß die in ihr aufbewahrten Erfahrungen der Vergangenheit diejenigen der Gegenwart verständlich machen. Dies geschieht, indem die Deutungen von Zeitcrfabrangen in der und durch die Erinnerung neu duivli den Akt des Erzählens vollzogen werden (und dabei natürlich auch modifiziert werden können). Durch das historische Erzählen wirft die Vergangenheit gleichsam das Licht der Erinnerung so auf die Gegenwart, daß die Schatten unverstandener Zeiterfahrungen verschwinden. Erinnerung durch historisches Erzählen heißt also, vergangene zeitliche Veränderungen so zu vergegenwärtigen, daß mit ihnen gegenwärtige Veränderungen verständlich gemacht werden können. Eben deshalb muß das in vergangenen Zeiten Gewesene so gut erzählt werden, als V-ob es in der eigenen Welt wäre.263 Die von Hans-Ulrich Gumbrecht beschriebene anthropologische Grundform des historischen Erzählens, monothetisch präsente Vergangenheit polythetisch zu rekonstruieren, hat, so möchte ich trotz entgegenstehender Äußerungen von Gumbrecht 64 behaupten, primär die Funktion, das Deutungspotential der Erinnerung so zu mobilisieren und zu aktualisieren, daß mit ihm über handlungshemmende Zeiterfahrungen orientiert und mit Hilfe dieser Orientierung Handlungshemmungen aufgelöst werden können. Mit dieser Lösungswirkung, die das historische Erzählen erreicht, indem es aktuelle Zeiterfahrungen an erinnernd vergegenwärtigte und gedeutete Zeiterfahrungen der Vergangenheit zurückbindei, ist es auch auf die Zukunft bezogen. Es ermöglicht dort Ausblicke in > die Zukunft, wo sie durch irritierende Gegenwartserfahrungen ver- 165 stellt ist; es wirkt in dem Maße, in dem es Erinnerungen an die Vergangenheit mobilisiert, um Gegenwart verstandlich zu machen, als Perspektivierung von Zukimlt. Zweitens realisiert dieser Zeitzusammenhang das historische Erzählen, indem es die erinnernd vergegenwärtigten zeitlichen Veränderungen der Vergangenheit a]s_Zeitverläufe darstellt, die in die gegenwärtigen Veränderungserfahrungen hinein sich erstrecken, so daß diese als ihre Fortsetzung gedeutet und aus ihnen Zukunftsperspektiven entworfen werden können. Die hier maßgebliche Verlaufsvorstcllung, die die Erinnerung der Vergangenheit, die Erfahrung der Gegenwart und die Erwartung der Zukunft umgreift, ist das entscheidende Sinnkritc-rium der Zeitdeutung durch historisches Erzählen, Sie läßt sich mit der Kategorie >Kontinuität< bezeichnen.265 Damit ist eine innere Kohärenz der drei Zeitdimensionen gemeint, also grundsätzlicheres und anderes als nur bruchlose Verläufe. Mit dieser übergreifenden Zeitverlauf svorstellung wird Naturzeit in humane Zeit transzendiert; denn sie ordnet erfahrene Veränderungen des Menschen und seiner Welt so, daß in ihnen sich etwas durchhält, was auch als Bestimmungsgröße aktuellen Handelns gedacht werden kann (z. B. göttliche Absichten, geistige Triebkräfte kultureller Daseinsgestaltung, Entwicklung von Produktivkräften als Chancen einer freien Selbstaneignung des Menschen über die Aneignung der Natur usw.). Zeitliche Veränderungen erfahren mit dieser durch ihre erzählende Reproduktion entwickelten Vorstellung von Kontinuität ihre Einheit als Geschichte. Notwendige Voraussetzung dafür ist eine regulative Idee, die Zeit als Erfahrung und Zeit als Absicht generell und prinzipiell verbindet, so daß konkrete Erfahrungen auf konkrete Absichten bezogen, d. h. Geschichten genau die Erinnerungen mobilisieren können, die über Deutungen von Gegenwartserfahrungen Zukunftsperspektiven eröffnen. Das ela-borierteste Beispiel für eine solche Idee ist diejenige der Freiheit in der idealistischen Geschichtsphilosophie. Historisches Erzählen stiftet solche Ideen nicht, sondern macht Gebrauch von ihnen und gibt ihnen damit die Konturen, die sie haben müssen, um die Orientierungen leisten zu können, um derentwillen sie die menschliche Vernunft hervorbrachte. Es wäre also verfehlt, im historischen Erzählen den Vorgang zu sehen, in dem allgemeine, Weltdeutung und Handlungsbestimmung übergreifende Sinnkriterien gebildet werden; ebenso verfehlt aber wäre es auch, im historischen Erzählen lediglich >Anwendungen< solcher Sinnkriterien zu sehen. Funktion und Eigenart des historischen Erzählens liegen zwi- schen beidem: Es stellt eine produktive Weiterbildung universeller Sinnkriterien dar. Geschichte als Sinntotalität läßt sich wohl denken (als regulative Idee einer allgemeinen Geschichte in praktischer Absicht), aber nicht erzählen. Die produktive Sinnbildungsfunktion des historischen Erzählens besteht darin, daß es aus allgemeinen (regulativen) Ideen, die Erinnerungen und Erwartungen in das einheitliche Gebilde eines handlungssteuernden zeitlichen Lebenszusammenhangs synthetisieren, Kontinuitätsvorstellungen über konkrete, erinnerte, erfahrene und beabsichtigte Veränderungen des Menschen und seiner Welt entwickelt. Solche Kontinuitatsvorstellungen sind - in der Sprache Max Webers - Weichenstellungen in der Richtungsbestimmung von Handlungsinteressen. Mit einer anderen, von Hartwig Floto Übernommenen Metapher"' ließe sich auch sagen, daß historische Erzählungen die regulativen Ideen der Erfahrungsdeutung und Handlungsnormierung mit dem >Leib der Zeit< ausstatten, so daß sie dort lebendig werden können, wo Zeit in Form von konkreten Erfahrungen und konkreten Absichten Thema der menschlichen Lebensführung is<*F - V Drittens sind die durch historisches Erzählen gebildeten Kontinuitätsvorstellungen Synthesen aus Erfahrungen zeitlicher Veränderungen des Menschen und seiner Welt und allgemeinen regulativen Ideen menschlicher Dascinsorientierung. Beide sind immer schon aufeinander bezogen: Erfahrungen zeitlicher Veränderungen werden in vorgegebene Deutungsmuster hinein gemacht, und in diesen Deutungsmustern werden sie so mit Erinnerungen an zeitliche Veränderungen zusammengebracht, daß sie (die jeweils neuen Erfahrungen) verstanden werden. Und wenn etwas geschieht und wahrgenommen wird, was in diese Deutungsmuster nicht hineinpaßt, wird es entweder gar nicht als Erfahrung rezipiert und schnell vergessen; wenn jedoch die neue Erfahrung handelnd bewältigt werden muß, weil kein Weg an ihr. vorbeilührt, dann werden die Deutungsmuster so verändert, daß sie in ihnen als »zu behandelnde« erscheinen kann, als etwas also, von dem, man weiß, wie man mit ihm umzugehen hat. Die allgemeinen regulativen Ideen menschlicher Daseinsorientierung andererseits sind stets auf die Erfahrungen bezogen, die handelnd bewältigt werden müssen; sie müssen erfahrungsoffen sein (und ständig so gehalten werden), sonst haben sie keine Orienticrungskraft bzw. verlieren ihre Fähigkeit zur Daseinsorientierung. Dennoch ergeben sich historische Kontinuitätsvorstellungen nicht schon einfach aus der wechselseitigen Ausrichtung ihrer beiden Be- 167 zugsgrößen aufeinander, sondern erst dann, wenn die Identität derje, nigen, die durch historische Erzählungen angesprochen werden, a!s dritte Bezugsgröße eingeführt wird. Denn weder ist der Deutungsbc zug von Zeiterfahrung so strikt, daß alle erfahrenen zeitlichen Veränderungen in der Erinnerung schon in der Ordnung kontinuierlicher Verläufe eingelagert wären und als solche Verläufe schon abgerufen werden könnten, noch ist der Erfahrungsbezug von Deutiingsabsich-ten so eng, daß nur solche Erfahrungen als deutbare in den Erfah-rungsvorrat der menschlichen Handlungsorientierung einströmen könnten, die sich in vorgegebene Muster kontinuierlicher Verläufe einpassen. Beides ist schon deshalb nicht der Fall, weil menschliches Leben prinzipiell durch eine Intentionalität bestimmt ist, mit der die Menschen (ob sie wollen oder nicht) durch ihr Handeln und Leiden die Umstände und Verhältnisse ihres Lebens überschreiten. Deutungsabsichten sind daher in sich flexibel; sie beruhigen sich nicht in den rJeufungsmustcrn von Zeiterfahrungen, die in die Erinnerung eingelagert sind: Sie sind kontingenzoffen und bedürfen daher zur Kontingenzverarbeitung stets neuer Aktualisierungen. Dem entspricht auf der Seite der Zeiterfahrungen, daß Veränderungen mit Deutungsunschärfen registriert werden, daß die Erinnerung mehr hergibt als Bestätigungen eingeschliffener Zeitverlaufsmuster. Das Deutungspotential der Erinnerung ist flexibel und offen für eine Reorganisation seiner Deutungsmuster, und nur deshalb ist es möglich, die Erinnerung zu mobilisieren und mit ihrer Hilfe Kontingenzerl ahrun-gen in der aktuellen zeitlichen Veränderung des Menschen und seiner Welt in Handlungsorientierungen hinein zu verarbeiten. Allgemeine Deutungshinsichten und besondere Zeiterfahrungen sind als Bezugsgrößen der Handlungsorientierungen grundsätzlich so aufeinander bezogen, daß sie einen erheblichen Kontingenzspielraum offen lassen. Dies ist zwar einerseits lebenswichtig, weil dieser Spielraum dem menschlichen Handeln die Transzendierungschancen von Lebensumständen eröffnet, die so etwas wie humane Zeit als Inbegriff von >ent-töteten< Lebensverhältnissen'68 überhaupt denken lassen, aber andererseits ist es auch bedrohlich, weil in diesem Kontingenzspielraum die Einheit von Erinnerung und Erwartung dauernd zu zerbrechen droht, deren Sicherung zu den notwendigen Voraussetzungen dafür gehört, daß Menschen handeln können. Die Transzendierungschance des menschlichen Handelns kann nur genutzt werden, wenn es den Handelnden gelingt, mit einer Kontinuitätsvorstellung ihre Identität als konsistentes Verhältnis von Erinne- Hing und Erwartung dort zu sichern, wo erworbene und durch die Erinnerung lebendig gehaltene Selbstdeutungen über Absichten von" Handlungen dem Fluß der Zeit überantwortet werden, eben dort also, ,vo sich Zeit im Prozeß von Handeln als Veränderung von Mensch und Welt ereignet. Die Handlungssubjekte müssen sich durch historisches Iiizählen genau der zeitlichen Konsistenz ihrer selbst versichern, die nicht schon vorgängig im allgemeinen Bezug ihrer Deuttingsprin-zipien auf Zeilerfahrungen gesichert ist.26' Die durch das historische Erzählen über Zeiterfahrung gebildeten Kominuitätsvorstcllungen cragen noch nicht, wenn sie bloß vorgegebene Handlungsorientierun-gen durch Erinnerungen im Lichte weltanschaulicher Prinzipien bestätigen. Historisches Erzählen wird gerade dann notwendig, wenn;"ŕ>/'í 1 1 T) ' ■• ' I f t * t ° solche Bestätigungen problematisch sind, wenn Gegenwartserfahrungen sich nicht zwanglos in die bereitstehenden Deutungsmuster einpassen, so daß diese eigens evoziert werden müssen, um erfahrungskonform zu werden, und die Erfahrungen eigens (im Medium der Erinnerung) reflektiert werden müssen, um deutungskonform zu werden. Kriterium für beides ist die Konsistenz von Erinnerung und Erwartung nach Maßgabe der sich durchhaltenden Identität derjenigen, die müderr Gegenwartserfahrung fertig werden müssen. Um die Hemmung ihres Handelns durch eine nicht schon vorab gedeutete, also kontingente Erfahrung einer Veränderung ihrer Welt und ihrer selbst überwinden zu können, müssen sie diese Veränderung in die Vorstellung eines Zcitverlaufs integrieren, mit der sie wissen können, daß sie sie selbst bleiben, sich also nicht in dem, was sie (geworden) sind, verlieren, sondern gewinnen, wenn sie sich in ihrem Handeln auf die erfahrene Veränderung einlassen. Sie realisieren eine solche Vorstellung, wenn sie die in der Erinnerung gegenwärtigen Erfahrungen zeitlicher Veränderungen als Antwort auf die Frage deutend organisieren, wer sie selbst sind.270 Historisch erzählte Geschichten geben solche Antworten, indem sie Zeiterfahrungen der Vergangenheit als kontinuierliche Verläufe der Idcntitätsbildung ihrer Adressaten erinnern und erinnernd deuten. Sie formulieren Identität als Dauer im Wandel der Zeit. RTstorisches Erzählen bildet Kontinuitätsvorstellungen über Erfahrungen des zeitlichen Wandels. Es wird dabei getragen von dem Bedürfnis seiner Autoren und Adressaten, in einem solchen Wandel ihre Identität zu behaupten, sich selbst in ihm nicht zu verlieren, sondern zu gewinnen, sich in ihm durch ihr Handeln als Subjekte zur Geltung 169 zu bringen. Identität als ent-tötendes Zeitverhältnis von Subjekten zu sich selbst ist das kontinuierende Moment in der Deutung von erinnerten Zeiterfahrungen, das über die Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft hineinreicht. Es konstituiert den inneren Zusammenhang der drei Zeitdimensionen, in dem Geschichten als vergegenwärtigte Vergangenheit Gegenwart verständlich machen und Zukunftsperspektiven entwerfen. Gedankenpoetisch ausgedrückt: Identität ist_der Schimmer der Ewigkeit über dem Fluß der Zeit, der "durch historisches Erzählen als Licht der Erinnerung auf die Gegenwart gerichtet wird, um in ihr Orientierungen zu ermöglichen, die Zukunftschancen des menschlichen Handelns erschließen. Die Identität ihrer Adressaten ist also der Fluchtpunkt, auf den hin historische Geschichten erinnerte Erfahrungen von Veränderungen zu kontinuierlichen Zeitverläufen deutend organisieren. Und indem sie auf diese Weise Handlungssubjekten eine Vorstellung davon vermitteln, wer sie sind, wirken sie selber mit an den Prozessen der Identitätsbildung; denn diese Prozesse sind keine quasi-natürlichen Vorgänge, deren Resultat durch das historische Erzählen bloß bewußt gemacht, als feststehende Tatsache bloß registriert wird, sondern abhängig von den (bewußten oder unbewußten) Reflexionen, in denen sich Subjekte zu sich selbst verhalten. Historische Geschichten intervenieren in den Spielraum der menschlichen Identitätsbildung (sei es individuell oder kollektiv), in dem Absichten, jemand zu sein, an dem mitwirken, wer jemand ist. Das historische Erzählen beteiligt sich also aktiv an den aktuellen Prozessen der Identitätsbildung. Indem es Erinnerungen zur Stabilisierung von Identität angesichts irritierender Kontingenzerfahrungen der Gegenwart mobilisiert,.arbeitet es die Gegenwartserfahrungen (indirekt) in die Deutungsmuster zeitlicher Veränderungen ein, mit denen sich Handlungssubjekte im Umgang mit sich selbst und mit anderen darüber verständigen, wer sie selber und wer die anderen sind. Maßgebend für die Sinnbildung durch historisches Erzählen ist also der Gesichtspunkt, daß mit der erzählend entwickelten Kontinuität von Identität im Verlauf der Zeit die Gegenwartserfahrung so gedeutet, d. h. ihre Kontingenz dadurch aufgehoben werden kann, daß sich im handelnden Umgang mit ihr das Selbst oder das Ich bzw. Wir der Handelnden behaupten, wenn nicht gar stärken kann. Damit wird zugleich Zukunft als Handlungsperspektive der Selbstgewinnung der Handlungssubjekte eröffnet. Durch die Erinnerungsleistung des historischen Erzählens wird die Hoffnung auf eine Humanisierung der 170 2eit begründet, ohne die die Menschen angesichts der Erfahrung der jslaturzeit keine Handlungsabsichten formulieren könnten und verzweifeln müßten, weil sie nicht wie die Tiere nicht zu sich selber >ich< jagen können. 3. Die vier Weisen des historischen Erzählens Das historische Erzählen kann seine Orientierungsfunktion durch Sinnbildung über Zeiterfahrung auf unterschiedliche Weise realisieren. Was jeweils als Kontinuitätsvorstellung über welche Erfahrungen der Vergangenheit gebildet wird und identitätsbildend in aktuelle Handlungsoricmierungen eingeht, hängt von den Umständen, VelÖs* hältnissen und Absichten (Interessen) der Lebenspraxis ab, in der dasj historische Erzählen erfolgt. Seine Formenvielfalt muß deshalb aber nicht als eine regellose Menge unterschiedlicher Reaktionen auf unterschiedliche Situationen angesehen werden, sondern sie läßt sich auf eine begrenzte Anzahl von formgebenden Gesichtspunkten und ihre Kombinationsmöglichkeiten hin durchsichtig machen und strukturieren. Diese Gesichtspunkte ergeben sich aus den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Handlungen absichtsvoll im erfahrenen Zeitfluß durch Erinnerungen so situiert werden können, daß sie in ihm vollzogen werden können. Praxisorientierungen können grundsätzlich nicht von einem Nullpunkt autonomer Sinnschöpfung aus erfolgen, sondern sie sind den Handelnden immer schon vorgegeben. Sie sind ihnen nicht eingeboren, sondern sie werden ihnen eingeboren. Wie immer sie sich den Orientierungsvorgaben ihres Handelns gegenüber verhalten mögen, ohne sie wären sie schlechterdings handlungsunfähig; sie hätten die Welt aus den Augen verloren, bevor sie in ihr handelnd etwas ausrichten (sie zum Beispiel verändern) könnten. So ist es auch mit der Erfahrung der Zeit; sie wird immer im Lichte vorgegebener Deutungsmuster gemacht, an die das historische Erzählen anknüpfen muß, wenn es seine Kontinuierungsleistungen aus der Erinnerung vollbringen will. Dieses notwendige Anknüpfen generiert eine Weise des historischen Erzählens, die sich in allen seinen Formen niederschlagen muß, insofern in die erzählend gebildeten Kontinuitätsvorstellungen Traditionen kontinuitätsbildend eingehen müssen: das traditionale Erzählen. Historisches Erzählen knüpft aber nicht bloß an Traditionen an, in 171 denen eine Zeit immer schon Sinn hat (genauer: Zeit ist als Tradition Sinn), sondern es bringt diese Traditionen auch in die Bewegung des Erzählens, aktualisiert (wie oben dargelegt) Traditionen als Deutungsmuster in der Erinnerung und bezieht sie dabei so auf Erfahrungen, die nicht schon vorab in sie passen, daß sie sich in sie einfügen. Dazu ist es notwendig, aus traditionalen Sinnvorgaben allgemeine Regefff) (empirischer oder normativer Art) zu erheben, die es erlauben, unter sie zeitverschiedene Erfahrungen zu subsumieren. In diese Form verwandelt, lassen sich mit Traditionen auch die Kontingenzerfahrungen rezipieren und deuten, deren Kontingenz genau darin besteht, daß sie nicht schon vorab im Lichte traditionaler Deutungen erscheinen (können); denn Regeln als Sinnkriterien sind abstrakt und lassen einen (nicht beliebigen) Spielraum unterschiedlicher Anwendungen zu, in dem Gegenwartserfahrungen auf erinnerte Erfahrungen der Vergangenheit bezogen werden können. In dem damit möglichen Wechselspiel zwischen allgemeiner Handlungsregel und besonderer Zeiterfahrung entfaltet das historische Erzählen eine Fähigkeit, die man als historische Urteilskraft bezeichnen könnte. Das historische Erzählen muß also, wenn es Kontinuitätsvorstellungen bildet, auf kontinuierende Handlungsregeln rekurrieren, um das Handeln dort an Zeiterfahrungen orientieren zu können, wo es sich regelgeleitet auf die Zeit einläßt. Die dieser Handlungsorientierung entsprechende historische Erzählweise ist das exemplarische Erzählen. Das historische Erzählen muß über diesen Regelbezug, den es mit der Erzählweise des Exemplarischen gewinnt, hinausgehen und die Art seiner Sinnbildung über Zeiterfahrungen qualitativ verändern, wenn seine Autoren und Adressaten vorherrschende Traditionen und aus ihnen gewonnene allgemeine Lebensregeln ändern oder außer Kraft setzen wollen. Dann geht das historische Erzählen auf Orientierungsbedürfnisse ein, die der allgemein-menschlichen Fähigkeit entspringen, nein zu identitätsdefinierenden Traditionen und Lebensregeln sagen zu können. Dieses Nein steckt in jedem Vorgang absichtsvoller Transzendierung gegebener Lebensumstände und -Verhältnisse, so daß auch die ihm entsprechende Weise des historischen Erzählens, das kritische Erzählen universell ist. Es ist schon angelegt in der Verflüssigung von Traditionen zu gegenwartserfahrungsspezifischen Kontinu-ierungen erinnerter Veränderungen; denn hier bleibt ja die Tradition nicht eine bloße Vorgabe von Handlungsorientierung; sie wird durch das traditionale Erzählen bewußt >behandelt<, sozusagen zur >Gabe< aktualisiert. Erst recht ist das kritische Erzählen im Exemplarischen angelegt; denn die erzählend am Material der Erinnerung mit historischer Urteilskraft konkretisierten Handlungsregeln legen falsch und richtig, gut und böse fest, und es bedarf nur eines Anstoßes im Erfahrungskontext der diesen Regeln Unterworfenen (etwa den, daß sie diese Regeln als einen Zwang erfahren, den sie aufheben wollen), dann tritt die Weise des kritischen Erzählens besonders hervor; sie tritt gleichsam in die Kraft der Erinnerung, um mit ihr diejenigen Erfahrungen zu artikulieren, die die kritisierten Traditionen und Regeln problematisieren und ihre Veränderung oder Aufhebung als möglich und sinnvoll erscheinen lassen. Die Weise des kritischen Erzählens ist immer dann sachgeboten, wenn die Praxis, die durch historisches Erzählen in der Zeit orientiert wird, Veränderungsabsichten verfolgt, die den Veränderungsspielraum überschreiten, den natürlich auch Traditionen und Regeln lassen (weswegen die ihnen entsprechenden Erzählweisen immer auch eine kritische Komponente haben müssen). Diese durch kritisches Erzählen historisch plausibel gemachte Überschreitung hinterläßt aber ein Deutungsproblem, dessen Lösung das historische Erzählen von der kritischen Erzählweisc in eine andere, in das genetische Erzählen übergehen läßt. Kritisches Erzählen lebt von dem, wogegen es sich richtet, weil die ihm eigentümliche Kontinuierungsleistung negativ ist; es bürstet die Kontinuitätsvorstellungen des traditionalen und exemplarischen Erzählens gegen den Strich. Seine dekomponierende Kraft führt es notwendig zu anderen Erzählweisen, die aus den kritisch dekomponierten Kontinuitätsvorstellungen neue aufbaut; auch das Handeln, dessen Absichten über vorgegebene Zeitorientierungen hinausführt, braucht nämlich eine KontinuitätsVorstellung, um die Realisierungs-chancen dieser seiner Absichten zu sichern. Es_mtn$_sich sozusagen seinen Kontinuitätsreim auf die Zeitverläufe seines Erfahrungshorizontes machen können, in denen die bisher gültigen traditional und exemplarisch artikulierten Orientierungen (nicht zuletzt durch kritisches Erzählen) ihre Plausibilität verloren haben. Das historische Erzählen kann dann auf traditionale und exemplarische Erzählweisen regredieren, hat damit aber seine kritische Potenz verloren. Oder es führt zum genetischen Erzählen: Dann macht es die vom kritischen Erzählen geleistete Depotenzierung traditional und exemplarisch gebildeter Kontinuitätsvorstellungen zum Faktor von Kontinuitätsvorstellungen selber. In_dieser Erzählweise werden Kontinuitäten über Veränderungen gebildet. Der Sinn der Veränderungen besteht nicht mehr darin, daß in ihr sich Traditionen und Handlungsregeln durch- '73 halten, sondern in der Kontinuität des Veränderns seihst. In dieser durch das genetische Erzählen realisierten Kontinuitätsvorstellung ist die-durch Kritik depotenzierte Kontinuität von Traditionen und Handlungsregeln in eine Richtung von Veränderungen aufgehoben. Damit werden Traditionen und Handlungsregeln, wenn auch relativiert auf eine jeweilige Zeitstelle in dieser Richtung, wieder in Kraft gesetzt, und die Kritik ist als Triebkraft der Veränderung anerkannt. Die Unterscheidung dieser vier Erzählweisen bildet den systematischen Ausgangspunkt der im folgenden entwickelten Typologie des historischen Erzählens. Deren historiographie-theoretische Pointe besteht darin, daß die vier voneinander unterschiedenen und dann systematisch aufeinander bezogenen Erzählweisen sich wechselseitig so ergänzen, daß jede für sich eine notwendige und alle vier zusammen eine hinreichende Bedingung dafür darstellen, daß das historische Erzählen seine Funktion der Zeitorientierung erfüllen kann. Erst wenn sich das Verhältnis der vier Erzählweisen zueinander so bestimmen läßt, ist der eingangs entwickelte Anspruch einer typologi-schen Charakterisierung der Geschichtsschreibung in geschichtstheo-retischer und empirischer Hinsicht begründbar. Wenn sich mit den vier Erzählweisen wirklich der Umkreis des historischen Erzählens abschreiten läßt, dann muß sich auch die Wissenschaftsspezifik von Historiographie im Rahmen einer von ihnen ausgehenden Typologie des historischen Erzählens bestimmen lassen. Wissenschaft kann dann nicht als etwas verstanden werden, das zu den skizzierten Weisen des historischen Erzählens noch eigens hinzukäme, sondern muß als etwas ausgemacht werden, was in diesen Weisen selber schon beschlossen liegt. Die empirische Brauchbarkeit einer auf der Unterscheidung der vier Erzählweisen beruhenden Typologie des historischen Erzählens läßt sich natürlich nicht vorab schon in der historiographie-theoretischen Begründung dieser Typologie belegen. Die erzähltheoretische Begründung einer typologisch entwickelten Matrix zur Bestimmung des Formenreichtums und der geschichtlichen Veränderungen von Historiographie kann eine empirische Untersuchung weder ersetzen noch deren Resultate vorwegenehmen. Wohl aber soll sie solche Untersuchungen ermöglichen, indem sie ihnen brauchbare theoretische und methodische Instrumentarien zur Verfügung stellt. Brauchbar für empirische Untersuchungen ist aber eine Typologie der Geschichtsschreibung dann, wenn man von ihr begründet sagen kann, daß sie 174 den einschlägigen Bereich der historischen Erfahrung umgreift. Dies freilich ist keine Frage, die sich allein empirisch beantworten läßt, weil die Typologie ihrerseits den historiographie-theoretischen Anspruch erhebt, den einschlägigen Bereich der Erfahrung mit den Sprachhandlungen des historischen Erzählens als ganzen in den Blick zu rücken und von anderen Sprachhandlungserfahrungen abzugrenzen. Die Theorie des historischen Erzählens ist gleichsam das Auge, das die Anschauung der empirischen Vielfalt des historischen Erzählens braucht, um nicht ohne Begriffe, d.h. blind, zu sein. Umgekehrt braucht natürlich auch die Typologie der Geschichtsschreibung die Anschauung der empirischen Mannigfaltigkeit des historischen Erzählens, um nicht leer, d.h. ein Spiel von Unterscheidungen und Beziehungen historischer Erzähhveisen, zu sein, dem in der Praxis der Historiographen nichts entspricht. Daß die vorgeschlagene Grundunterscheidung von vier Weisen des historischen Erzählens, mit der die im folgenden entwickelte Typologie der Geschichtsschreibung steht und fällt, nicht willkürlich ist, d. h. nicht ohne weiteres durch andere Erzähl weisen ergänzt und verändert werden kann, ist natürlich keine Frage, die auf der Theoriccbcne allein entschieden werden kann. Schließlich muß es sich im Umgang mit historiographischen Texten erweisen, was sich mit den Mitteln einer erzähltheoretisch entwickelten Typologie der Geschichtsschreibung aus ihnen gewinnen läßt. Nichtsdestoweniger aber muß auf derTheo-rieebenc vorab geklärt werden, ob und inwieweit die typenbildenden Grundunterscheidungen den einschlägigen Erfahrungsbereich erschließen. Wenn also im folgenden typologische Bestimmungen der Geschichtsschreibung entwickelt werden, dann liegt ihnen ein theoretischer Anspruch auf empirische Fruchtbarkeit zugrunde. Dieser Anspruch läßt sich dadurch begründen, daß die vier Erzählweiscn gleichsam flächendeckend systematisch entwickelt werden. Es muß plausibel gemacht werden können, daß sie den Gesamtbereich erfahrbarer Sprachhandlungen des historischen Erzählens (mindestens tendenziell) abdecken, daß es also keine Weise des historischen Erzählens gibt, die nicht mit den vier unterschiedenen charakterisiert werden kann. Dies ist bereits implizit versucht worden, als die vier Weisen des ; historischen Erzählens entwickelt wurden. Denn sie wurden nicht/ einfach aufgezählt, sondern auseinander nach dem Gesichtspunkt ent-/ wickelt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit menschliches Handeln hinreichend durch historisches Erzählen in der Zeit orien- I7J eiert werden kann. Prüfstein für die Vollständigkeit der getroffenen erzähltheoretischen Unterscheidungen ist die dargelegte allgemeine Funktion des historischen Erzählens. Ich möchte nun behaupten, daß die vier Erzählweisen im Verhältnis ihrer wechselseitigen notwendigen Ergänzung genau die mentalen Operationen darstellen, die erforderlich sind, um eine durch Kontinuitätsvorstellungen identitätsbildende historische Erinnerung zu realisieren, mit der sich handelnde und leidende Menschen in den zeitlichen Veränderungen ihrer selbst und ihrer Welt orientieren und eine tragfähige historische Identität entwickeln können. Die vier Erzählweisen gehen auf Orientierungsgrößen im Verhältnis des Menschen zur zeitlichen Veränderung seiner selbst und seiner Welt zurück, die zusammengenommen als hinreichende Bedingungen für die Erfüllung der allgemeinen Funktion des historischejn.Eriähkns ielten können: Rezeption traditionell vorgegebener Orientierungen, Generalisierung vorgegebener Orientierungen zu Regeln, Negation (rezipierter und generalisierter Orientierungen zu Gunsten neuer und ^schließlich Vermittlung negierter und neu entworfener Orientierun-jgen; - diese vier Leistungen des historischen Bewußtseins dürften genau den Spielraum markieren, den das historische Erzählen zur Erfüllung seiner Zeitorientierungsfunktion hat. Diese vier Leistungen stehen in einer logischen Abfolge, in der die eine die andere notwendig voraussetzt und die andere aus der einen notwendig folgt. So ist die traditionale Erzählweise die Voraussetzung aller anderen, und die anderen können sukzessive aus ihr heraus (wie oben versucht) entwik-kelt werden, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt betrachtet, inwieweit mit ihr die Funktion des historischen Erzählens vollständig realisiert werden kann. Die traditionale, exemplarische, kritische und genetische Erzählweise stehen also in einem Verhältnis zueinander, in dem die eine eine notwendige Ergänzung der anderen und sie alle zusammen eine hinreichende Bedingung für die Erfüllung der Funktion des historischen Erzählens darstellen. Sie alle stecken in nuce in jeder Form des historischen Erzählens. Dennoch lassen sie sich in dem Maße voneinander (abstrakt) unterscheiden und je für sich näher charakterisieren, in dem einzelne Faktoren der Zeitorientierung des menschlichen Daseins (Traditionsbildung, Konkretisierung von Handlungsregeln, Dekom-position von Orientierungsmustern, Richtungsbestimmung von Veränderungen) im Hinblick auf die Gesamtfunktion des historischen Erzählens betrachtet und voneinander abgegrenzt werden. Zugleich lassen sich die Erzählweisen in dem Maße systematisch aufeinander beziehen, in dem die einzelnen Faktoren in der Erfüllung der Funktion des historischen Erzählens miteinander zusammenhängen. Damit ist es möglich, mit der Konstellation, die die vier Erzählwcisen jeweils in einer historischen Erzählung bilden, die Eigentümlichkeit dieser Erzählung typologisch zu beschreiben. Typologisch beschreiben soll heißen, daß auf allgemeine strukturbildende Prinzipien des historischen Erzählens zurückgegriffen wird, um die besondere Struktur einer historischen Erzählung in ihrer Eigentümlichkeit auszumachen. Die vier Erzählweisen sollen also als typenbildende Sinnkriterien des historischen Erzählens dienen. Dazu müssen sie genauer dargelegt werden. Was es heißt, daß in der Weise des traditionalen, des exemplarischen, des kritischen oder genetischen Erzählens über Zeiterfahrungen Sinn gebildet wird, muß an den Eigenschalten von Geschichten verdeutlicht werden, in denen sich diese Erzählweisen dominant verkörpern. Da die geschilderten Erzählweiscn freilich nie rein für sich allein auftreten, sondern in einem notwendigen Komplcmentari-tätsverhältnis stehen, treten sie auch nicht rein in historischen Darstellungen auf. Sie lassen sich daher auch nur an Aspekten historischer Darstellungen beispielhaft erläutern, die allerdings hinreichend signifikant sein müssen, um die erzähltheoretisch getroffenen typenbildenden Grundunterscheidungen auch empirisch plausibel zu machen. Die folgenden Beispiele sind (ziemlich willkürlich) aus unterschiedlichen Bereichen des historischen Erzählens gewählt worden, also nicht ausschließlich aus einer als »wissenschaftlich«, kanonisierten Geschichtsschreibung. Sie sollen auch unter Beweis stellen, daß die Zeitorientierungsfunktion des historischen Erzählens mehr Realisationen zuläßt als diejenigen, die von professionellen Historikern für ihre Historiographie beansprucht werden. Würde diese Historiographie allein im Blickfeld stehen, dann würden genau die Prozesse einer lebensweltlichen - also vor- und außerwissenschaftlichen Sinnbildung durch historisches Erzählen übersehen, die immer schon in die fachliche Historiographie eingewandert sind und die auch über Sinnerwartungen die Rezeptionschancen dieser Historiographie erheblich beeinflussen. Dann wäre es auch kaum noch möglich, genauer auszumachen, worin eigentlich der Rationalitätszuwachs zu einer verwissenschaftlichten Historiographie besteht, und zwar eben dort, wo diese Historiographie auch nichts anderes ist als diejenige, von der sie sich mit ihrem Wissenschaftsanspruch unterscheidet, nämlich Sinnbildung über Zeiterfahrung durch historisches Erzählen. i76 l77 Ein besonderes typologisches Problem stellt die Chronographie dar.271 Darunter verstehe ich eine nach der natürlichen Zeitfolge geordnete Sammlung von Informationen über Ereignisse von der Art, wie sie auch in der Geschichtsschreibung dargestellt werden. Annalen und Chroniken stellen ihre bekannteste (und auch heute noch übliche272) Form dar. Obwohl die Chronographie aufs engste mit der Historiographie verwandt ist, ja ohne sie gar nicht denkbar wäre, fällt sie mit ihren verschiedenen - natürlich auch idealtypisch beschreibbaren - Ausprägungen nicht unter eine Typologie des historischen Erzählens. Diese Abgrenzung ist deshalb sachgeboten, weil die Chronographie zwar auf eine mögliche Geschichtsschreibung bezogen ist, insofern sie das dort benötigte Datenmaterial verzeichnet - sie läßt sich gattungstheoretisch als ein solches >Verzeichnis< definieren —, sie selbst aber ist keine Geschichtsschreibung, weil sie ihre Daten meiner nicht-narrativen Weise präsentiert. Ein chronographischer Text ist keine Geschichte, sondern eine Proto-Geschichte, - eine Sammlung von Daten, die ihren narrativen Leitfaden, der sie zu einer Geschichte ordnet, noch außer sich hat, obwohl sie zumeist erkennbar auf ihn hin angelegt ist. Natürlich ist die Grenze zwischen Chronographie und Historiographie empirisch fließend, aber es läßt sich ein theoretisch eindeutiges und methodisch operatio-nalisierbares Unterscheidungskriterium angeben: Gemeinsam haben sie den Sachgehalt der historischen Erinnerung, unterschieden sind sie dadurch, daß die Chronographie die narrative Deutung ihrer Daten außer sich hat, die sie um dieser Deutung willen verzeichnet, während die Historiographie diese Deutung in sich schließt. Die Chronographie hält zeitliche Veränderungen des Menschen und seiner Welt in der leitenden Absicht fest, sie für die historische Erinnerung, genauer: für die deutende Verwendung zur zeitlichen Daseinsorientierung aufzubewahren. Sie ist gleichsam ein Gedächtnis als Reservoir des Erin-nernswerten, aber.noch keine Erinnerung selbst, in der der >Wert< des Erinnerten durch seine narrative Verknüpfung mit anderem Erinnerten schon deutlich wäre. Der Unterschied zwischen Chronographie und Historiographie läßt sich auch in der oben zur Beschreibung der allgemeinen Funktion des Erzählens verwendeten Terminologie ausdrücken: Die Chronographie ist eine Erinnerungsleistung, die dem Leitfaden der Naturzeit folgt; die Historiographie erinnert grundsätzlich an das gleiche wie die Chronographie, nur folgt sie dem Leitfaden der humanen Zeit; die eine berichtet und erzählt (noch) nicht, die andere erzählt und berich- tet nicht (mehr). Wie gesagt, die Grenzen zwischen beiden Präsenta-[jonsweiscn der Vergangenheit sind empirisch fließend, sie lassen sich aber funktionstypologisch genau angehen: Sie unterscheidet auf der einen Seite eine nicht-narrative Präsentation von Daten der Vergangenheit, die den Zweck verfolgt, diese Daten für ihren Gebrauch in der zeitlichen Orientierung gegenwärtigen Handelns und Leidens aufzubewahren, und auf der anderen Seite eine narrative Sinnbildiing Über die in diesen Daten fixierten Erfahrungen zeitlicher Veränderungen des Menschen und seiner Welt, die den Zweck verfolgt, gegenwärtiges Handeln und Leiden in der Zeit zu orientieren. Im folgenden möchte ich die vier Erzählweisen im einzelnen dadurch charakterisieren, daß ich sie als Strukturierting von Geschichten beschreibe und diese Strukturierting mit Beispielen belege. a) Traditionales Erzählen Traditionales Erzählen formiert sich in Geschichten, die den Ursprung von Lebensumständen und -Verhältnissen so erinnern, daß die von den Umständen und Verhältnissen Betroffenen, die Autoren und Adressaten der Geschichten, ihre aktuellen Zeiterfahrungen als Impulse zur Erneuerung dieses Ursprungs verarbeiten und demgemäß Zukunft als dessen Wiederkehr erwarten und absichtsvoll intendieren können. Solche Geschichten orientieren Handeln im Fluß der Zeit, inHem sie den Ursprung der (institutionalisierten) Handlungsregelun-gen als Sinnstiftung erneuern und bekräftigen. Sie stellen Kontinuität als Dauer dieses Ursprungs vor. Sie realisieren damit ein Muster menschlicher Idcntitätsbüdung, in dem das Selbstverständnis von Handlungssubjektcn als ständig sich erneuerndes, als immer gleiches, als im Zeitfluß sich gleichsam unbewegt perpetuierendes tradiert wird. Die Naturzeit wird hier also dadurch in humane Zeit verwandelt, daß dem wirklichen Zeitverlauf in der Erinnerung etwas Überdauerndes gewonnen wird, das sich in den Veränderungserfahrungen der Gegenwart wiederfinden (erneuern, bestätigen) läßt, so daß es absichtsvoll gewollt und als Zukunft erwartet werden kann. Dieses Überdauernde wird als Wirklichkeitserfahrung der Vergangenheit erinnert, durch die Erinnerung in das Normensystem des in die gegenwärtigen Veränderungen verstrickten Handelns eingebracht und, über diese Verstrickung hinausführend, als Absicht und Erwartung von Zukunft 178 179 vorentworfen. Ks vereinigt daher alle drei Zeitdimensionen in einer übergeordneten Einheit. In dieser Einheit sind Vergangenheit und Zukunft zu einer Dauer von Lebensordnungen verschmolzen, die vom Fluß der Zeit getragen und der Vergänglichkeit enthoben sind Durch traditionales Erzählen wird Zeit als Sinn verewigt. Diese Erzählweise dominiert in den meisten Historiographien, die den Zweck traditionaler Herrschaftslegitimation verfolgen (z.B. werden Könige von Göttern genealogisch abgeleitet); in Geschichten, in denen Religionsgemeinschaften ihre Stiftung gegenwärtig halten (wenn sie die Ursprungsgeschichte nicht im Modus kritischen Erzählens gegen eingeschliffene Traditionen kehren); in Geschichten, die aus Anlaß von Jubiläen erzählt oder auch niedergeschrieben werden; in Ursprungsmythen und in all den Formen des historischen Erzählens, die Tradition als kontinuitätsbildendes und identitätsstabilisierendes Sinnkriterium bevorzugen. Der Sinnspruch >Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen< spricht die für das traditionale Erzählen kennzeichnende Rückbindung von Selbstverständigungen an traditionale Vorgaben aus. Um im Bereich der Sprüche zu bleiben, sei als eher kurioses Beispiel für diese Art des historischen Erzählens der Anfang einer populären Bismarck-Darstellung aus konservativer Feder zitiert, die im Jahre 1869 erschien.2 Hier finden sich dem Text vorgeschaltet vier in symbolreiche Bilder eingefaßte und in bewußt altertümelnder Schrift geschriebene Gedichte. Schon die Form verrät, daß hier der Sinngehalt der folgenden Biographie Bismarcks in konzentrierter Form vorweggenommen wird. Als Beispiel sei das erste Gedicht zitiert: Die Wiege Schlicht u. tüchtig, Fest, gewichtig Steht das theure Haus d. Ahnen, Schliche und tüchtig Kühn, umsichtig Ging des Hauses Sohn d. Bahnen, Die zu ew'gen Zielen leiten Durch den wirren Streit d. Zeiten. Hier - wie auch in den folgenden Gedichten274 - wird als sinnbildendes Leitmotiv dieser historischen Erzählung vom Werdegang Bismarcks bis kurz vor seiner Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten die Ursprungstreue formuliert. Im Lichte dieses Leitmotivs 180 erscheint das Leben Bismarcks als Garantie dafür, daß sein Handeln, Jas für alle Zeitgenossen sichtbar ganz erhebliche Veränderungen gezeitigt hatte und noch zu zeitigen versprach, in diesen Veränderungen letztlich nur bewährte Lebensformen auf Dauer stellt und eben deshalb Zustimmung und Unterstützung verdient. Bismarck wird als fHentifikationsfigur für diejenigen angeboten, die in einer solchen Dauer ein Optimum ihrer eigenen Lebenschancen sehen. h) Exemplarisches Erzählen Exemplarisches Erzählen folgt der Devise historia magistra vitae.275 Es formuliert sich in Geschichten, die zeitliche Veränderungen der Vergangenheit auf regelhafte Vorgänge hin durchsichtig machen; Gegenwartserfahrungen werden als vergleichbare Vorgänge verständlich und durch Rekurs auf solche zeitübergreifende Regeln behandelbar; die Zukunft wird dabei als regelbestätigende Erwartung von Handlungsfolgen erschlossen. Der Fluß der Zeit kontinuiert sich in der Vorstellung, daß die zeitliche Bewegung des menschlichen Handelns Vollzug überzeitlich geltender Handlungsregeln ist. Das exemplarische Erzählen aktualisiert Erinnerungen als empirische Konkretisierung solcher Regeln und befähigt seine Adressaten dazu, konkrete Gegenwartserfahrungen unter eben diese Regeln zu bringen und sie dem Zugriff ihres Handelns zu erschließen. Indem die historische Erinnerung Handlungsregeln konkretisiert, macht sie Zukunft absehbar; die Zukunft läßt sich als zeitlich erstreckte Summe vergleichbarer Konkretisierungen erwarten. Exemplarisches Erzählen stellt also den Zeitfluß von Veränderungserfahrungen auf die Dauer einer in ihrer Geltung alle Zeitdimensionen übergreifenden Handlungsregel. Nicht - wie im traditionalen Erzählen - in den erinnerten, aktuell erfahrenen und erwarteten Veränderungen realisiert sich ein kontinuierlicher Ablauf als Dauer verpflichtender Lebensregelungen, die sich Handlungssubjekte als innere Zeitbestimmung ihres Ichs beziehungsweise Wir zu eigen machen können, sondern über diesen Veränderungen erstreckt sich ein Ensemble von Lebensregeln, für dessen Verwendung in je unterschiedlichen Kontexten die Handlungssubjekte durch das exemplarische Erzählen kompetent gemacht werden: Regelkompetenz angesichts der Variabilität von Handlungsumständen und -be-dingungen ist das dominierende Sinnkriterium der Kontinuitätsbildung im exemplarischen Erzählen. Traditional erzählte Geschichten stabilisieren das Ich beziehungsweise das Wir von Handlungssubjekten mit der Vorstellung der Dauer vorgegebener Handlungsorientierungen in den Lebensumständen und -Verhältnissen; deren Veränderungen mobilisieren Erinnerungen als Erweis dessen, daß das, worauf es ankommt, bleiben, sich durchhalten oder wiederkehren wird: Zeit wird als Ewigkeit vorgängig gestifteter Handlungsorientierungen erzählend erinnert. Exemplarisch erzählte Geschichten stabilisieren das Ich beziehungsweise Wir von Handlungssubjekten mit der Vorstellung, daß sich ihre Regelkompetenz über den Wechsel oder die Veränderungen von (äußeren) Handlungsbedingungen erstreckt. Veränderungen werden nicht stillgcstellt in der Dauer dessen, was in ihnen als handlungsoricntierender Faktor gleichbleibt, sondern geradezu freigegeben in den Spielraum unterschied-I licher Anwendungen gleicher Handlungsregeln. Dieses Erzählen zeigt, wie sich regelbewußtes Handeln auf unterschiedliche Kontexte einlassen kann: Es erschließt ihm den Spielraum von Veränderungen als Handlungschancen und hält zugleich an der Stetigkeit des Handelns in der Form einer überzeitlichen Geltung seiner Regeln fest. Damit wendet es sich an das Ich beziehungsweise Wir der Handelnden in ganz anderer Weise als das traditionale Erzählen, um seine Dauer im Wandel der Zeit zu sichern und es in diesem Wandel zur Geltung zu bringen: Es schützt das Ich beziehungsweise Wir nicht vor dem Wandel der Zeit durch eine Orientierung darüber, was in ihm gleich und unverändert bleibt, sondern es befähigt es dazu, sich im Bewußtsein einer zeitenthobenen Geltung seiner Handlungsregeln in die Vielfalt von äußeren Handlungsbedingungen hincinzu-begeben und sich in ihr zur Geltung zu bringen. Zeit wird durch exemplarisches Erzählen als Sinn verräumlicht zu einer Reihe von Anwendungsfällen zeitlos geltender HandlungsregelnT Die exemplarische Erzählweise dominiert in den Geschichten, die (wirkliche) Handlungen der Vergangenheit im Lichte von Prinzipien als positive oder negative Vorbilder erscheinen lassen und dadurch gegenwärtiges Handeln orientieren wollen. Es handelt sich um alle die Geschichten, die das tun, was der Prolog der Primera Crönica General de Espana so formuliert: »Sie schrieben auch die Taten der Fürsten auf, sowohl die, in denen sie gut handelten, als auch die, in denen sie ischlecht handelten, damit jene, die nach ihnen kämen, aufgrund der guten sich bemühten, gut zu handeln, und aufgrund der schlechten sich davor hüteten, schlecht zu handeln, und damit dadurch der Lauf I der Welt in allen Dingen in seine rechte Ordnung gebracht werde.«276 Lord Bolingbroke faßt das Prinzip des exemplarischen historischen Erzählens in die knappe Formel: »History is philosophy teaching by examples.«277 piese Erzählweise dominiert in Geschichten, die aus Erfahrungen der Vergangenheit, wie klug beziehungsweise unklug man damals war, allgemeine Erfahrungsregeln erheben, die Handhmgssubjekte klug für immer machen, sie zumindest aber dazu befähigen, klug (ür den Fall im Rahmen ihrer Gegenwartserfahrung zu werden, auf den hin erzählend das Deutungspotential der Erinnerung mobilisiert wird. Machia-velli hat bekanntlich in dieser Art eines generalisierenden Praxisbezuges den Zweck aller Geschichtsschreibung gesehen.278 Die exemplarische Erzählweise ist immer dort anzutreffen, wo historische Analogien zwischen Gegenwart und Vergangenheit in praktischer Absicht hergestellt werden.27'' Daß dies auch von Historikern nicht verschmäht wird, für die sich der Topos von der Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens längst >im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichten« aufgelöst hat280, mag ein Beispiel zeigen. Ranke, in dem niemand einen Historiker vermuten würde, der die noch in der Aufklärung übliche exemplarische Erzählweise verwendet, bedient sich ihrer ganz ausdrücklich, um - im Rahmen seiner journalistischen Tätigkeit für die Historisch-Politische Zeitschrift - das Problem der Pressezensur zu diskutieren: »Nur allzuoft hegen wir in der gegenwärtigen Zeit die Einbildung, daß unsere Zustände neu und niemals dagewesen seien. Gern greifen wir zu dem, was unsere Nachbarn am heutigen Tage für gut halten; selten erinnern wir uns, welche Lehren die vergangenen Jahrhunderte geben, Lehren, die umso wichtiger sind, da die Folgen der Maßregeln, die man ergriff, vollständig vor uns liegen. Von den Wirkungen einer ungezügelten Freiheit der Presse und einer drückenden Ausübung der Zensur haben wir zwei große Beispiele. Das eine an dem Deutschland des 16. Jahrhunderts. Wenn man die Klagen, die über die Frechheit der Flugschriften damaliger Zeit erhoben wurden, vernimmt, so sollte man oft glauben, sie bezögen sich auf die Mißbräuche des heutigen Tages [...]. Niemand, der diese Dinge mit unbefangenem Auge betrachtet, wird leugnen können, daß die unglückliche Entwicklung, welche das Geschick unseres Vaterlandes damals genommen hat, großenteils aus dem wilden Toben der theologischen Presse und der Entzweiung, die sie zur Folge hatte, entstanden ist. Diesem Beispiel gegenüber gibt es jedoch auch ein anderes. Während Deutschland sich in eine so zügellose Bewegung verlor, führte man in Italien die Zensur ein [...]. Und wie doch völlige Ungebundenheit und gewaltsame Beschränkung die nämliche Wirkung haben! Beide Nationen waren auf großen Pfaden der Entwicklung und Ausbildung; die Deutschen gerieten, weil sie 183 denn gar nicht Maß hielten, und die herrschende Polemik alle Geister fesselte in eine Art von Verwilderung; die Italiener, denen man die Gebiete verschloß auf welchen sie sich frei zu bewegen die Neigung zeigten, fielen in eine einseitige Vorbildung, in welcher vielleicht ein noch größeres Hindernis für die Zukunft lag. Nein! Sagt nicht, daß die Extreme jemals heilbringend geworden-immer waren sie verderblich.«8" Daß diese Erzählweise universale Bedeutung hat, geht nicht zuletzt daraus hervor, daß sie auch in klassischen Werken nicht-europäischer Historiographie dominiert, so z.B. im Txtt-cbih t'ung-chien (Umfassender Spiegel als Hilfe für die Regierurig) von Ssu-ma Kuang, des Historikers der Sung-Dynastic. lbn Khaldun bringt den exemplarischen Modus seiner Geschichtsschreibung schon im Titel seines Hauptwerkes zum Ausdruck: Kitab al-Ibar (Buch der Beispiele). c) Kritisches Erzählen Kritisches Erzählen formiert sich iri^Geschichten, die historische Erfahrungen gegen Traditionen und (normative) Handlungsregeln richten, so daß diese ihre Kraft zur Handlungsorientierung verlieren und durch andere Orientierungen ersetzt werden müssen. Erinnert werden 'Zeiterfahrungen der Vergangenheit, die von denjenigen, die im Orien-; tierungsrahmen der gegenwärtigen Praxis verarbeitet worden sind, so ■signifikant abweichen, daß der Orientierungsrahmen geändert werden l.muß, wenn er erfahrungskonform bleiben soll. )t Diese Geschichten sind indes Gegengeschichten. Sie brechen bislang unangefochtene Kontinuitätsvorstellungen auf, indem sie ihnen wi^ dersprechende Zeiterfahrungen der Vergangenheit ins Gedächtnis rufen,/und sie machen damit neue Handlungsabsichten, neue Zukunftsperspektiven und Konzepte personaler und sozialer Identität möglich. Dies geschieht nicht dadurch, daß sie einfach aufgrund neuer Gegenwartserfahrungen und Handlungsabsichten, die sich nicht mehr in alte Zeitverlaufsvorstellungen einbringen lassen, neue Zeitverlaufsvorstellungen entwickeln, sondern sie gehen den Schritt, der vorher getan werden muß:|Sie ermöglichen die Bildung neuer Kontinuitätsvorstellungen durch Wegarbeiten der andern. Sie richten die Orientierungsprobleme, die sich aufgrund neuer Konstellationen von Absichten und Erfahrungen in der Gegenwart ergeben, als historische Fragen an die Vergangenheit und zeigen, daß man sie nicht mehr durch eine von den bisherigen Deutungsmustern gelei- 184 stete Erinnerung triftig beantworten kann. Ihre leitende Abrichtrist, das Erfahrungspotential der Erinnerung so zu aktualisieren, daß die Kontinuitätsvorstellungen dekomponiert werden, in denen es bisher gedeutet wurde; es wird aus den Deutungsmustern herausgelöst, denen es bisher eingelagert war, und damit allererst unter neuen leitenden Hinsichten deutbar. Kritisches Erzählen ist eine Waffe im Kampf um die Erinnerung, die Herrschaft über Identitätszuweisungen regelt (die freilich auch -wenn auch nicht primär durch die Weise des kritischen Erzählens -Frieden durch wechselseitige Anerkennung von Selbstverständigungen in gemeinsamen Zeitverlaufsvorstellungen stiften kann). Diese Erzählweise bekräftigt Geltungsansprüche von Handlungssubjekten. Die von ihr geprägten Geschichten stellen durch deutendes Erinnern' efer Vergangenheit Handlungsorientierungen der Gegenwart in Frage/ , und stellen damit ihren Adressaten deren Kompetenz zur Normveränderung vor. Durch kritisches Erzählen wehren Handlungssubjekte Definitionen ihrer Identität durch ihnen vorgegebene Zeitverlaufsvorstellungen ab. Sie bringen das, was sie sind, dadurch zum Ausdruck, daß sie das nicht sein wollen, was sie gewesen sein müssen, wenn sie bestimmten Deutungsmustern ihrer Zeiterfahrung folgen: Durch kritisches Erzählen wird Zeit als Sinn beurteilbar. Diese Erzählweise dominiert in den Geschichten, die von der Frage geleitet werden, ob es wirklich so war, wie bisher behauptet wurde, oder auch von der Frage, ob man bestimmte Tatsachen der Vergangenheit wirklich so deuten kann, wie es bisher versucht wurde. Sie ist unerläßlich, wenn Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart gegen Deutungsmuster der historischen Erfahrung gekehrt werden, die ihnen nicht mehr entsprechen, damit neue Muster an ihre Stelle treten können. Dafür gibt es natürlich zahlreiche Beispiele, weil eine solche kritische Wende von Geschichtsschreibung immer dann eintritt, wenn gesellschaftliche Gruppen ein neues Selbstverständnis gegen vorgegebene Positionszuweisungen historiographisch propagieren, durchsetzen oder absichern wollen. So signalisiert z.B. der Satz von Voltaire: »Wenn ein gesunder Kopf die Historie liest, ist es fast sein einziges Geschäft, sie zu widerlegen«282 die Absicht der Aufklärung, bürgerliche Vorstellungen über die Legitimierbarkeit von Herrschaft gegen eingeschliffene traditionale Legitimationen durchzusetzen. Voltaire hat dieses Geschäft des Widerlegens selber bekanntlich sehr erfolgreich betrieben. Er mußte, um seine Deutung der geschichtlichen Erfahrung plausibel zu machen, erst die andere, vorgängige, die seinen 185 Vorstellungen eines sinnvoll geregelten Zeitverlaufs nicht entsprach, als gar keine Deutung erscheinen lassen. Das klingt dann, als Meinung seiner Freundin, der Marquise du Cha-telet, so: »Diese philosophische Frau wurde von zwei Tatsachen in den meisten unserer historischen Kompilationen abgestoßen: von den langweiligen Details und den himmelschreienden Lügen; sie konnte ihren Abscheu nicht überwinden," den ihr die Anfänge unserer Monarchie einflößten: vor und nach Karl dem Großen erschien ihr alles klein und wild. Sie hatte vorgehabt, die Geschichte Frankreichs, Deutschlands, Spaniens, Italiens zu lesen, und war davon angewidert worden; sie hatte nur ein Chaos gefunden, einen Haufen unnützer Fakten, von denen die meisten falsch und schlecht verdaut waren, das sind [...] barbarische Handlungen unter barbarischen Namen, [...] keine Kenntnis der Sitten, weder der Regierung, noch der Gesetze, noch der Meinungen [...].« oder in den Worten, die Voltaire seiner Freundin direkt in den Mund legt: , »Ich konnte keine großartige Geschichte unserer modernen Nationen finden; ich sehe dort kaum mehr als Konfusionen, eine Menge von kleinen Ereignissen ohne Zusammenhang und Folge, tausend Schlachten, die nichts entschieden haben und von denen ich einzig und allein lernte, welcher Waffen man sich bediente, um sich umzubringen. Ich habe auf ein so trockenes wie uferloses Studium verzichtet, das den Geist überwältigt, ohne ihn aufzuklären.« Mit dieser Kritik schuf sich Voltaire optimale Rezeptionsbedingungen seiner eigenen Geschichtsschreibung: »Der Gegenstand war die Geschichte des menschlichen Geistes und nicht die Details der fast immer entstellten Tatsachen; es handelte sich nicht darum, beispielsweise zu ermitteln, aus welcher Familie der Seigneur de Puiset oder der Seigneur de Montlhery stammten, die gegen die Könige von Frankreich Krieg führten; sondern es ging darum zu sehen, durch welche Schritte man von der barbarischen Bäuerlichkeit dieser Zeiten zur feinen Lebensart der unsrigen gelangt ist.« Ein Beispiel dafür, daß sich die Geschichtsschreibung der (formal) gleichen kritischen Erzählweise bedienen muß, um die Unhaltbarkeit bürgerlicher Kontinuitätsvorstellungen als Legitimationsgründe für bestehende Verhältnisse zu erweisen, ist Franz Mehrings Lessing-Le-gende.284 Hier reklamiert ein sozialdemokratischer Historiker den Repräsentanten der Aufklärung für die Tradition der Arbeiterbewegung. Dies kann er nur dadurch plausibel machen, daß er die Gegengeschichte zu der bürgerlichen schreibt, die Lessing zur kulturellen Bezugsgröße der politischen Identität des neuen deutschen Nationalstaa- ts gemacht hatte. Die bürgerliche Geschichte wird als >Legende< entlarvt, die einer ernsthaften Uberprüfung der Tatsachen nicht standhalte. Mit seiner Gegengeschichte bcfjxil Mehring Lessing sozusagen aus den Fängen einer falschen Kontinuität und kann ihn nun in anderen, der Realität seines Verhältnisses zum preußischen Staat gerechter werdenden historischen Interpretationen zur Bezugsgröße der politischen Identitätsbildung im Rahmen der Gegenkultur der Arbeiterbewegung machen. Schließlich sei abschießend noch auf das Beispiel der Frauengeschichte verwiesen, wo kritisches Erzählen deshalb unübersehbar im Vordergrund steht, weil hier eingeschliffene kulturelle Deutungsmuster von Gcschlechtsrollen aufgebrochen werden müssen, die weitreichende Auswirkungen auf die leitenden Gesichtspunkte der historischen Interpretation haben. Der Vorwurf, die Hälfte der Menschheit sei als Handlungssubjekt durch die Geschichtsschreibung stumm gemacht worden, und die Forderung, ihr nun die Sprache der Erinnerung zu verleihen, muß zwangsläufig erst zu weitreichenden und tiefgehenden Dekompositionen bisher üblicher Interpretationsmuster führen, ehe neue, wirklich umgreifende und erfahrungsgesättigte Zeitverlaufsvorstellungen entwickelt werden können.285 d) Genetisches Erzählen Genetisches Erzählen formiert sich in Geschichten, die Strukturveränderungen eines Systems als notwendige Bedingung dafür verstehen, daß es sich im Zeitfluß auf Dauer stellen kann. Zeitliche Veränderungen werden als Modi der Kontinuierung selber interpretiert; der Schrecken, anders zu werden, wird als Chance sichtbar gemacht, der-nder diejenige zu werden, der oder die man immer schon gewesen sein wollte. Im Lichte dieser Erzählweise erscheinen erfahrene Veränderungen menschlicher Lebensumstände als Prozesse, in denen sie sich selbst transzendieren und eben dadurch auf Dauer stellen. Gegenwartserfahrungen von Veränderungen werden durch diese Art der historischen Erinnerung als Handlungsmöglichkeiten zur Kontinuierung solcher Selbsttranszendierungen verständlich gemacht: Zukunft wird als Überbietung von Herkunft erwartbar. Das genetische Erzählen bindet Flerkunlt und Zukunft nicht zur Einheit veränderungsresistenter Traditionen und Fländlungsregeln zu- ^ . / sammen, sie hält sie aber auch nicht absträkt.^uiseinander wie dast kritische Erzählen, sondern es markiert zwischen 'ihnen eine quali-" 186 187 tative Differenz, die sie zugleich mit der Vorstellung eines kontinuierlichen Übergangs von der einen Qualität zur andern überbrückt. Genetisches Erzählen ist also >dialektisch<. Es erinnert die Vergangenheit als ein »zwar schon, aber auch noch nicht< dessen, was das gegenwärtige Handeln als leitende Absicht in die aktuellen Veränderungen einbringt, in denen es sich vollzieht und die es vollzieht, und es eröffnet dem Handeln dadurch eine Zukunftsperspektive, in der es über die Vergangenheit hinausgelangt und doch nicht von ihr abgeschnitten wird. Die Vergangenheit wird im genetischen Erzählen als Versprechen einer Zukunft interpretiert, das sie nicht schon erfüllen konnte (wie es die traditions- und ursprungsorientierte Erzählweise darlegt), sondern das durch handelnd zu realisierende Veränderungen der Lebensverhältnisse der Gegenwart eingelöst werden muß. Diese Erzählweise bringt also ein dynamisches Moment in die Deutungsmuster der Erinnerung, die zeitliche Veränderungen zu Verläufen kontinuieren: Die Kräfte der Veränderung werden als Faktoren der Kontinuierung gedeutet, die Unruhe der Zeit als Motor ihrer Stetigkeit vorgestellt. Veränderungen werden als prozeßhafte Verläufe vorgestellt, in denen Anderswerden und Gleichbleiben zwei Seiten ein und derselben Sache sind. Genetisches Erzählen ist sozusagen heraklitisch. Es stellt Kontinuität als eine Richtung von Veränderungen vor, die die drei Zeitdimensionen zur Einheit einer Handlungsorientierung zusammenschließt. Diese Richtung (z. 13. diejenige von Emanzipation als Prozeß der Erweiterung von Freiheitschancen in der Organisierung von Herrschaft)286 wird als Wirklichkeit in der Erfahrung der Vergangen-' heit so erinnert, daß sie in die (normative) Absicht von Handeln eingehen und ihm eine Zukunftsperspektive erschließen kann, in der diese seine Absicht als realisierbar erscheint. Identität wird hier nun nicht mehr durch Aufhebung des Zeitflusses menschlicher Lebensgestaltung in die innerzeitliche Dauer von Tradition und Ursprung gebildet, auch nicht durch die Transformation von tfy ('/«/-■''■Zeiterfahrungen in die überzeitliche Dauer von Handlungsregeln, und y auch nicht durch eine Distanzierung und Negation von Identitätsdefinitionen, wie sie in historischen Deutungen von Lebensverhältnissen vorgegeben sind; sie wird vielmehr durch eine Deutung von Zeiterfah-rung gebildet, in der die zeitliche Bewegtheit menschlicher Subjektivität positiv als Chance und nicht als Bedrohung in das zeittrans/elidierende Selbstverhältnis von Handlungssubjekten eingeht: Genetisches Erzählen artikuliert Identität als Bildungsprozeß. Zeit wird durch genetisches Erzählen als Sinn verzeitlicht. 188 ejnnbildung durch genetisches Erzählen wird durch Geschichten repräsentiert, die Zeitverläufe als Fortschritt deuten. Das heißt aber picht, daß diese Erzählweise zeitliche Veränderungen stets als Entwicklungsprozesse von der Art deutet, daß aktuelles Handeln in die 1 pflicht einer positiven Überbietung der Vergangenheit in die Zukunft [hinein genommen wird. Durch genetisches Erzählen werden auchv diejenigen Zeitverlaufsvorstellungen gebildet, in denen die Verände-rUngen von Mensch und Welt in der Vergangenheit als Verfall erschei-nen und die daher Handeln nicht an Fortschritts-, sondern an Verhin-derungs- oder Rettungsperspektiven orientieren. Aber auch dann wird durch die Erinnerung eine zeitliche Orientierung geleistet, die die Identität der angesprochenen Subjekte selber in eine zeitliche Bewegung bringt. Das ist das Entscheidende: Durch genetisches Erzählen wird Identität als ein Selbstverhältnis des Menschen nicht wie im traditionalen Erzählen in der Zeit, nicht wie im exemplarischen Erzählen über der und auch nicht wie im kritischen Erzählen gegen die Zeit, sondern - wie man entsprechend sagen müßte - mit der Zeit mitgehend zur Sprache .' gebracht, also durch eine innere zeitliche Dynamisierung gebildet. Adam Ferguson hat den durch diese Erzählweise angesprochenen Menschen daher so charakterisiert: »Sein Sinnbild ist ein fließender Strom, nicht ein stehendes Gewässer.«287 Wesentlich für die Sinnbildung über Zeiterfahrung durch das genetische Erzählen ist es, daß es zeitliche Veränderungen als gerichtete Prozesse deutet, auf die sich'?/' gegenwärtiges Handeln ausrichten muß, wenn seine Subjekte im Zeitfluß bestehen wollen; welche Wertigkeit diese Richtung bekommt, hängt von den jeweiligen Handlungserwartungen und -chancen ab, in denen und auf die hin erzählt wird. Seitdem die Aufklärung von der kritischen Depotenzierung vorgegebener historischer Herrschaftslegitimationen und entsprechender Identitätsdefinitionen zur Ausführung eigener Zeitverlaufsvorstellungen übergegangen ist, prägt die genetische Erzählweise die Historiographie. Sie liegt also der Fortschrittsorientierung der bürgerlichen Gesellschaft durch eine Historiographie bestimmend zugrunde, die der Erfahrung des zeitlichen Wandels der menschlichen Gesellschaft den Sinn ihrer grenzenlosen Verbesserungsfähigkeit gibt. Diese Fort-schrittsorientierung wird durch Condorcets Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes geradezu paradigmatisch dargestellt. Die hier maßgebende Kontinuitätsvorstellung wird in folgender Formulierung deutlich, in der Condorcet die 189 für den »historischem Charakter seiner »Darstellung* maßgebender? Gesichtspunkte angibt: »Sie muß die Veränderungen in ihrer Gesetzmäßigkeit wiedergeben, den Ein-'l fluß eines jeden Augenblicks auf den folgenden darstellen und auf diese WeiSel an den Modifikationen, welche das Menschengeschlecht erfuhr, indem er sich I inmitten der Uiiermeßüclikeit der Zeiträume unablässig erneuerte, den Weg dartun, dem es folgte, die Schritte zeigen, die es in Richtung auf die Wahrheit oder das Glück tat. Die Betrachtung dessen, was der Mensch war, und dessen, was er heute ist, wird uns dann zu den Mitteln führen, die weiteren Fort-1 schritte, die seine Natur ihn noch erhoffen läßt, zu sichern und zu beschleuni-'l gen.«288 Auch die historistische Geschichtsschreibung verkörpert die geneti-1 sehe Erzählweise, obwohl der Historismus das von Condorcet beson-1 ders klar vertretene Fortschrittskonzept als abstrakt kritisiert hatte, 1 weil dieses Konzept zur Aufklärung der jeweils besonderen Situation I aktuellen Handelns nicht hinreiche. Wie sehr der Historismus mit der Aufklärung im Sinnbildungsprinzip des genetischen Erzählens übereinstimmt, läßt sich besonders markant an Rankes Auseinanderset- . zung mit dem Fortschrittsbegriff der Aufklärung illustrieren. Ranke hat für seine Kritik die bekannte Formulierung gefunden: »Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott [.. .].«289 Dies hat ihn aber - eben weil für ihn die Sinnbildungsprinzipien des genetischen Erzählens ebenfalls gelten - nicht daran gehindert, die Kategorie des Fortschritts in der Formulierung zu verwenden, in der er den Leitgedanken seiner eigenen Historiographie zum Ausdruck bringt: »[...] In der Herbeiführung der verschiedenen Nationen und der Individuen zur Idee der Menschheit und der Kultur ist der Fortschritt ein unbedingter.«290 Dieses Sinnsubstrat des genetischen Erzählens - Ranke bezeichnet es auch mit einem historismusspezifischeren Terminus als »allgemeine Entwicklung des menschlichen Geschlechts«291 - läßt sich als maßgebliche Geschichtsvorstellung durch alle Filiationen des Historismus292 hindurch verfolgen. Droysen schildert es als »Leben der Menschheit*: »Naturgegeben wie sie ist, wird sie sofort erfaßt von der treibenden Unruhe des mitgeborenen Geistes; von Anbeginn ist da fort und fort Hader, ein Ringen ohne Rast, ein endloser Antäuskampf. Das ist ihre Geschichte; sie zerrt und bröckelt an jenem Natürlichen, geht daran, es zu zersetzen und aufzulösen; aber was sie selber so zerstörend schafft, Gedanken, Erkenntnisse, i eine Idealwelt, wie der neugewordene Geist die wirkliche fordert, sofort senkt es sich hinab in die Masse, eint sich, annaturt sich ihr, wird ein neues, untrennbares Prädikat an jenem natürlich Gegebenen. Und aus den immer neuen 190 Metamorphosen neue Impulse gewinnend, neue Verneinungen schärfend, puue [deale schaltend, wirkt die Geschichte immer neues Streben, immer neue yc r wan d I u n gen. *m Und Jacob Burckhardt legt seine Kontinuitätsvorstellung als Leitfaden seiner Geschichtsschreibung so dar: »Unser Gegenstand ist diejenige Vergangenheit, welche deutlich mit Gegenwart und Zukunft zusammenhängt. Unsere leitende Idee ist der Gang der Kultur, die Sukzession der Bildungsstufen bei den verschiedenen Völkern und innerhalb der einzelnen Völker selbst [...]. Das Continuum ist höchst großartig [...]. Durch langsame Entwicklung, wie durch Sprünge und durch Wek-kung der Gegensätze hängen wir geistig mit ihnen (den verschiedenen Völkern im Continuum des Abendlandes) zusammen. Es bedeutet ein hohes Glück, dieser aktiven Menschheit anzugehören.«294 Wie sehr das genetische Erzählen maßgebendes Sinnbildungskrite-rium des Historismus gewesen ist, läßt sich auch an einer seiner wichtigsten Programmschriften zeigen, an Humboldts Akademieabhandlung Uber die Aufgabe des Geschichtsschreibers von 182r. Wenn es dort zusammenfassend heißt: »Das Geschäft des Geschichtsschreibers in seiner letzten, aber einfachsten Auflösung ist Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu finden«,295 dann ist dies nur als Anweisung zu verstehen, Geschichte genetisch zu schreiben, und entsprechend muß die Schrift Humboldts auch als Begründung für die Präferenz dieser Schreibweise gelesen werden. Schließlich ist auch die Geschichtsauffassung des Marxismus dem Sinnbildungsschema des genetischen Erzählens verpflichtet, sollte also als Beispiel für diese Erzählweise nicht fehlen. Marx selbst hat im Feuerbach-Kapitel der Deutschen Ideologie19*' sein genetisches Kontinuitätskonzept sowohl anthropologisch begründet (menschliches Handeln als »geschichtliche Tat*297), wie auch als Umriß einer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgreifenden geschichtlichen Entwicklung der Menschheit (Selbsttransformation der menschlichen Vergesellschaftung von zwangshaften Lebensverhältnissen in Vergangenheit und Gegenwart in zukünftige freie) dargelegt. 4. Zur Typologisierung von Geschichtsdarstellungen Geschichtsdarstellungen bedienen sich der vier Weisen des historischen Erzählens, indem sie sie zur Einheit eines einzigen Erzählduktus zusammenfügen, und ihre Eigenart besteht darin, wie sie diese 191 Sjjß^tm SärtMG /7k*# Einheit jeweils realisieren. Die für eine Geschichtsdarstellung wesent-liche^Sinnbildungsleistung^rgibt sich daher aus ihrer Verbindung der unterschiedlichen historischen Erzählweisen. Diese Verbindung legt fest, was als Geschichte darstellend in den Blick kommt, welche Formen der Darstellung verwendet werden und welche Orientierungsfunktionen die Darstellung wahrnehmen kann. Eine Typologie der Geschichtsschreibung, die auf die vier Typen des historischen Erzählens und ihre vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten zurückgeht, bietet daher einen Bezugsrahmen zur Interpretation historischer Darstellungen an, der einerseits allgemein genug ist, um der Variationsbreite des historischen Erzählens gerecht zu werden, und der andererseits über genügend Differenzierungen verfügt, um konkrete Befunde innerhalb dieser Variationsbreite begrifflich genau bestimmbar zu machen. Was die Extensität des Erfahrungsbezuges betrifft, so beruht er auf einer anthropologischen Universalie, ist also kaum überbietbar: Was immer als Realisation der dem Menschen als Gattungswesen zukommenden Fähigkeit zum historischen Erzählen angesehen werden kann, gilt als Darstellung von Geschichte oder Geschichtsschreibung im weitesten Sinne und fällt in Betracht. Damit wird ein erheblich umfangreicheres empirisches Material einbezogen als dort, wo das, was als Geschichtsschreibung angesprochen werden soll, durch kulturspezifische Normen oder durch eine inhaltlich bestimmte Geschichtsauffassung definiert wird. Das Problem einer Typologie der Geschichtsschreibung mit einer solchen anthropologisch-universalistischen Ausrichtung auf die Erfahrung ist indes weniger eine Verengung des Blicks als vielmehr seine Überhöhung über die konkrete Vielfalt historischer Darstellungen in das abstrakte Einerlei einer in ihnen sich manifestierenden Fähigkeit des historischen Erzählens als Sinnbildung über Zeiterfahrungen. Diese Gefahr läßt sich aber dadurch vermeiden, daß die Feststellung, ob und inwieweit ein Text oder eine mündliche Rede als Geschichtsdarstellung interpretiert werden muß, nicht jenseits der Ausdifferenzierung des historischen Erzählens in seine vier Grundformen getroffen wird, sondern nur innerhalb ihrer. Denn was es heißt, daß diese Fähigkeit sich realisiert, das wird mit eben dieser Ausdifferenzierung zum Ausdruck gebracht, und wenn auf sie hin der weite Spielraum aller empirischen Manifestationen des historischen Erzählens bezogen wird, dann erschließt er sich gerade in seiner Mannigfaltigkeit. Die vom Erzählvorgang als Sinnbildungsprozeß und seiner Funktion 192 jer zeitlichen Orientierung ausgehende Typologie isoliert in ihrem differenzierten Zugriff innere Form und äußere Funktion des historischen Erzählens nicht voneinander, sondern macht sie im Blick auf konkrete Texte (womit auch die Artikulation mündlichen Erzählens gemeint ist2guter< Herrschaft niederschlägt, die exemplarisch dargelegt werden kann. Es gibt auch Geschichten, in denen die Tradition selbst Exempel ist, so z.B. die Geschichte der Einsetzung des christlichen Abendmahls durch Jesus von Nazareth. Hier wird eine Handlung der Vergangenheit erzählend so in Erinnerung gebracht, daß ihre traditionelle Bedeutung als Sinnstiftung einer kultischen Handlung bewußt gemacht wird, und eben damit wird sie zugleich so erzählt, daß sie ein Exempel für den traditional vorgeschriebenen Vollzug dieser kultischen Handlung ist. 194 pie traditionale Erzählweise impliziert die kritische, weil sie Traditio-nen auf Herausforderungen der Gegenwart hin aktualisiert und weil sie dabei zwischen unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten tradi-tionaler Deutungsmuster differenzieren muß, um den herausfordernden Gegenwartserfahrungen gerecht werden zu können. In jeder erzählenden Aktualisierung von Traditionen steckt ein Stück partieller Negation, weil nicht alle Traditionsbeständc zugleich und auch nicht jn gleicher Intensität aktualisiert werden können, pies illustrieren die Geschichten, die Ursprünge zur Klärung von Widersprüchen in den normativen Regelungen gegenwärtigen Handelns vergegenwärtigen; also z. B. Geschichten, die die Herkunft von Herrschern erzählen, um die Illegitimität von Konkurrenten um die Herrschaft zu erweisen. Eigentlich sind alle traditional legitimierenden Herrschergenealogien implizit kritisch, weil mit ihnen ja auch immer Kriterien formuliert werden, mit denen die Illegitimität abweichender Herrschaftsansprüche bewiesen werden kann. Eine andere Gruppe von Beispielen stellen die Geschichten dar, die die Tradition des Christentums vergegenwärtigen, um dogmatische Explikationen des auf dieser Tradition beruhenden Glaubens zu begründen und damit (implizit oder explizit) immer auch abweichende Explikationen im Hinblick auf deren Rechtfertigung durch die gleiche Tradition zu kritisieren. Die traditionale Erzählweise impliziert schließlich auch die genetische. Denn der Zeilenabstand zwischen Gegenwart und Vergangenheit, dem das traditionale Erzählen durch seine partiellen Negationen in der Aktualisierung vorgegebener Deuuingsmuster Rechnung trägt, muß als solcher überbrückt werden. Das traditionale Erzählen ist deshalb nötig, weil gegenwärtige Zeiterfahrungen nicht ohne weiteres und nicht restlos in die vorgegebenen traditionellen Deutungsmuster aufgehen; die Gegenwart hat immer auch den Ruch des >Neuen<, und es bedarf des besonderen Sinnbildungsvorgangs des traditionalen Erzählens, um dieses Neue so in das schon Bekannte und Vertraute zu integrieren, daß der Ruch des Neuen nicht zum irritierenden haut goät des Unerhörten wird. Diese vorgängigen Abweichungen gegenwärtiger Zeiterfahrungen von traditionalen Orientierungen können nicht einfach mit der Kontinuitätsvorstellung der Dauer überzeitlicher Sinnstiftungen im Zeitfluß überspielt, sondern müssen im Hinblick auf solche Dauer eigens auch narrativ erklärt werden: Mit der Kontinuitätsvorstellung einer als Dauer von Lebensordnungen verewigten Zeit müssen Veränderungen als solche interpretierbar werden, und 195 dies setzt die genetische Erzählweise in Kraft, wenn traditional erzählt] wird. Auch diese Implikation der genetischen Erzählweise in der traditiona-len läßt sich an der Gattung der herrschaftslegitimierenden Genealogien illustrieren. Nehmen wir an, das legitimierende Prinzip ist das der Geschlechtszugehörigkeit nach bestimmten Erbfolgeregeln, dann verewigt sich die Zeit in der Dauer des Geschlechts als Garant für die Stabilität einer politischen Ordnung, und mit der Vorstellung dieser Dauer läßt sich die Herrschaft einer bestimmten Person rechtfertigen. Zugleich aber impliziert diese Vorstellung auch den Vorgang eines J kontinuierlichen - Wechsels von Personen; hier ist die Zeit genetisch gleichsam ausgespannt zwischen Herkunft, Gegenwart und Zukunft. Dieser genetisch vorgestellte Zeitfluß trägt geradezu das Sinngebilde einer alle zeitlichen Veränderungen überdauernden Kontinuität geordneter Herrschaft. ) Die exemplarische Erzählweise impliziert die traditionale; denn sie setzt die Geltung der durch sie exemplifizierten Handlungsregeln voraus, und ohne Rückgang auf Traditionen können diese Regeln nicht mit historischer Erfahrung begründet werden. Traditionen erschließen Bereiche historischer Erfahrung so, daß ihnen >Fälle< für allgemeine Regeln als Bekräftigung für deren Geltung entnommen werden können. Die exemplifizierende Tätigkeit der historischen Urteilskraft ist nur unter traditionalen Deutungsvorgaben möglich. Solche Vorgaben lassen im Zeitfluß die Dauer von Lebensordnungen sichtbar werden, und nur wenn eine solche Dauer vorgegeben wird, können zeit-differente Handlungen Fälle ein und derselben Regel sein. Die als überzeitlich geltend angenommene Regel muß im Bereich der erfahrenen: "zeitlichen Veränderungen >greifen< können, und dazu bedarf es einer deutenden Zubereitung dieser Veränderungen, aufgrund deren sie für etwas in ihnen Konstantes überhaupt stehen können. Dies geschieht durch traditionales Erzählen. Anders gesagt: Exemplarisches Erzählen bezieht allgemeine Normen, um sie konkretisierend zu bekräftigen, auf Erfahrungen, und dies ist nur unter der Voraussetzung ihrer Beziehbarkeit möglich; Traditionen stellen diese Voraussetzung dar, weil sie eine der Unterscheidung zwischen Erfahrung und Norm noch vorausliegende Einheit von beiden sind. Geschichte kann durch exemplarisches Erzählen nicht sinnvoll als Erfahrungsraum erschlossen, also Zeit nicht als Sinn verräumlicht werden, wenn nicht zugleich in diesem Erfahrungsraum Zeit als Dauer von Lebensordnung verewigt wäre. 196 beispielhaft sei darauf hingewiesen, daß exemplarisch nur erzählt werben kann, was es heißt, ein guter oder schlechter Herrscher zu sein, und daß eine solche Erzählung nur dann allgemeine Normen über I gute und schlechte Herrschaftsausübung durch Konkretisierung an lhistorischen Erfahrungen bekräftigen kann, wenn die Erfahrung von Herrschaft im Wandel der Zeit schon auf die Dauer einer legitimier-[ baren Herrschaft hin traditional erschlossen ist. Ähnlich ist es mit den [exemplarisch angelegten Heiligengeschichten in der älteren christ-Iliehen Geschichtsschreibung: Traditionen müssen >geheiligtes< Leben fals realen (also erfahrbaren) und zugleich vorbildlichen (also normativ verpflichtenden) Lebensvollzug definiert haben, damit es, in die Form ,von Regeln gebracht, an historischer Erfahrung lehrhaft illustriert und rmit der historischen Erfahrung auch normativ angesonnen werden fkann. Die exemplarische Erzählweise impliziert die kritische; denn ohne' (partielle) Negationen im Bereich traditionaler Deutungen von Zeiter-; fahrungen läßt sich die in diesen Deutungen erschlossene, zeitverewi-gende Dauer von Lebensordnungen nämlich nicht in die Form einer zeitüberhobenen Regel bringen, die an zeitdifferierenden Erfahrungen ausgewiesen werden kann. In Traditionen sind Handlungsregeln so mit Handlungsumständen verknüpft, daß die Geltung der Regel von der Dauer der Umstände abhängt. Exemplarisches Erzählen muß diese Abhängigkeit (mindestens implizit) negieren, um Handlungsregeln unter Absehung von Umständen (also allgemein) als gültig für ,Handlungen unter differierenden Umständen nachweisen zu können. Einfacher formuliert: Traditionen sind immer partikulare Handlungsorientierungen (daher auch ihr immanent kritisches Verhältnis zu an-ideren Traditionen); ihre Partikularität muß negiert werden, damit nichtpartikulare Orientierungen (allgemeine Regelungen) erzählend -nämlich exemplarisch - realisiert werden können. Solche Negationen geben der traditionell schon vorerschlossenen Zeiterfahrung die räumliche Weite, mit der das exemplarische Erzählen über die Grenzen der Tradition hinausgehend Zeiterfahrungen erschließt. So kritisieren beispielsweise Geschichten, die exemplarisch Herr-■schaftsausübung an allgemeine Regeln binden, (mindestens implizit) die Geschichten, in denen Herrschaft lediglich durch Traditionen legitimiert wird (z.B. Voltaires Geschichte Ludwigs XIV.). Die exemplarische Erzählweise impliziert die genetische; denn auch sie hebt den Zeilenabstand zwischen erinnerter geschichtlicher Erfahrung und gegenwärtiger Handlungssituation nicht schlechthin auf: Die 197 exemplarisch dargestellten Handlungsregeln müssen sftuationsbezo-gen konkretisiert werden, und deshalb können sie sich nicht über die Situierung der gegenwärtigen Praxis im Zeitfluß erheben, indem sie bloß auf die zeitiiberhobene Geltung der für diese Praxis wichtigen Regeln verweisen. Sie müssen vielmehr die geschichtliche Erfahrung mit der sie diese Regeln konkretisierend bekräftigen, situationsspezi-fisch darstellen, und dazu ist es notwendig, an der angesprochenen Erfahrung prinzipiell eine Zeitspezifik sichtbar zu machen; denn erst dann rückt die unterschiedliche Zeitspezifik der Gegenwartserfahrung in den Blick und kann in die exemplarische Präsentation der zu ihrer Bewältigung notwendigen Handlungsregeln gleichsam mit hineingenommen werden. Exemplarisch kann nicht unter der Voraussetzung erzählt werden, daß erinnerte Vergangenheit und zu bewältigende Gegenwart in jeder Hinsicht gleich sind (denn dann gäbe es nichts mehr erinnernd zu 'bewältigen; das Erzählte würde mit dieser Voraussetzung schlicht die [Herausforderung, die es nötig macht, also letztlich sich selbst beseiti-5 gen). Vielmehr müssen Vergangenheit und Gegenwart in ihrer Unter-schiedenheit markiert bleiben; die Besonderheit der das Erzählen herausfordernden Gegenwartserfahrung darf nicht einfach verschwinden, weil die Tatsache, daß diese Erfahrung zeitspezifisch ist, also abweicht von den üblichen, vorab schon deutend verarbeiteten Erfahrungen, ja gerade bewältigt werden muß, wenn aus der Erinnerung deutend Beispiele (Exempla) dafür mobilisiert werden sollen, wie man solche Erfahrungen auf die geltenden Handlungsregeln beziehen kann. Dies kann nun wiederum nicht heißen, daß die exemplifizierte Erfahrung der Vergangenheit und die mit ihr zu deutende Erfahrung der Gegenwart wegen ihrer Zeitspezifik unvergleichbar wären; - denn dann könnte nicht mehr exemplarisch erzählt werden. Der Zeitabstand muß vielmehr (mindestens implizit) als genetisch überbrückt angenommen werden, damit die durch Zeitspezifik differenten Erfahrungen unter die gleiche Regel gebracht werden können ^genetisch deshalb, weil (wie oben gezeigt) die traditionale Verbindung von beiden genau in der Hinsicht nicht mehr reicht, in der das exemplarische Erzählen eine (partiell kritische) Uberwindung von Traditionen zur notwendigen Voraussetzung hat. Beispiele für die genetischen Implikationen des exemplarischen Erzählens ließen sich in der Gruppe der exemplarischen Geschichten finden, die im Rahmen der (genetisch entworfenen) christlichen Heilsgeschichte stehen und nur in diesem Rahmen ihre Exemplifizierungen durchführen können. Die exemplarische Zuordnung von Gegenwart und Vergangenheit ist nämlich hier immer schon >typologisch< relativiert auf genetische Transzendierungen allgemeiner Handlungsum-stände, ohne daß damit die Vergleichbarkeit als solche in Frage gestellt v/äre. >Typologisch< ist hier in dem Sinne gemeint, daß ein Sachverhalt • in seiner Zeitspezifik als Typos symbolisch auf einen qualitativ ande- [ ren Zeithorizont verweist (z.B. ein Vorgang im Alten Testament auf einen im Neuen); die >Typologie< dürfte ihre Vorstellung genetischer I Kontinuität deshalb als Vorstellung einer geradezu räumlich geschieh- I teten Zeit entfalten, um der Dominanz der exemplarischen über die; genetische Erzählweise zu entsprechen, die solange gilt, wie die histo-ria noch vitae magistra ist.301 -—v Die kritische Erzählweise impliziert die drei anderen auf doppelte Weise: einmal insofern sie die von ihnen an bestimmten Inhalten und mit bestimmten Absichten realisierten Zeitverlaufsvorstellungen negiert (und damit notwendig als Bezugsgröße voraussetzen muß; sie-' lebt von dem, wogegen sie sich wendet), und außerdem, weil sie andere Zeitverlaufsvorstellungen ermöglichen will, die traditional, exemplarisch oder genetisch konzipiert sein müssen, da die kritische Er/.ählweise rein für sich keine neuen Zeitverlaufsvorstellungen positiv entwickeln kann, wohl aber das dafür notwendige Ferment der Dekomposition der alten darstellt. (Da sich die drei Erzählweisen, die dies können, gegenseitig implizieren, und dies im einzelnen begründet wurde, sei hier auf eine weitere Differenzierung ihrer je besonderen Implikation in der kritischen Erzählweise verzichtet.) Diese Implikation kann leicht an dem bei der Darlegung der kritischen Erzählweise schon genannten Beispiel der Geschichtsschreibung von Voltaire erläutert werden: Diese Historiographie bezieht sich negativ auf die in der christlichen Tradition dominierenden und hier auch traditional, exemplarisch und genetisch realisierten Zeitverlaufsvorstellungen und entfaltet ihre intellektuelle und literarische Brillanz und ihr moralisches Pathos in der Dekomposition dieser Vorstellung, ohne sie schon durch eine andere von gleicher innerer Stringenz ersetzen zu können, wohl aber, um eine solche andere zu ermöglichen. Dies läßt sich am Vorwort seines historiograhischen Hauptwerkes, des Essai sur les meeurs et l'esprit des nations demonstrieren, in dem er sich zum >plan de cet ouvrage< äußert. Es geht ihm generell um eine Dekomposition der christlichen Heilsgeschichte als Herrschaftslegitimation. Dies spricht er natürlich nicht offen aus, um nicht gegen die absolutistisch-monarchische Grundordnung Frankreichs zu versto- 198 199 ßen; aber in der Art und Weise, wie er sich auf die zu seiner Zeit klassische Darstellung dieser Heilsgeschichte in Bossuets Discours sur l'histoire universelle bezieht, die er maliziös »discours sur une partie de l'histoire universelle« nennt, macht deutlich, daß er die in seiner Zeit traditionelle heilsgeschichtliche Vorstellung eines allgemeinen Sinnzusammenhangs zeitlicher Veränderungen in ihrer Plausibilität bestreiten und durch eine andere (schon angedeutete, aber selbst noch nicht stringent ausgeführte) Vorstellung ersetzen will: »Von den Arabern, die ein mächtiges Reich und eine einflußreiche Religion begründeten, spricht Bossuet nur wie von einem Heer von Barbaren. Uberhaupt scheint er durch seine Gcschichtsdarstellung den Beweis geben zu wollen, daß alles in der Welt nur im Interesse des jüdischen Volkes geschehe [...] Zu wünschen wäre übrigens, daß er die alten Völker des Orients nicht gänzlich mit Stillschweigen übergangen hätte, wie z. B. die Inder und Chinesen, die schon von hoher Bedeutung waren, ehe sich die anderen Völker nur gebildet hatten. Wir haben wahrlich kein Recht, die Bekanntschaft mit diesen beiden Nationen zu versäumen. Die Produkte ihrer Länder dienen zu unserer Nahrung, ihre Stoffe zu unserer Kleidung; wir unterhalten uns mit den Spielen, die sie erfanden; ihre alten Sagen trugen zu unserer sittlichen Bildung bei, und die Handeltreibenden Europas haben sie aufgesucht, seitdem der Weg zu ihnen bekannt geworden ist.«302 Voltaire schrieb seine Geschichte als (implizite) Widerlegung einer anderen; der dabei schon angedeutete neue Leitfaden einer narrativen Sinnbildung über Zeiterfahrungen wurde dann bald zu einem expliziten Bezugsrahmen einer Historiographie ausgearbeitet, die es nicht mehr nötig hatte, sich an der Tradition der Heilsgeschichte kritisch abzuarbeiten. Die genetische Erzählweise impliziert die traditionale und exemplarische, weil sich Vorstellungen, in denen die Dauer von Systemen von der Bedingung ihrer Veränderung abhängig gemacht wird, nicht ohne den Rekurs auf Traditionen und allgemeine Handlungsregeln entwik-keln lassen. Traditionen und Handlungsregeln umgreifen die jeweiligen Veränderungen so, daß sie grundsätzlich mit der Sinnvermutung von Dauer konfrontiert werden können. Genesen sind immer auch potenzierte Traditionen und Handlungsregeln. Traditionen und Handlungsregeln machen Dauer vor aller Veränderung erzählbar, und diese Dauer muß schon erzählt sein, damit sie in den Veränderungen selbst, die sie Uprima vista als Veränderungen gar nicht zeigen, aufgesucht, festgestellt und dargestellt werden kann. Hinsichtlich der Implikation der traditionalen Erzählweise illustrieren dies alle Geschichten, die Traditionen in der Form von Entwicklungen präsentieren, z. B. die Nationalgeschichten der meisten bürgerlichen Historiker des 19. Jahrhunderts. Was gemeint ist, zeigt schlaglichtartig der zweite Absatz der Vorrede von Rankes Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation: »Lange war die Zeit vorüber, wo ein allwaltender Wille unsere allgemeinen Angelegenheiten leitete; noch hatte sich jedoch das politische Leben auch nicht, wie es später geschehen ist, zum größeren Teile in die einzelnen Landschaften zurückgezogen; die Reichsvcrsammlungen übten, wenngleich nicht vollkommen festbestimmte, aber Überaus tiefgreifende Rechte einer höchsten Regierung aus [...] Die Einheit der Nation fand in diesen Versammlungen ihren lebendigen Ausdruck. In den Grenzen des Reiches konnte nichts Bedeutendes vorkommen, was man nicht hier in Erwägung genommen, nichts Neues sich erheben, was sich nicht hier hätte durchsetzen müssen.«303 Hier wird die politische Veränderung zwischen dem >lange vorüber< (der mittelalterlichen Kaiserzeit) und dem >noch nicht< (der neuzeitlichen absolutistischen Territorialstaatlichkeit) als Inhalt der folgenden Geschichte umrissen, und zugleich wird mit der >Einheit der Nation< die traditionale Vorgabe angedeutet, von der her die thematisierte Veränderung dann als Entwicklung präsentiert werden kann: Nationalität wird als Sinnkriterium kollektiver Identitätsbildung durch genetisches Erzählen zeitlich dynamisiert, und eben dadurch wird sie auch als Tradition anerkannt. Die Implikation der exemplarischen Erzählweise in der genetischen illustrieren alle Geschichten, die Veränderungen von Lebensordnungen im Hinblick auf die in ihnen vorherrschenden Handlungsregeln (empirischer und normativer Art) darstellen. So z.B. die marxistische Geschichtsschreibung, die Transformationen von Gesellschaftsformen genetisch rekonstruiert und dabei auf Gesetze der Vergesellschaftung rekurriert (z. B.: >Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfem).30'' Diese Gesetze umgreifen die jeweils in den Blick genommenen Transformationen, und sie sind eine notwendige (keine hinreichende!) Bedingung dafür, daß sie überhaupt als gerichtete Bewegung, als Transformation oder Entwicklung (wie man in der Sprache des Historismus auch sagen könnte) erzählt werden können und nicht bloß als naturzeitlich ablaufendes Anderswerden menschlicher Vergesellschaftung. Was hier mit dem Exemplarischen gemeint ist, läßt sich mit dem bekannten Diktum erläutern, mit dem Marx seine genetische Betrachtungsweise charakterisiert: 200 201 »Die bürgerliche Gesellschaft ist die entwickeltste und mannigfaltigste historische Organisation der Produktion. Die Kategorien, die ihre Verhältnisse ausdrücken, das Verständnis ihrer Gliederung, gewähren daher zugleich Einsicht in die Gliederung und die Produktionsverhältnisse aller der untergegangenen Gesellschaftsformen, mit deren Trümmern und Elementen sie sich aufgebaut von denen teils noch unüberwundene Reste sich in ihr fortschleppen, bloßc Andeutungen sich zu ausgebildeten Bedeutungen entwickelt haben etc. In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höheres in den untergeordneten Tierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist. Die bürgerliche Ökonomie liefert so den Schlüssel zur antiken etc. Keineswegs aber in der Art der Ökonomen, die alle historischen Unterschiede verwischen und in allen Gesellschaftsformen die bürgerlichen sehen.«305 Was hier als Anatomie angesprochen wird, auf die hin überhaupt das Spätere zum Schlüssel für das Frühere (und Andere) werden kann, dies steht für die übergreifende Regel des Exemplarischen. Beispiel für eine solche Implikation in der nichtmarxistischen Historiographie ist Gernivus' Geschichte des 19. Jahrhunderts. In der Vorrede, die - in einer für die politische Kultur der Deutschen durchaus exemplarischen Weise - zum Gegenstand eines Strafprozesses wegen Verstoßes gegen die obrigkeitlich erheischte Staatsgesinnung bei Angehörigen des öffentlichen Dienstes geworden war,306 in dieser Vorrede legt Gervinus als Bildungsprinzip dieses seines historiographi-schen Werkes folgendes dar: »Wenn wir uns aus dieser einleitenden Betrachtung überzeugen, daß in drei bis vier zusammenhängenden Jahrhunderten die Geschichte sich nach einem innewohnenden Geist und Gesetze in einer einzigen Richtung, trotz allen Hemmungen und Abbeugungen, stetig bewegt, so werden wir leicht voraussetzen, daß auch die wenigen Jahrzehnte, die wir zuletzt durchlebt, derselben Richtung unterworfen sind. Und es wird dann nicht vermessen scheinen, aus eben der Stetigkeit dieser Richtung ihr Ziel erkennen, aus der verbundenen Betrachtung der Gegenwart und der Vergangenheit die Bedeutung unserer Zeit und den Geist ihrer Geschichte - was wir den Zweck unseres Geschichtswerkes nannten - ermitteln zu wollen [...]. Die Geschichte der europäischen Staaten christlicher Zeit bildet ein gemeinsames Ganzes wie im Altertume die Geschichte der Staatengruppe der griechischen Halbinsel und ihrer Pflanzstädte. In beiden Zeiten offenbart sich in dem Verlaufe der inneren Entwicklung der Staaten einerlei Ordnung und gleiches Gesetz. Und dieses Gesetz ist dasselbe, das sich wieder ganz im großen in der Geschichte der Menschheit selber beobachten läßt. Von den despotischen Staatsordnungen des Orients zu den aristokratischen, auf Sklaverei und Leibeigenschaft gegründeten Staaten des Altertums und des Mittelalters, und von da zu der neueren noch im Gang 202 gegriffenen Staatenbildung ist ein regelmäßiger Fortschritt zu gewahren von der geistigen und bürgerlichen Freiheit der Einzelnen zu der der Mehreren und der Vielen. Wo aber die Staaten ihren Lebenslauf ganz vollendet haben, da beobachtet man dann wieder, von dem Höhepunkte dieser aufsteigenden Linie der Entwicklung abwärts, ein Zurückgehen der Bildung, der Freiheit und ]Vlacht von den Vielen zu den Wenigen und Einzelnen. Dieses Gesetz ist es, das sich in jedem Teile der Geschichte, in jedem vollkommeneren Einzelstaate vorfindet, und so auch in den zusammengesetzten Gruppen, die wir bezeichnet haben.«307 Hier ist das Sinnbildungsprinzip des Exemplarischen, das auf gleiche Handlungsregeln in zeitlich differenten Handlungskontexten und unterschiedenen (zeitspezifischen) Handlungsumständen rekurriert, geradezu überdeutlich als notwendige Voraussetzung für eine genetische Erzählung bezeichnet. Damit gesellschaftliche Veränderungen im Lichte einer durch genetisches Erzählen vollzogenen Erinnerung eine Richtung erhalten können, die die Absichten aktueller Praxis in eine Zukunftsperspektive lenken (Absichten, die ohne eine solche Richtungsbestimmung im Zeitfluß ziellos wären), muß die Gerichtetheit von Handeln überhaupt vorausgesetzt und exemplarisch an der geschichtlichen Erfahrung konkretisierend ausgewiesen werden können. In Gervinus' Argumentation: Die Regel, daß es in allem Handeln um die Sicherung und Ausdehnung von Freiheitsspielräumen (Chancen autonomer Zwecksetzungen) geht, muß sich exemplarisch konkretisieren lassen, da sonst konkrete Veränderungen in Art und Ausmaß solcher Freiheitsspielräume nicht als gerichtete Bewegung, als Kontinuität von Freiheit in der dynamischen Form ihrer steten Zunahme (oder Abnahme), historisch interpretiert werden können.308 Die genetische Erzählweise impliziert die kritische, da ohne sie tradi-tionale und exemplarische Kontinuitätsvorstellungen (als notwendige Voraussetzung des genetischen Erzählens) zeitlich überhaupt nicht dynamisiert werden können. Die kritische Erzählweise dekomponiert, die durch iraditionales und exemplarisches Erzählen realisierte Vorstellung von Kontinuität als Dauer von Lebensordnungen, und sie macht dadurch Kontinuität überhaupt erst zeitlich dynamisierbar, d.TiTals Dauer in und durch Veränderung, als Entwicklung, als gerichteten Veränderungsprozeß vorstellbar. Kritisches Erzählen muß Traditionen und Handlungsregeln so gegen ihren Strich bürsten, daß sie potenzierungsbedürftig werden. Rankes bekannter Satz 203 »Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen künftiger Jahre zu belehren, beigemessen: So hoher Ämter unter-windet sich gegenwärtiger Versuch nicht: Er will bloß zeigen, wie es eigentlich 109 gewesen.« läßt sich als Beleg für diese These zitieren; er belegt sie mit den Worten >nicht< und >bloß<. Positiv kommt bei Ranke die Kritik weniger als Erzählweise, sondern als methodisches Verfahren der Quellenkritik vor. Es sollte aber nicht übersehen werden, daß dieses Verfahren hier grundsätzlich auf (mögliches) Erzählen bezogen ist; denn ohne eine interpretierende narrative Anordnung der Quelleninformationen käme es zu keiner historischen Erkenntnis, in der diese Informationen einen zentralen Stellenwert hätten (und nur wegen dieses Stellenwertes wird die Quellenkritik als Forschungsverfahren angewandt). Rankes Schrift Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber, die damals als epochemachender Schritt zu einer Verwissenschaftlichung der Neueren Geschichte angesehen wurde und die ihm auch (neben anderem) die Berliner Professur eingebracht hatte310, muß als zweiter Teil, als Anhang seines Erstlingswerkes, der Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, gelesen werden. Auch in der Form einer verselbständigten Abhandlung hat dieser Text seinen Sinn im Bezug auf einen anderen, auf den nämlich, der die Erzählung realisiert, die durch kritische Uberprüfung der bisherigen Geschichtsschreibung über diese Zeit ermöglicht wurde. Dieser zweite Teil stellt also eine wissenschaftsgeschichtlich besonders wirksame Ausprägung des strukturbildenden Sachverhalts im historischen Erzählen dar, daß die genetische Erzählweise die kritische voraussetzt. (In Rankes Geschichte dominiert, für den Historismus typisch, das genetische Erzählprinzip.) »Bei gegenwärtiger Schrift habe ich drei Absichten: eine, die Art und Weise zu rechtfertigen, auf welche in meinem Versuche romanischer und germanischer Geschichten die Quellen benutzt worden sind; die zweite, denen, welche sich über die Anfänge der neueren Historie gründlich unterrichten wollen, anzuzeigen, aus welchen Büchern sie dies können und aus welchen nicht; eine dritte, die vornehmste und rein wissenschaftliche, zur Sammlung eines unverfälschten Stoffes für die neuere Geschichte zu einem gründlichen Urteil über Natur und Wert der über dieselbe vorhandenen urkundlicheren Schriften, soviel ich vermag, beizutragen.«3" Hier hat sich die kritische Erzählweise in ein methodisches Instrumentarium der Quellenkritik verwandelt, mit der der Erfahrungsgehalt genetisch erzählter Geschichten gesichert wird. Daß geschicht- 204 T liehe Erfahrung die Form eines unverfälschten Stoffes< annimmt, setzt i'gine Dekomposition der in der Erinnerung dominierenden Deutungs-jnuster voraus, die sich diesen >Stoff< immer schon einverleibt und ihm dadurch auch die Form einer geschichtlichen Erfahrung gegeben haben (als reiner >Stoff< ist Geschichte ja nie gegeben). Und da solche Erzähl-rnuster nur erzählend dekomponiert werden können, muß die Quellenkritik, die Ranke betreibt, als Modus des kritischen Erzählens angesehen werden. Was ist nun mit dem Nachweis des systematischen Implikationszusammenhangs der vier Erzählweisen gewonnen? Dieser Implikationszusammenhang stellt eine Struktur des historischen Erzählens dar, von der man ausgehen kann, wenn man einzelne historiographische Werke oder Werkgruppen (auch alltägliches historisches Erzählen und alle die Formen von Geschichtsdarstellungen, denen man nicht das literarische Gewicht eines >Werkes< beimessen will) in ihrer Eigenart erschließen und mit anderen Geschichtsdarstellungen oder Gruppen von solchen vergleichen kann. Die Typologie der systematisch verschränkten vier historischen Erzähl-weisen stellt ein theoretisches Instrumentarium für die Bestimmung der Eigenart von Geschichtsdarstellungen dar. Sie kann also als Organon einer methodisch geregelten und daher überprüfbaren Charakterisierung einzelner historiographischer Texte oder Textäquivalente (des mündlichen oder des nichtverbalen Erzählens), auch ganzer Textgruppen und Gattungen und Stilrichtungen verwendet werden. Methodologisch ausdifferenziert (nach dem klassischen Gliederungsschema der historischen Methode: Heuristik, Kritik, Interpretation), heißt dies im einzelnen: Sie legt die Hinsicht fest, oder besser: sie eröffnet heuristisch die Perspektive, in der die Eigenart einer Geschichtsdarstellung als besondere Realisation eines allgemeinen Musters historischer Sinnbildung erscheint. Sie löst kritisch die Einheit der Darstellung in die Vielfalt der ihre Eigenart bestimmenden Sinnkriterien auf und macht so die je unterschiedliche Verwendung dieser Kriterien in ihrem inneren Zusammenhang bestimmbar. Sie ermöglicht damit interpretatorisch eine Rekonstruktion der besonderen Form, zu der sich diese Kriterien regelhaft synthetisieren - eine Rekonstruktion der besonderen Struktur der historischen Sinnbildung, in der die Einheit und Eigenart einer historischen Darstellung beschlossen liegt. Das sei an einigen - lediglich illustrativ herausgegriffenen - Zügen schon erwähnter Geschichtsdarstellungen erläutert. An Rankes Erstlingswerk, den Geschichten der romanischen und ger- 205 manischen Völker, läßt sich ein eigentümlich gebrochenes Verhältnis zwischen genetischem und exemplarischem Erzählen als nicht unwichtiges Merkmal der für, dieses Werk charakteristischen historischen Sinnbildung typologisch identifizieren. Obwohl sich Ranke ausdrücklich von der exemplarischen Darstellungsweise der Aufklärung distanziert, die sich das »Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen« habe, und obwohl er den Entwicklungsgedanken in seiner Darstellung besonders betont und damit (gut historistisch) die genetische Erzählweise dominant werden läßt, gelingt es ihm nicht, die exemplarische Erzählweise der genetischen restlos unterzuordnen. Unübersehbar (für den typologisch geschärften Blick) zerbricht die Einheit seiner historischen Sinnbildung unter dem Primat des genetischen Sinnkriteriums, wenn er folgende »moralische Betrachtung« anstellt: »[...] Man muß bekennen, daß es für Italien sehr schwer war, von den fremden Nationen wieder unabhängig zu werden. Es liegt fern von mir, über die Gesinnung eines großen Volkes urteilen zu wollen, von welchem damals Belehrung und Antrieb über ganz Europa ausging; niemand kann sagen, daß es unheilbar krank gewesen; aber es ist gewiß, daß es an großen Gebrechen litt. Grund und Boden aller Lebenskraft ward von der Knabenschändung angegriffen, die sich bis auf die Jünglinge, die bereits im Heer dienten, erstreckte [...]. Ein entsetzlicher Nebenbuhler der Päderastie war das französische Übel, das alle Klassen wie eine Pest ergriffen. Wie oft findet sich, daß Feldherrn dadurch zum Dienst unfähig geworden [...]. Indessen ist es schwer, das Verderben, welches alle Zeit und überall vorhanden ist, obwohl es, und mit Recht, von den Sittenpredigern als immer noch neu angeklagt wird, von dem eigentümlichen Charakter einer Zeit und einer Nation zu unterscheiden. Nicht ohne Widerspruch wird man behaupten, [...] diese ganze formale Bildung, nach der auch Frauen strebten, die wir zur Lyra lateinische Verse improvisieren finden, sei Luxus und einer Nation als solcher nicht heilsam. Niemand aber kann bezweifeln, daß es Schwäche sei, wenn diejenigen, welche sich für Meister des Lebens ausgeben, statt Mannheit, Keuschheit, rücksichtsloser Selbstbestimmung, nur Klugheit und den Schein jener Tugenden empfehlen. Überdem gab es Jünglinge, welche lieber auf dem Maultier als zu Pferd saßen, Männer, welche sich das Haar kräuselten, die Augenbrauen abhärten, mit Vornehmeren so sanft sprachen, als gehe ihnen der Geist aus, welche ihren Kopf nicht bewegten, um ihr Haar nicht in Unordnung zu bringen, unter ihrem Barrett einen Spiegel, im Ärmel einen Kamm trugen. Viele hielten es für ein großes Lob, im Kreis der Damen, die Viola in der Hand, schön singen zu können. Der Grund der Nachahmung ist allezeit die Schwäche; fremde Sitten nahmen mit Macht überhand. Das Unglück war, daß zwei Nationen um die Oberhand stritten [.. .].«312 prüft man den systematischen Zusammenhang der vier Erzählweisen, wie er in Rankes Darstellung auftritt, im einzelnen nach, dann läßt sich zeigen, daß diese exemplarische Darstellung in einem dysfunktio-nalen Verhältnis zur genetischen und der ihr nachgeordneten traditio-nalen Erzählweise steht. (Wie schon ausgeführt, hat sich die kritische Erzählweise, als explizit vollzogene, hauptsächlich zur »Kritik neuerer Geschichtsschreiber«, zum quellenkritischen Anhang der historischen parstellung, und in die Anmerkungen hinein verselbständigt; Ranke verstärkt damit indirekt das Gewicht der traditionalen Erzählweise in seiner Darstellung.) Dieser typologische Befund dürfte ein nicht unwichtiges Merkmal zur Charakterisierung der historiographischen Eigenart der Rankeschen Geschichten abgeben (ein Befund, der übrigens historisch erklärt werden könnte, - wozu, wie noch zu zeigen sein wird, ebenfalls das verwendete typologische Instrumentarium verwendet werden kann). Es wäre allerdings nicht richtig, diesen - die Eigenart von Rankes Geschichten bezeichnenden - erzähltypologischen Befund zu der These zu generalisieren, die exemplarische Erzählweise sei bei ihm generell dysfunktional, also überhaupt nicht mit der dominierenden genetischen integriert. Es lassen sich durchaus auch Passagen finden, in denen exemplarisch so erzählt wird, daß der genetische Sinnzusammenhang der erzählten Begebenheiten nicht gestört, sondern geradezu in sein Recht gesetzt wird. (In den Geschichten handelt es sich um die genetische Kontinuitätsvorstellung zunehmender kultureller und politischer Differenzierungen innerhalb der - traditional bestimmten -Einheit der romanischen und germanischen Völker.) Als Beispiel sei verwiesen auf folgende Stelle: (Zur Ausgangslage in Italien:) »Nirgends war wirkliche Freiheit. Woher entspringt nun die lebendige Erregung zu allem Schönen, durch welche dies Volk zu dieser Zeit ein Anstoß und Muster für alle späteren geworden ist, woher der Schein, ja die Wirkung der Freiheit? Sie kommt besonders aus dem Gegenstreben der dunkel oder offen immerfort vorhandenen Parteien, aus dem Wachsein aller menschlicher Kräfte im Kampf, aus der allgemeinen Eifersucht, die sich auf Kunst, lebendige Tätigkeit, Wissenschaft und Altertum geworfen, aus der Verehrung, in der darum die Kundigen stehen.«313 Daß mit typologischen Argumenten auch Gegensätze zwischen historischen Interpretationen relativiert werden können, mag ein Blick auf Mehrings Lessing-Legende zeigen. Dieses Buch könnte aufgrund der Dominanz der kritischen Erzählweise als ein Versuch verstanden werden, Lessing in historische Zusammenhänge einzuordnen, die denen 206 207 schlechthin diametral entgegengesetzt sind, die Mehring als >Legende< entlarvt. Dieser Eindruck trügt, wenn man typologisch diflerenzierc Mehrings Kritik dekomponiert wohl die genetische Sinnbildung in der bürgerlichen Historiographie seiner Zeit, indem er ihre empirische Triftigkeit wohlbegründetem Zweifel aussetzt. Nichtsdestoweniger aber teilt er mit seinen Kontrahenten die traditionalc und exemplarische Deutung Lessings als Repräsentanten des deutschen Geistes und als Exempel für die Bedeutung kultureller Innovationen für den Fortschritt einer Gesellschaft. Eben dies dürfte nicht unwichtig sein, wenn man wissen will, worin die historiographische Eigenart dieser Darstellung besteht. - Die Typologie der systematisch verschränkten vier historischen Erzählweisen stellt ein theoretisches Instrumentarium dafür dar, unterschiedliche Geschichtsdarstellungen hinsichtlich ihrer strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede systematisch miteinander zu vergleichen. Sie kann also als Organon eines methodisch geregelten und daher überprüfbaren Vergleichs zwischen historiographischen Texten (und Textäquivalenten), Textgruppen, Gattungen und Stilrichtungen verwendet werden. Methodologisch differenziert heißt dies im einzelnen: Die Typologie legt heuristisch die Vergleichbarkeit fest, da sie in jeder Geschichtsdarstellung eine gemeinsame Sinnbildungsstruktur erblik-ken läßt; sie läßt kritisch die jeweils unterschiedliche Realisation dieser Struktur (im systematischen Zusammenhang ihrer einzelnen Elemente) feststellen; schließlich läßt sie interpretatorisch aus den kritisch festgestellten unterschiedlichen Realisationen Gemeinsamkeiten, Abweichungen, Gegensätze, Ähnlichketten usw. rekonstruieren. Auch dies sei mit einigen Hinweisen auf Aspekte im Vergleich zwischen verschiedenen Weisen der historischen Darstellung illustriert. Ein Vergleich zwischen den maßgebenden Sinnbildungsstrukturen der historischen Erkenntnis bei Marx und bei Ranke z. B. würde zunächst ihre grundsätzliche Übereinstimmung in der Dominanz der genetischen Erzählweise über die anderen ergeben. Als entscheidende Differenz ihrer historischen Sinnbildung würde sich ergeben, daß dem Stellenwert im systematischen Zusammenhang der vier Erzählweisen, den bei Ranke das Sinnbildungsprinzip des traditionalen Erzählens hat, derjenige bei Marx entspricht, den das kritische Erzählen als (hierarchisch gesehen) zweite Erzählweise nach der genetischen hat. Strukturell betrachtet, dürfte das exemplarische Erzählprinzip bei beiden (abgesehen von seiner dysfunktionalen Ausprägung bei Ranke314 und der ungeklärten Rolle historischer Gesetze bei Marx315) etwa die glei- 208 c[,t> Funktion innerhalb des Prozesses der historischen Sinnbildung |l3hen. (Es wurde oben schon darauf hingewiesen, daß es bei Ranke auch eine in der Sinnbildungsstruktur seiner Geschichtsschreibung funktionale Ausprägung der exemplarischen Erzählweise gibt316 und daß es Dei Marx eine seiner >Anatomie<-Metapher entsprechende, in die narrative Struktur des historischen Denkens sich einfügende Konzeption von Gesetzmäßigkeit gibt.317 paß der gegensätzliche Stellenwert traditionalen und kritischen Erzählens Folgen für die gesamte (genetische) Geschichtsauffassung hat, liegt auf der Hand. Die stärkere Theoretisierung der Marxschen Geschichtsauffassung wird (u. a.) dadurch im Rahmen der narrativen Sinnbildung der historischen Erkenntnis ermöglicht. Dies könnte ein Vergleich zwischen Ranke und Gervinus belegen. Es ist schon beobachtet worden, daß Gervinus der Aufklärung erheblich näher steht als viele seiner zeitgenössischen Fachkollegen,318 und da in der Aufklärungshistorie das kritische dem traditionalen Erzählprinzip übergeordnet wird, läßt sich die Eigenart der Geschichtskonzeption von Gervinus im Vergleich mit Aufklärung und Historismus etwa folgendermaßen bestimmen: Ordnet die Aufklärungshistorie zumeist die exemplarische Erzählweise der kritischen über, so bevorzugt Gervinus die genetische vor der kritischen; er teilt also mit vielen Historikern der Aufklärung die Auffassung, daß die kritische Erzählweise in der Hierarchie der Sinnbildungsprinzipien die zweite Stelle einnimmt, mit dem Historismus hingegen teilt er die Auffassung, daß die genetische Erzählweise dominant sei. Die im Vergleich mit vielen Formen der historistischen Geschichtsschreibung höhere Theoretisierung seiner Geschichtsschreibung teilt Gervinus wiederum mit der Aufklärungshistorie, - diese Theoretisierung hängt also hinsichtlich der Struktur narrativer Sinnbildung vom hohen Stellenwert der kritischen Erzählweise ab. (Die nicht unwichtige Rolle der exemplarischen Erzählweise für die Theoretisierung der Geschichtsschreibung müßte noch gesondert untersucht werden; auf die Bedeutung des Exemplarischen für das genetische Sinnbildungsprinzip bei Gervinus hatte ich bereits hingewiesen.319) Dies wiederum läßt Gervinus näher zu Marx als zu Ranke rücken, während er sich von Marx durch eine höhere Gewichtung des Traditionalen unterscheidet. Die Typologie der vier Erzählweisen ist also ein methodisches Organon zur Heuristik, Kritik und Interpretation einzelner Geschichtsdarstellungen und ihres Vergleiches miteinander. Damit ist zunächst nicht mehr gesagt, als daß mit ihr die Faktoren in den Blick gebracht 209 und ihr systematischer Zusammenhang rekonstruiert werden können! die den spezifisch historischen Charakter narrativer Stnnbildung ln1 Geschichtsdarstellungen ausmachen. Unbestritten bleibt dabei, daßl sich die gleichen Darstellungen auch in ihrer literarischen Struktur und Eigenart typologisch rekonstruieren lassen, ja: eine solche Re_ konstruktion wäre eine wesentliche Ergänzung derjenigen, die auf die Struktur der historischen Sinnbildung abhebt. Denn in der Sinnbil-dung durch Erzählen wird immer Gebrauch von Sprachmustern (Schemata von Sprachhandlungen) gemacht, in die hinein durch diel Einbildungskraft Erfahrungen gezogen und in ihnen gedeutet, Welt] also erschlossen und Handeln durch Bewußtsein ermöglicht wird. Nur sind diese Muster zu weit, als daß mit ihnen die spezifisch historische Sinnbildung eingefangen werden könnte. Ist dies aber mit der typologischen Rekonstruktion des historischl sinnbildenden Zusammenhangs der traditionalen, exemplarischen, kritischen und genetischen Erzählweise geschehen, dann können die übergreifenden Typologien sprachlicher Sinnbildung zur weiteren Charakterisierung historischer Darstellungen dienen, indem die literarischen Formen, die sie mit anderen, nicht primär historischen Darstellungen teilen, an ihnen aufgewiesen, also die mehr oder weniger prächtigen >Gewänder< in den Blick gebracht werden, in denen die historischen Sinngebilde als Erzählungen (literarisch, mündlich oder bildlich) auftreten. Dies soll freilich nicht heißen, daß literarische Formen den historiographischen Texten bloß äußerlich wären, so daß sie ihnen gleichsam abgezogen (als Gewänder: ausgezogen) werden könnten, um das eigentlich Historische< (den nackten Leib der historischen Erkenntnis) in den Blick zu bekommen. Solche Vorstellungen könnten verlockend sein, nicht nur wegen ihrer erotisierenden Meta-phorik, sondern zugleich auch wegen ihrer entei'otisierenden Unterscheidung zwischen historischer Erkenntnis (letztlich Angelegenheit der Wissenschaft) auf der einen Seite und historischer Darstellung (letztlich Angelegenheit der Kunst) auf der anderen. Solche Vorstellungen verstellen aber den Blick darauf, daß sich literarische Formung und historische Sinnbildung auf der gleichen Konstitutionsebene bewegen, auf der im Prozeß des Erzählens aus Geschäften Geschichte wird, daß sie also nicht als Außen und Innen, Schein und Wesen, unterschieden werden können. Das als diterarische Form< angesehene Sinngebilde läßt sich in einer anderen Perspektive als historische Deutungsleistung betrachten; es handelt sich aber dabei um ein und denselben Sachverhalt (>Text< im T weitesten Sinne). Die verschiedenen Ansichten stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern die eine läßt sich zur Präzisierung der andcren verwenden. Hayden Whites Typologie z.B. ergänzt die hier entwickelte, und sie kann dazu dienen, stilbildende Prinzipien histo-riographischer Texte zu identifizieren und mit ihnen diese Texte zu charakterisieren. Auch Jauss' Vorschläge zur Funktionsbestimmung des Fiktionalen in der Historiographie320 können dazu dienen, innerhalb der Sinnbildungsprozesse, die für das spezifisch historische Erzählen maßgebend sind, wirksame Faktoren und Elemente der Fiktionalisierung von Erfahrung aufzuweisen. Es hängt letztlich von der an die historisch erzählenden Texte gesteilten Frage ab, ob die Analyse ihrer spezifisch historischen Sinnbildungsprozesse zur Erläuterung ihres literarischen Charakters dient oder umgekehrt. Die eine könnte eher beim Literaturwissenschaftler auftreten, der die Geschichtsschreibung in die Geschichte der Literatur integriert, die andere eher beim Historiker, der in der Geschichte der Geschichtsschreibung nicht vergißt, daß er es immer auch mit Literatur zu tun hat. 5. Zur Typologisierung historischer Perspektiven der Geschichtsschreibung Die systematische Verknüpfung der vier Erzählweisen zu einer allgemeinen Struktur der historischen Sinnbildung führt nicht zu einer statischen Typenbildung. Sie entwirft keine >natürliche< Zuordnung der Erzählweisen, die in besonders guten Geschichten realisiert wäre und auf die die Geschichtsschreiber verpflichtet werden könnten. Das Gegenteil ist der Fall: Die formal als wechselseitige Implikation der vier Erzählweisen entworfene allgemeine Struktur historischer Sinnbildung realisiert sich - dies läßt sich als Fazit der bisherigen Überlegungen festhalten - in unterschiedlicher Weise. Sie verwirklicht sich zwar in begrifflich genau (eben typologisch) zu bezeichnenden, in ihrer Eigenart identifizierbaren und miteinander vergleichbaren historischen Erzählungen (historiographischen Texten), - aber eben in einer Vielfalt, die Veränderungen, Umkehrungen, Wiederholungen, fließende Grenzen, Inkonsistenzen, Widersprüche, - kurz all das kennt, was den Formenreichtum des geschichtlichen Lebens ausmacht und was den Empiriker so mißtrauisch gegenüber typologisch argumentierenden Theoretikern sein läßt.