IUSTITIA UND DER § 19 Von Lothar Hob elt Mit Gerald Stourzh hat sich ein Autor darangemacht, das für die altösterreichischen Sprachenkämpfe zentrale Postulat der Gleichberechtigung der Nationalitäten auf seinen juristischen Gehalt hin abzuklopfen, der dafür sowohl Neigung als auch Kompetenz mitbringt. Es handelt sich bei seinem nunmehr als eigener Bandl erschienenen Beitrag zur „Geschichte der Habsburgermonarchie von 1848 bis 1918" nicht um eine Zusammenfassung der politisch-legislativen oder behördlich-administrativen Schritte zur Lösung der Sprachenfrage, sondern um das Schicksal des Grundsatzes der Gleichberechtigung der Nationalitäten, wie er im § 19 der Dezemberverfassung von 1867 niedergelegt worden war, im Rahmen der Judikatur des Reichsgerichts bzw. des Verwaltungsgerichtshofes auf Grund bisher unveröffentlichten Materials aus Wiener und Prager Archiven. (Eine Gleichberechtigungsklausel war schon 1848 formuliert worden, jedoch zur Zeit des Neoabsolutismus nicht in Geltung; auch als einzig authentische Fassung des Reichsgesetzblattes galt damals nur die deutsche). Dem unverletzlichen Recht jedes Volksstammes auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache (Abs. 1) und der staatlichen Anerkennung der Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben (Abs. 2) wurde 1867 im Staatsgrundgesetz - auf Drängen insbesondere der Deutschböhmen - noch ein dritter Punkt hinzugefügt, das sogenannte „Sprachenzwangsverbot" (Abs. 3), das die obligatorische Erlernung einer zweiten Landessprache in den öffentlichen Schulen hintanzuhalten bestimmt war. (Ein derartiges „Sprachenzwangsgesetz" war nämlich 1864 in Böhmen vom Landtag verabschiedet und 1866 vom Kaiser sanktioniert worden.) Die Verankerung der deutschen Staatssprache strebten die Deutschliberalen erst ab 1880 an, als sie im Reichsrat bereits in die Minderheit geraten waren! Kennzeichnend für die altösterreichische Situation war die „Kargheit reichseinheitlicher Normen" (S. 59) selbst in einem pro forma zentralistisch regierten Staat, der eine Vielzahl uneinheitlicher Regeln für einzelne Länder und Ländergruppen gegenüberstand; dieVerordnungen zentraler Behörden wurden dabei nach derBadeni-Krise zunehmend durch Landesgesetze abgelöst. Eine zentrale Frage bestand von Anfang an darin, wieweit die grundsätzlichen Bestimmungen des § 19 ohne konkrete, gesetzliche Durchführungsbestimmungen einer oberstgerichtlichen Entscheidung überhaupt 1 Stourzh, Gerald: Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848-1918. Wien 1985, 355 S.; bis auf den Quellenanhang auch erschienen als „Die Gleichberechtigung der Volksstämme als Verfassungsprinzip" in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Hrsg. von Adam Wandruszkaund Peter Urbanitsch. Band 3: Die Völker des Reiches. Wien 1980, S. 975-1206. L. Höbelt, lustitia und der §19 361 fähig waren? Nachdem sich das Reichsgericht zunächst mehrheitlich auf eine ziemlich weitreichende Spruchpraxis festgelegt hatte, sah es sich nicht in der Lage, diese grundsätzliche Entscheidung später nochmals rückgängig zu machen - so sehr seinen Mitgliedern ein Rückzug aus einem Terrain, das sich zum politischen Minenfeld entwickelt hatte, auch gelegen gekommen wäre. Anton Freiherr von Hye, ein alter Achtundvierziger, der als Referent maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt war, ließ so z. B. ein Jahrzehnt später ausdrücklich seine Reue darüber zu Protokoll nehmen, eine Reihe von Präzedenzfällen ins Leben gerufen zu haben, die kein Zurück mehr erlaubten (S. 73). Die weitherzige Definition der landesüblichen Sprachen (1877 am Beispiel dreier kleiner tschechischer Gemeinden im nordöstlichsten Zipfel Niederösterreichs erstmals abgehandelt und später an Fällen wie der deutschen Minderheit in Kuttenberg oder der tschechischen in Reichenberg exemplifiziert) mochte zuweilen administrative Schwierigkeiten hervorrufen, andererseits wurde das Tschechische in Wien trotz der zahlenmäßig sehr bedeutsamen Minderheit - nicht als landesübliche Sprache anerkannt, „denn hierzu würde eine historische Entwicklung gehören, welche sich durch eine besondere Art der bleibenden Ansiedlung und durch ein Verwachsensein mit dem Leben der Gesamtbevölkerung geltend macht" (S. 82) - ein Urteil, dem sich schweren Herzens auch die tschechischen Reichsgerichtsmitglieder v. Randa und Zacek anschlössen. In der Frage der „ein- oder zweisprachigen Gleichberechtigung" nahm der Verwaltungsgerichtshof die erstere Position ein (auch wenn er im übrigen minderheitenfreundlich entschied), das Reichsgericht die letztere, indem es Deutsch und Tschechisch im gesamten Kronland Böhmen für landesübliche Sprachen erklärte. Zu einer gesetzlichen Regelung der Sprachenfrage bei den autonomen Behörden kam es nur in Mähren und Galizien. Bei Gericht galten die josephinischen Bestimmungen, präzisiert nach dem Muster der „Westgalizischen Gerichtsordnung von 1796" (paradoxerweise also eines Landes, das gar nicht mehr zur Monarchie zählte). Die „bei Gericht übliche" Sprache war demnach restriktiver geregelt als die „landesüblichen Sprachen"; allerdings waren in Fällen, wo Parteien dieser Sprache nicht mächtig waren, Ausnahmen zulässig. (Deutsch als innere Dienstsprache galt andererseits im gesamten Reich als gerichtsüblich!) Die Taaffe-Stremayrschen Verordnungen von 1880 statuierten die Geltung des Tschechischen als „äußere Dienstsprache" bei allen böhmischen Gerichten. Auch die Referentenanträge und die Entwürfe der Erledigungen (von den Deutschen schon dem Bereich der „inneren Dienstsprache" zugeordnet) durften laut Erlaß des Justizministers Pražák von 1886 auf Tschechisch verfaßt werden. Dasselbe verwaltungstechnische Argument, das zumeist für die einheitliche innere Dienstsprache ins Treffen geführt wurde, wirkte sich diesmal zugunsten der Gegenseite aus, galt es doch, die Zahl der benötigten Übersetzungen zu reduzieren. Durch die Zivilprozeßordnung von 1895, die das bisher auf Strafprozesse beschränkte mündliche Verfahren einführte, wurde die Bedeutung aller derartigen Regelungen noch verstärkt. Den Sprachenkonflikt in der Schule dominierte auf der unteren Ebene die Frage der Minoritätsschulen: Nach analoger Auslegung des Reichsvolksschulgesetzes mußten im fünfjährigen Durchschnitt mindestens vierzig Kinder eine Schule benötigen. Im mittleren und höheren Schulwesen ging es vornehmlich um die Auslegung des § 19, Abs. 3, der den Unterricht in einer zweiten Landessprache als Pflichtfach verbot. 362 Bohemia Band 28 (1987) Utraquistische Schulen konnten demnach - strenggenommen - nur vom Einverständnis der Eltern getragen werden, da jede Beschwerde sie zu Fall gebracht hätte. Das „Damoklesschwert des Art. 19" (S. 180) schwebte über diesen Schulen insbesondere seit dem Jahre 1908 infolge einer dementsprechend rigorosen Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes. Die Bestimmungen des Art. 19 konnten allerdings durch den Kunstgriff von Wahlpflichtfächern (relativ obligate Gegenstände) umgangen werden, in Mähren ab 1895 auch durch ein (wenn auch rechtlich umstrittenes) Landesreal- schulgesetz. Untrennbar verbunden mit dem Problem der nationalen Gleichberechtigung war auch die Frage der nationalen Zugehörigkeit. Abs. 1 von § 19 hatte die Volksstämme wohl zum Träger des Rechts auf „Wahrung und Pflege ihrer Nationalität und Sprache" gemacht, ihnen jedoch keine eigene Rechtspersönlichkeit eingeräumt. Insbesondere alle Versuche, die Forderung nach nationaler Autonomie in den verschiedensten Bereichen in die Praxis umzusetzen, waren mit dem Problem konfrontiert, wer als Mitglied eines Volksstammes (einer Nationalität) zu betrachten sei bzw. worin diese Zugehörigkeit zum Ausdruck käme. Eine Form der nationalen Autonomie erlangte erstmals 1873 für die böhmischen Ortsschulräte Gesetzeskraft, während ihre im „Böhmischen Ausgleich" von 1890 geplante Verwirklichung auf höherer Ebene bekanntlich nur teilweise zur Durchführung gelangte; in Mähren und in der Bukowina in modifizierter Form verwirklicht, war 1914 auch ein Komplex ähnlicher Regelungen für Galizien bereits verabschiedet worden, bevor der Kriegsausbruch sie illusorisch machte. (Nirgendwo ging man überdies so weit, das Prinzip der nationalen Autonomie auch auf fiskalisches Gebiet auszudehnen und z.B. nationale Lastenverbände als Träger des Schulaufwands zu schaffen.) Nicht zuletzt mangels eindeutiger anderer Kriterien folgte die Spruchpraxis des Verwaltungsgerichtshofes in Fragen der nationalen Zugehörigkeit einem nur wenigen Einschränkungen unterworfenen Bekenntnisprinzip. Erst die im Zuge des Mährischen Ausgleichs 1905 verabschiedete „Lex Perek", die den „nationalen Besitzstand" der Tschechen auf dem Schulsektor gegen den deutschen „Kinderfang" (sprich: das Bestreben tschechischer Eltern, ihre Kinder zwecks besserer Aufstiegschancen in deutsche Schulen zu schicken) abzusichern bestrebt war, leitete hier eine Umkehr ein und führte zu einer Einschränkung des Elternrechts - und damit implizit auch des Bekenntnisprinzips in nationalen Fragen. Auch bei der Erstellung des nationalen Wählerkatasters im Gefolge des Mährischen Ausgleich waren nunmehr neben dem subjektiven Bekenntnis zunehmend auch objektive Faktoren maßgebend. Unmittelbare Folge dieses Umschwungs war eine Fülle von Beschwerden, die der Zielsetzung des nationalen Ausgleich Hohn zu sprechen scheinen. Die zumeist positiven Würdigungen der Bestimmungen des Mährischen Ausgleichs erfahren hierdurch eine Ergänzung durch eine skeptische Note; offen bleiben muß freilich die Frage, inwieweit es sich um Übergangsschwierigkeiten handelte, die bei längerer Geltungsdauer nach Behandlung einer Reihe von Präzedenzfällen weniger stark ins Gewicht gefallen wären. Damit soll abschließend auch das für den Historiker stets präsente Problem der Wertungen gestreift werden: Stourzh als nach „objektiven Kriterien" deutscher Autor ist ehrlich bemüht, auch nur den Anschein einer Parteilichkeit zugunsten der deutschen Seite zu vermeiden, und erwähnt z. B. des öfteren die Parteigebundenheit auch L. Höbeil, lustitia und der § 19 363 juristischer fundierter Stellungnahmen. Um so stärker tritt für den Beobachter das Dilemma jeder prinzipiellen Kritik der altösterreichischen Sprachenpraxis hervor. Hilft doch gerade die juristische Sichtweise, in dem oft eindimensional gesehenen Emanzipationsstreben der nichtdeutschen Völker der Habsburgermonarchie eine Entwicklung zu erkennen, die eben keiner einheitlichen, rechtspolitischen Linie folgte. Wo positiv beurteilte Prinzipien mit negativ empfundenen Folgen zusammenfallen (oder umgekehrt), muß auch jedes historische Werturteil ambivalent ausfallen und sich seiner Begrenztheit bewußt sein. So stand dem Schutz der Minderheiten vor Assimilationstendenzen (wie ihn der Abs. 3 des § 19 verkörperte) das Manko der fehlenden zweisprachig erzogenen Trägerschicht von Verständigungsversuchen gegenüber, oder aber es wurde die vom Autor kritisierten Praxis des „Kinderfanges" durch die ebenso skeptisch beurteilte Einführung von behördlich feststellbaren „objektiven" Kriterien der Nationalitätenfeststellung zu steuern versucht. Man mag daran auch die Überlegung knüpfen, ob es gerade im liberalen Verständnis nicht eine Überforderung von Legislative wie Rechtsprechung darstellt, fundamentale politische Konflikte „lösen" zu wollen, anstatt sich darauf zu beschränken, eine geregelte Konfliktaustragung zu gewährleisten. Einer der Hofräte des Verwaltungsgerichtshofes klagte 1914, der Weg zur Lösung der Sprachenkonflikte „durch möglichste Isolierung, Trennung der Volksstämme . . . müsse allmählich zur Entfremdung der Volksstämme untereinander und, was noch schlimmer ist, gegenüber dem einheitlichen Staatsgedanken führen" (S. 245). Es war für den Gesamtstaat zweifellos problematisch, wenn sich die Volksstämmc auf seine Kosten einigten. (Ein weiterer großer Schritt in dieser Richtung, im Austausch gegen die Legalisierung der inneren tschechischen Amtssprache die nationale Abgrenzung und de facto-Autonomie Deutschböhmens durchzusetzen, lag vor 1914 ja in der Luft). Diese Entwicklung bot der Großmacht Österreich-Ungarn aber auch eine Chance, sich freizuspielen von der ständig wiederkehrenden Blockierung durch das national motivierte „Fiat iustitia, pereat mundus".