Von: Willibald Sauerländer, „Über die Komposition des Weltgerichts-Tympanons in Autun", Zeitschrift für Kunstgeschichte, 29/4 (1966), pp. 261-294. Eine zusammenfassende Darstellung der Geschichte des figürlichen Kirchenportals im Mittelalter ist noch nicht geschrieben. In dem Zeitraum zwischen dem Ende des 11. und dem Beginn des 14. Jahrhunderts wurde das Kirchenportal zu einer der zentralen Aufgaben der darstellenden Künste im westlichen Teil der christlichen Welt. Auch wenn es nicht ganz an einer bis in altchristliche Zeit zurückreichenden Vorgeschichte fehlt, so darf die Anbringung großer, figürlicher Programme über der Eingangsschwelle des Kirchengebäudes — „une reunion des scenes religieuses qui sont comme la piejace du monument" — doch als eine Eigentümlichkeit des westlichen Hochmittelalters gelten. Am klarsten hat das wohl Emile Male gesehen und ausgesprochen. Sein Kapitel über die , ,portails histohes du XII" siede" ist trotz aller Einzelirrtürmer und ungeachtet aller Missachtung der spanischen und italienischen Monumente als Darstellung des Phänomens bis heute unübertroffen geblieben, ein klassischer Text. Die Ausbildung der verschiedenen Organe des , ,portail histohe" war ein komplexer Vorgang, welcher sich von 1090 an in mehreren europäischen Kunstlandschaften unabhängig voneinander vollzog. Dieser Prozeß ist der Forschung seit langem bekannt. Er ist verschiedentlich beschrieben worden, wenigstens den großen Umrissen nach. Oberitalien, die Emilia, erarbeitete beispielsweise die Formel für die figürliche Besetzung der Pfosten zu Seiten der Eingangsschwelle. Die Anbringung von Darstellungen auf den Bögen des Portals wurde in mehr als einer Landschaft versucht, die schlagende Lösung aber kam aus dem Westen Frankreichs. Statuen an Wandungen eines Stufenportals anzuheften, hat die romanische Kunst in Santiago de Compostella wie in Vezelay und Ferrara und noch anderwärts unternommen, ohne dabei zu ei beispielhaften und in die Zukunft weisenden Vorschlag zu gelangen. Hinter all diesen Ansätzen stehen dann jeweils wieder historische Voraussetzungen eigener Art: Dekorationssysteme monumentalen Malerei, Verbindungsweisen von Bau- und Bildwerk, welche der Bestand der antiken Denkmäler überlieferte, seltener wohl Anregungen der Kleinkunst oder der illuminierten Handschriften. Zusammengeführt hat diese über die Provinzen der romanischen Kunst streuten Ansätze erst die Gotik des Nordens. Wortschatz zusammenfassend (adj.): summarising darstellend (adj): representative (visual arts here) Anbrigung (f.): attachment, affixing Eingang (m.): entrance, doorway Schwelle (f.): threshold, doorstep Gebäude (n.): building Kirche (f.): church Irrtum (ni.), Irrtürmer (plur.): error, misapprehension ungeachtet (prep. + gen): despite, notwithstanding, regardless of Missachtung (f.): contempt, disdain Ausbildung (f.): education, formation Vorgang (m.): process, procedure Landschaft (f.): landscape Forschung (f.): research Umriss (m.): outline, shape, contour Besetzung (f.): occupation anderwärts (adv.): elsewhere, in other places