ř4 JÍV vr ^^tóWÄ^Í Friedlich soll man die Welt betrachten, die Dinge nehmen, wie sie kommen, wie sie gehen, wie sie sind; froh sein, wenn man täglich den vorgeschriebenen Umsatz erreicht, wenn man abends, nach getaner Arbeit, zufrieden die Stiefel vor die Tür stellen kann ... Alle Rechte vorbehalten ■ Kurt Pohl 1987 I. Es ist nichts geschehen — man muß vernünftig bleiben. Alles, was diese Fahrt und ihre Eindrücke unterbricht, sind wohl nur müßige Gedanken, Phantasien, aus der Luft gegriffen . . Man muß sie abschütteln! Ist er ein Phantast? — Ein Geschäftsreisender soll kein Phantast sein, darf es nicht sein. Bilder, Eindrücke, die vorüberfliegen, verwirren die Sinne: — er übertreibt . . Was quält ihn? Nichts! Er ist ruhig ... Wie sollte es denn sein? — So sollte es sein: wenn 7", also in zwei Stunden — falls injjjg^ wein nicht längerer Aufenthalt ist — der Zug "einfährt, wenn er aussteigt, durch das Spalier der Wartenden ins Freie gelangt, dann rechts und über den Platz indieTyboldstraße einbiegt, von weitem die hell erleuchteten Fenster sieht, dann — dann müßte Adele ^schon von ferne winken — er würde die Treppe hinaufstürmen 7 — „Heinrich!" müßte Adele rufen, „Heinrich! Du bist schon heimgekehrt?" ~-x Aber Adele ist nicht so. Das tut Adele nicht. Und vielleicht wäre auch gerade Petronides da . . . * Immer auf Reisen, ewig auf Reisen . Tag für Tag und Jahr für Jahr. Noch sitzt man gut, wohlig in die Ecke gedrückt, weiß: hier taucht ein Wärterhäuschen auf, hier rast der Gegenzug vorbei, hier hält man fünfzehn Minuten, hier steigt jeden Dienstag der Getreidehändler Bergius ein . . Hier lebt man einen Tag, einen Vormittag — morgen ist man schon über alle Berge: wieder auf Reisen, dann wieder zu Hause, wieder auf Reisen, immer auf Reisen . .. plötzlich ist alles vorüber, wird alles vorüber sein, kommt Nacht, kommt Tod, die letzte Station . . . —— # Er heißt Heinrich Malenski. Er ist Vertreter der Firma A. Faßland & Sohn, Kurz- und Galanteriewaren-Engros. Die Firma Faßland ist als solid bekannt: es wird nicht mehr und nicht weniger abgeliefert, als auf der Auftragskopie des Reisenden vorgeschrieben steht. Man hält sich an die Vorschrift. Die Qualität der Ware ist verläßlich, die Musterkollektion reichhaltiger assortiert, als die der Konkurrenzfirmen. Insgesamt darf man behaupten, daß es eine Ehre ist, die Firma A. Faßland & Sohn in der Provinz zu vertretener]"^ Malenski weiß das zu schätzen. Es erleichtert den Beruf, eine anständige, fundierte Firma zu vertreten, es mußauch eine anständige, fundierte Firma sein, für die er arbeiten soll. Für ein unsolides Haus könnte er sich gar nicht einsetzen. Er könnte nicht mit ruhigem Gewissen - die Order überschreiben. ^^jdi£ätiat die erste Bedingung. Solidität ist Vor-aussetzung seiner geschäftlichen Bemühungen. So ist er eben. Es ist ihm angeboren. Erkannnicht anders, er, hat Grundsätze. Und ,er hält an ihnen fest...,. ____ „Wenn man alt werden will," sagte Leib senior, dieser lebensfrohe Greis, als er in voller Rüstigkeit seinen achtzigsten Geburtstag feierte, „wenn man alt werden will, muß man Grundsätze einhalten: viel Bewegung, wenig Getränke, keine Gedanken — so bleibt man jung, so wird man alt." * Nein, nur keine Gedanken . . Man soll nicht in sich, man soll um sich * schauen! Erkennen, daß es den anderen nicht besser geht: Gesundheit, anständige Reisespesen, einen 8 9 genügend großen Arbeitsbezirk — darf sich Malenski beklagen? ycUat Gewiß nicht! Das Leben ist kein Ringelspiel. Das Leben geht nach dem Wind. Es wäre gar nicht gut, wenn es anders wäre . .'. Manchmal ist man müde. Abgespannt, ausgepufft. Weiß nicht, wozu und für wen man sich plagt. Starrt trübsinnig in die Luft, bewegungslos ... denkt, denkt, auch wenn man nicht denken will. An unmögliches Zeug! Sinnlos . . . Kann nicht einschlafen . . . „Das kommt vom Magen!" sagen die Kollegen. Die Verdauung versagt. Mein Gott, das ist nun einmal so! Mit solchen Zuständen muß jeder Geschäftsreisende rechnen. Jeder Geschäftsreisende laboriert schließlich an irgendeinem Magenübel. Berufsrisiko! Täglich anderes Bier, anderes Fett, andere Zubereitung. Die Gastwirte sind ja so gewissenlos. Nicht jeder hat das Herz, für gutes Geld auch etwas Gutes zu bieten. Ferda Malek aus der Bürstenwar enbranche wird an ein zweifelhaftes R^bj huhn Zeit seines Lebens denken müssen. ^ Man ist eben nicht zu Hause. Nicht bei Adele. Nicht in der warmen Stube . . . Doch auch das hat vielleicht seine Vorteile! Und überhaupt: Heinrich darf nicht mit seinem Schicksal h^acfern. Es wäre Sünde. Er ist frisch, arbeitsfähig, ganz auf der Höhe. Und vor allem: er ist bei den Kunden beliebt und angesehen. Man beneidet ihn. Mit Recht! Die Provisionsabrechnung für die letzten sechs Monate ging über achtzehn Seiten. Das soll ihm ein anderer nachmachen! Natürlich ist nicht alles, wie es sein soll; Ärger gibt es immer. Doch darf er stolz sein._^_ {Ädeltj^. . — sie hat wohl nicht recht Sinn fürcterlei Dinge. Man kann Adele in ihrer ablehnenden Art, nicht gerade rücksichuvpJL.nen-nen. Sie ist auch so veranHert und wandelbar, jeit Petronides g"TT") Petronides isF' xeppichhäudler. Teppich-, Jhändler haben ein leichtes Leben. Ein großer Mspe wurf — man ist ein reicher Mann! Petronides hat kürzlich das Hotel Splendid eingerichtet... .Nur keine Gedanken!,,, Malenski hat schon ein kleines Kapital beisammen. Im geheimen. Erspart. Kein Mensch weiß das. Auch Adele nicht. Es ist wenig, viel zu wenig, um eine eigene Existenz begründen zu können, aber er ist ja „eingeführt", und das ist doch sein eigentliches Kapital, ein Kapital mit der besten Verzinsung. Das kann ihm niemand nehmen. Das ist der Anker, der ihn sichert, der seinen festen Halt verbürgt. Auch ein guter Ruf hat einen Marktwert. Und man schätzt Malenski. Wenn er einmal für immer die Augen schließen sollte, die immer wiederkehrende Rei- 10 11 seroute seiner „Tour" endgültig abbrechen müßte, so wird niemand schadenfroh seine Todesanzeige lesen. Auch der Chef, jetzt oft kühl gestimmt, wird ihm wohl eine Träne nachweinen. Denn es ist ja ausgeschlossen, ganz ausgeschlossen, daß ein anderer Reisender —selbst wenn er sich noch so feurig ins Zeug legen würde — auch nur annähernd die Jahresumsatzziffer erreicht, die er, der erste, der best-akkreditierte Vertreter des Hauses Faßland nun schon seit Jahren erzielt. . . # „Ein Geschäftsreisender", sagt der (Santos^ ^\f> der GR 14 Z Jede Branche hat ihre Vorteile. Aber jede Branche hat auch ihre Schattenseiten. Auch zwischen Reisenden und Reisenden ist ein Unterschied! Es gibt solche, die mit sonnigem Humor erwachen, erwachen dürfen, sorglos, unbe-schwert, weil beispielsweise in ihrer Branche die Konkurrenz noch nicht zu Schleuderpreisen verkauft und nicht widersinnige Zahlungsbedingungen gewährt. Das sind die frischen, die lebensfreudigen Reisenden. Sie dürfen so sein. Sie treten Montag früh die Reise an, froh, gutgelaunt, zielbewußt, immer in dem sicheren Gefühl, eine Firma zu vertreten, für die der Verkauf in der JProvinz nur eine Formsache ist. Markenartikel! Ein Schulkind würde das zuwege bringen. Man nimmt sie mit offenen Armen auf. Man sagt: „Schön, daß Sie gekommen sind! Wir wollten schon schreiben. Wir erwarteten. Sie schon vorige Woche... Wir benötigen dringend: — notieren Sie!" Pjg^nderen aber •— Tausende — führen ein beklagenswertes Dasein. Nicht das, was^ alle^edrückt, ist das Ärgste: stundenlang eingepfercht im Waggon sitzen zu müssen, abgestumpft und eingeknickt... immer 15 wieder die gleiche Landschaft . . . weiter .. . weiter... — man kennt schon jeden Baum, jeden Bach — endlich am Ziel, steigt man gerädert aus, jagt durch die Straßen, nervös, weil auch ein Konkurrent in dieser Gegend arbeitet, muß die Fahrtanschlüsse berücksichtigen, den Wochen- und Jahrmärkten, den Kirchweihfesten ausweichen — weil an solchen Tagen die Kaufleute nicht empfangen —, und nun tappt man durch Dreck und Schnee, weil eine Fahrgelegenheit nicht überall eingeführt oder zu teuer ist — oft ist das Hotelzimmer nicht sauber, nicht warm genug, man geht zu Bett, die Bettwäsche ist naßkalt, man Hegt mit offenen Augen da, minuten-, stundenlang, könnte ■vielleicht einschlafen, aber unten im Bierausschank beginnt ein Höllenlärm, man hört Lachen, Gläser klirren, Zeter und Mordio — ein endloser Radau ... Das sind Miseren, an die man sich gewöhnen muß, die mit den Jahren zur Selbstverständlichkeit werden, die man hinnimmt wie das Unabänderliche. Wie Regen, wie Schnee, wie Hitze und Kälte... Damit findet man sich ab! Auch was alle bedrückt: daß die Kundschaft nicht wie dazumal die Treue hält. Unkonservativ in ihrer Zugehörigkeit, unverläßlich in ihrer Verpflichtung ist. Daß sie verwöhnt und umschmeichelt von den vielen Angeboten, den Lockungen der Konkurrenz, die alle Hebel in Bewegung setzt, nicht zu widerstehen vermag. Ausflücnte* sucht, um ein Offert abzu^eh-^ nen. Die gelieferte Ware grundlos beanstanden ' will. Sofort mit Abbruch der Beziehungen droht.. „Kommen sie im Mai," sagte Seile in Sillein, „hier meine Hand: Sie.erhalten den Auftrag!" Man kommt im Mai... „Bedaure, — ich habe schon gekauft!" Kurz angebunden. Nonchalant. Als ob er nichts versprochen hätte . : . Malenski könnte solche Aufträge vielleicht erzwingen. Wie es viele tun! Er tut es nicht. Malenski ist^QJchjt^zudHng^-lich. Ist nicht so wie™än!3e?eTeine Gastgewerbekonzession besorgt — öamalsjerreichte man ja solche BegünstigungenNtieLleichter als heutzutage! — und an den Vorabenden und Tagen der Viehmärkte war das Wohnhaus des Be^tfedernhändlers__J^enski sozusagen ein Hotel... Das war ein Betrieb! Die Leute tranken Branntwein, wie Kühe Wasser. Es ging wie in einem Tollhaus zu. An dem Platze wurden die Verkäufe vereinbart, aber erst im Wirtslokal wurde endgültig abgeschlossen, erst dort wurde der Handel perfekt. Das gab ein wüstes Gebrüll, wenn die Viehhändler gegen die Bauern loszogen, wenn sie immer wieder mit den riesigen Händen in die der Bauern einschlugen. „Hepp!Gott segne das Geschäft!" schrien sie, packten den Mann bei der Schulter und wollten ihn fast gewalttätig zu einem Abschluß zwingen. ' Oder sie gössen einem Tölpel so lange Branntwein in die Kehle, bis er lallend auf alles einging. Ganz wild aber ging es zu, wenn der Handel schon abgeschlossen schien, wenn sie sich gegenseitig die Pranken schüttelten, wenn sie einander die Wangen küßten, eine Friedensrunde Schnaps zahlten und plötzlich wegen der Kette, an der das Kalb zu Markt geführt worden war, sich aufs Neue in die Haare fuhren. Inmitten dieses Tumults saß der weißbärtige Martin mit einem alten Wirtskäppi des Vaters bedeckt, spielte Ziehharmonika uncTseineFrau saß daneben und zupfte, ergeben lächelnd, an einer Harfe . . . 32 33 Heinrich mußte Gläser tragen, Teller waschen, Pfeifen stopfen und nachts die Gäste zu den Betten führen. * / • Heinrich liebte die Viehhändler und sie liebten ihn auch. Es sind ja rohe und unerzogene Kerle, diese Viehhändler, und sie ziehen keine Handschuhe an, wenn sie Geschäfte abschließen. In den Wartesälen und Waggons klopfen sie ungeniert ihre stinkenden Pfeifen aus, brüllen als ob sie allein wären, rücksichtslos — die Reisenden weichen ihnen aus .. . Heinrich sah es aber damals gern, wenn sie mit hervorquellenden Augen die Bauern bedrängten. Nein, noble Menschen sind das nicht, im Gegenteil, recht ordinäre Gesellen! Aber sie gehen aufrecht, sitzen fest auf ihrem Platz, halten den Kopf gerade, sind offenherzig und deutlich, sie kämpfen hart "und unge-brochen um ihre Existenz, ohne nachzulassen, pressen den letzten Pfennig heraus, sie hauen mit den Fäusten auf den Tisch, stürzen sich auf den Gegner, drehen ihm vollJLeidenschaft die Knöpfe vom Mantel ab — sie toben wie die Wilden! Gewiß: es ist häßlich, so gierigzu sein. Aber sie sind es mit dem Einsatz ihrer ganzen Person, sie fürchten das Feuer nicht, sie schlagen sich Mann gegen Mann, bis das Genick über dem Kragen dick und rot wird und die Stirnadern anlaufen. Es ist ein gewalttätiges, ein draufgängerisches Gewerbe, aber man muß ein Mann, ein ganzer Mann sein, um es auszuüben. Heinrich hat damals mit vielen Freundschaft geschlossen. Sie hoben ihn in die Höhe, schlugen ihm mit der flachen Hand auf den Bauch und lachten, wenn er den Branntwein nicht trinken wollte, den sie ihm unter die Nase hielten. .. , * Einmal stand er hinter dem Ausschank und wusch Teller. Ein Riesenlärm dröhnte durch den rauchverqualmten Raum. Der Vater saß mit dem Viehhändler Berka in seiner Nähe, an einem kleinen Tisch neben der Küchentür. Es ist Mitternacht vorbei. Berka spricht auf den Vater ein. Ißt Brot und Speck und trinkt Bier dazuA Er ist angeheitert. \ „Die Viehhändler," schreit schlägt dem Vater auf die Schulter, fejakoby — verstehst du mich? — die Viehhändler, das sind die Dummen! Das sind die^die dümmer sind als das Rindvieh, das sie verkaufen. Rindvieh wie 34 35 Händler — Händler wie Rindvieh! Bauer sein ist besser, Bauer sein ist klüger. Der Bauer ist gut daran! Manchmal ist das Futter billig, manchmal ist es teuer. Glück muß man haben! Alles ist Glücksache! Nichts da! Dummheit! Auch der Bauer ist dumm! Wir alle sind dumm!! — Man hält die Fasten. Man betet zur Jungfrau — drei Kälber krepieren: man kann sich aufhängen! So sind die Zeiten! Alles verdreckt, alles versaut! Aber: — hörst du? — Fleisch hacken — Jakob, verstehst du mich? — Fleisch hacken muß man! — Wer sind wir? frage ich. Was können wir? frage ich. Was haben wir erreicht? — Man tut, was man tun kann! Den Pfeifenfressern dreht man die Gedärme aus dem Leib. Foppt das Vieh halb umsonst heraus .. . Was haben wir? Was habe ich? — einen Dreck! — Was hat der Bauer? — einen Dreck!!--die Fleischhauer, dieFleischhauer_slAckjmjßJ^iilLD^§^^ die KlugenT^ stecken es ein! Die-leben! Die verdienen! Fressen sich an, wuchern und schneiden Dukaten!" Berka haut auf die Tischplatte. Heinrich wird aufmerksam. ,Er soll nur weiter reden,'denkt er., Was wird der Vater 6agen? Wird er ihm beistimmen?' — „Kennst du den Wlach in Bilenz?" schreit Berka. Der Vater nickt: gewiß, er kennt ihn... „Dieser Wlach! Ein Zauberer, sage ich, ein Zauberer! Mit einem verrosteten Messer hat er begonnen. Heute? — als ob er das Fleisch umsonst geben würde! Die Leute reißen ihm die Tür ein! Achtzehn Kälber hat er zur letzten Kirchweih gehackt! Da ist ein Laden — ich lüge nich|-j- so groß wie der Ausschank hier. Keine Spesen" keine Regien! Der Wlach ist Bürgermeister, der Wlagb^hät das Geld~In~aer Hand. Der Baron hat de^Wald parzelliert: — Jakob, hörst du? — wer hat sich angekauft? — der Wlach!! Der Marktplatz soll neu gepflastert werden: — wer borgt der Gemeinde das Geld? — der Wlach!! Am Sonntag fahrt man auf die Jagd. Die Frau trägt einen Brillantring, so groß wie dieser Knopf, eine Halskette mit Steinen in allen Farben! Verdammte Wirtschaft!! Jetzt waren Felder zu verpachten: — wer hat sie gepachtet? — der Wlach!! — Die Welt steht noch auf den Beinen! Fleisch hacken muß man — verstehst du? — Fleisch hacken . . ." Berka leert das Glas. Heinrich hat schon ein frisch gefülltes vorbereitet. Kein Wort entgeht ihm. „Jakob," sagt der Viehhändler — er ist jetzt sanft, weich gestimmt und krampft die Hände zusammen, als ob er beten würde — „Jakob! du lebst, ich lebe, wir alle leben — es ist ein 36 37 ( Hundeleben! Ich habe nichts. Und Du hast nichts. "Wir sind Narren. Wir plagen uns — Fleisch hacken muß man, Fleisch hacken. .." Plötzlich sieht er den Buben, der ihn mit großen Augen anstarrt. „Wie alt ist dein Sohn?" „Geht dieses Jahr von der Schule ab," erwidert der Vater. „Du, der Wlach sucht einen Burschen! Er würde ihn in die Lehre nehmen! Du, das wäre ein Glück!" „Ich werde mit ihm sprechen," sagt der Vater.. . * , An solche Augenblicke vergißt man nicht. \ Heinrich zittert am ganzen Körper. Jetzt hätte er ja zum Tisch stürzen können: „Vater! wann wirst du mit dem Wlach sprechen? Morgen? Ubermorgen? Ich möchte ja so gern Fleischhajik^r-iESjjiep!" Aber das ging nicht. Nein, das ging wirklich nicht. Denn der Vater war hart, unzugänglich und vertrug keine Gefühlsausbrüche. Heinrich hatte ihn nie gesprächig oder gar lustig gesehen. Er war unbeirrbar in seinen Entschlüssen und duldete keinen Widerspruch. Es hätte auch niemand gewagt, ihm entgegenzutreten. Nur einmal, ein einziges Mal, schien er müde und schwach wie ein Kind zu sein. Das war damals, als man vom Begräbnis derMulterkam und er, bedächtig, mit schweren BeinenTlang-sam zum Ofen ging und sich die Hände wärmte. . . Es war auch ein trüber, häßlicher Tag damals ... Heinrich wagte nicht, ihn zu fragen. Aber so gern hätte er gesagt: „Vater, ich werde brav sein, Vater! ich werde fleißig sein. Werde arbeiten und tüchtig verdienen. Wir werden reich sein. Gib mich zum Wlach!" Er sprach kein Wort. Er wagte es nicht. Es war hell im Zimmer, als er zu Bette ging... Ununterbrochen klingt ihm das Zwiegespräch in den Ohren: „Wie alt ist dein Sohn?" „Geht dieses Jahr von der Schule ab." „Du, der Wlach sucht einen Burschen! Er würde ihn in die Lehre nehmen! Du, das wäre ein Glück!" „Ich werde mit ihm sprechen. .." * 38 39 ^J\IalenskiJ\väre wirklich gern Fleischhauer geworden. Kinder haben eben bisweilen sonderbare Wünsche. Es kam nicht dazu. Und das war kein Zufall. Denn in Wirklichkeit hat es ja der Schnapsr,eisfindeJBAim.ej verhindert, dieser Gauner . . . III. Es ist nichts geschehen. Malenski übertreibt. Wenigstens in seinen Gedanken. Wenn er allein ist. Während der Fahrt. Im Durcheinander seiner Arbeitswoche. Überschaut er aber dann die Sache mit klarerem Blick, dann weiß er: eine kindische Manie steckt in ihm, Unmögliches zu verlangen, zu glauben, daß einmal etwas unbestimmt Großes kommen müsse, etwas Gewaltiges, etwas, was er gar nicht in Worte fassen könnte... I Er übertreibt. Schweift von den Tatsachen £_ab. Ist ein Phantast. Und ein Geschäftsreisender soll kein Phantast sein! Nur immer ruhig. Ärger schädigt die Blutgefäße. „Auch DAS geht vorüber," heißt der Sinnspruch, der über dem Ladenpult des Kaufmannes Eduard Wigman zu lesen ist. Malenski weiß sich zu beherrschen. 40 41 Oft — Anlaß gibt es genug — könnte ja ein Geschäftsreisender aus der Haut fahren! Da sind beispielsweise die Kellner! Ein Kapitel für sich. Man öffnet die Tür zum Speisesaal, man sitzt noch nicht — schon geht es los: „Sie wünschen? Womit kann ich dienen? Was ist gefällig?" „Ich habe Zeit," sagt man, „nur nicht so stürmisch! Die Speisekarte!" Der Kellner überreicht sie, windet sich wie p ein Tanzmeister: „Schmorbraten, Schweinebra-I ten, Lammrücken, Pariser, Wiener oder Hollsteiner Schnitzel? Vielleicht Kalbsfrikassee? Vielleicht Blumenkohl oder Spargel? mitButter '—oder Sauce hollandaise?" „Ich kann lesen! Verstanden?!" Ei^versteht... ' Manjißt, man eilt, man möchte zahlen. ^Obir!" — „Ober!!" Der steht verträumt an ein Büfett gelehnt: „einen Moment!" -— und ist verschwunden.. . Zu dumm! Oder man sitzt, verzehrt sein Abendbrot. Trinkt friedlich ein Viertel Weißwein. Kommt ein Kerl herein. Nicht unbekannt. Vertritt eine Filztuchfabrik. Ist aber aufgeblasen, als ob er die ,yereinigten^aa'tjn""?eT=~ treten würde. Wirft sich wie ein Flegel gegen- 42 WV& über in den Stuhl. Sagt nicht, was alle anständigen Menschen sagen: „Verzeihung! der Platz hier frei? Mein Name ist so oder so." Nein! er rührt sich nicht. Auch DAS geht vorüber. "Man soll ruhig bleiben. Friedlich soll man die Welt betrachten, die Dinge nehmen, wie sie kommen, wie sie gehen, wie sie sind; froh sein, wenn man täglich den vorgeschriebenen Umsatz erreicht, wenn man abends, nach getaner Arbeit, zufrieden die Stiefel vor die Tür stellen kann. Dieser Rapper! Nein, {Heinrich/ trägt sonst keinen Haß im Herzen. Im Gegenteil, er ist vielleicht oft zu nachgiebig! Wer lange reist, gewöhnt sich an manches, hat schließlich auch ein gegerbtes. Fell. Und wer ist denn fehlerlos? Wer dürfte es von sich behaupten? — Ein jeder hat Marotten, hat gute und schlechte Seiten .. Malenski will nicht ungerecht sein. Aber eine Menschensorte verachtet Heinrich gründlich. Vielleicht deshalb, weil sie in seinem Leben eine so peinliche Rolle gespielt hat. — Man darf auch nicht zu streng sein, darf nicht 43 generalisieren, darf nicht einen ganzen Stand für einzelne, verkommene Elemente verantwortlich machen. Er weiß es. Aber: er hat seit seiner frühesten Kindheit eine Abneigung gegen Schnapsxeisende, er kann diese Abneigung nicht unterdrücken, er erträgt sie nicht, diese jjahidjitten, wijzjgeja, verlogenen Kreaturgn^ Will nicht jeder Geschäfte machen? Liegt das Hemd nicht näher als der Rock? Gibt es denn überhaupt einen unter der Sonne, der bei den heutigen Provisionssätzen auf Rosen gebettet wäre? Nein, wir alle sind doch auf Kniffe angewiesen, auf Schmeichelworte und kleine Lügen .. . " Malenski weiß das. Malenski weiß auch, daß es ungeheuer schwer ist, ein Faß Sliwowitz oder Allasch zu verkaufen. Malenski kennt die Branche. Sie ist von allen die schwierigste. Schnaps wird nicht offeriert und verkauft wie andere Artikel — Schnaps muß aufgezwungen, eingetrichtert werden, mit Kraft und mit Gewalt, der Käufer wird überfallen, tot geredet, er wehrt sich verzweifelt wie ein gefangenes Tier — es hilft ihm nichts — : der Kaufschein wird ihm in die Hand gepreßt, die Hand wird zugedrückt — es ist ein ungeheuer schweres Geschäft! — Bei allen Schwierigkeiten kann man trotzdem ein wenig Menschenwürde wahren. Muß sich nicht prostituieren. Auch als Schnapsreisender . .. Man kann verschiedener Art vor seine Abnehmer treten. Eindringlich oder bescheiden. Jeder Geschäftsreisende hat schließlich seine Methode. Aber man muß deshalb das Wort nicht sechsmal im Munde herumdrehen, bevor man es aus spricbtj,_muß__s^h nicht spreizen ; »waftund unentwegtj'r3$J stößt ab —, trägt, nur weil er gerade die Land-kunden besucht,Loden jopp e-und Stulpenstief el, äls~ob er"S3T!i^^gbTi)T^^He8 Ortes_wäre.^~ """^Welch eigenartiger Zufall!" schreit er auf — dieser Fuchs ziert sich wie eine alte Jungfer, sitzt da, ohne sich anzulehnen, selbst mit dem Hintern kann er nicht fest auf beiden Backen sitzen! — „Man sollte es nicht für möglich halten! Gestern, de facto gestern erst — ich mußte zu Hause bleiben, weil wir pyramidale Lieferungen zu expedieren hatten —, nein dieser Zufall! — also gestern — ich eile gerade zum Postamt — es war höchst pressant — ich komme ja vor Arbeit nicht zu mir selbst — gar jetzt in der Hausse, die Leute reißen sich um die Ware —, winkt mir ein Herr zu — ich erkenne ihn nicht gleich —, ich erkenne überhaupt schwer —also: ich will vorüber. „Rapper!" ruft er, „Rapper!" — Ich habe keine Zeit, 48 49 sage ich — jeder packt einen an, jeder will etwas — , „halt Rapper!" — Ich schaue: mein ! Gott, das istjaWollrab, mein alter Freund iAi Wollrab aus^Käränyj^„Du Rapper," sagt er — ^ wir sind per Du! —^,Du Rapper, ich sehe, du ^ bist in Eile, ich möchte dich nicht lange aufhalten — bitte schicke mir promptes! zwei Fäßchen Kirschwasser. — Kirschwasser kann man nur bei deiner Firma kaufen," — seine Worte! — „Aber sofort und vom besten und zum alten Preise!" — „Weil du es bist und weil du so schön bittest," erwidere ich und notiere die Order, obgleich Kirschwasser heute bedeutend fester gehalten wird. — „Und wie geht es dir?" will er wissen, „Danke," sage ich, „man arbeitet, man lebt, man schlägt sich durch." — „Du Rapper," sagt er — wir sind sehr intim miteinander, seit langen Jahren befreundet —, „du Rapper, höre, ich brauche einen Lehrbuben, einen starken Jungen aus an-StändigemHause, der Lust und Liebe zum Geschäft hat. Kein Kostgeld. Nichts. Reichlich zu essen. Gute Behandlung, ein gutes Quartier, ein Butterbrot um 10 Uhr."—Sie kennen doch Woll-rab! Wilhelm Wollrab, Kolonialwaren! Prima Kunde von mir! Ein Name, der Klang hat! In der Branche geschätzt. Wenn man den Namen Wollrab nennt, weiß man: Kassa in 30 Tagen. Seine Frau ist die Schwester eines Regierungs- rates. Das wäre ein Posten für den Buben. Ein Glück wäre das! Wenn es beliebt, Herr Malenski — ich stehe zur Verfügung. Der Vater nickt. Heinrich möchte^ejtt_Sjköju^dner-.amJieb-sten erwürgen. ^ViTeT^"lnöcEte er rufen, „ich will doch zum Wlach, zum Wlach nac tJBilenzTj Aber er sagt kein Wort. Er ballt nur die Fäuste... Der Vater überlegt. Stützt den Kopf mit den Händen. Dann steht er auf und sagt langsam: „Herr Rapper!Sie überlassen mir doch auch nochzwei Faß Kirschwasser zum alten Preise?" Der Heuchler zieht blitzschnell das Orderbuch aus der Tasche — sein Wortschwall hat gewirkt —: „Ausnahmsweise! Vorzugsweise!" — er notiert... Es ist ihm gelungen. „Und wann sprechen Sie mit Wollrab?" „Morgen! Es wird alles geregelt! Ein Glück, ein richtiges Glück für den Buben!" * Dieser Rapper! Vielleicht hätte JMaJ^nsld damals mutiger sein sollen. Er wollte sich ja wehren, ^rJSätte ja gern losgeschrien: „Du Vater! Der Rapper 50 51 ist ein Schwindler, ein verlogenes Aas! Er lobt ja diesen Wollrab nur, weil er das Kirschwasser verkaufen wollte. Er will sich beliebt raachen, will einen Dienst erweisen, damit du ihm verpflichtet bist. Du, Vater! Ich will nicht zum Wollrab, ich will zum Wlach!" Heinrich brachte es nicht über die Lippen... Man soll mutiger Bein, als es Malenski ist. Aber dagegen kann er nicht ankämpfen. Er hat eben mitunter diese Scheu, den Dingen offen entgegenzutreten. Er weicht aus . . . Heute wie damals. Sagte es nicht kürzlich auch Petronides? Ähnlich so . . Er wollte ja zum Wlach! Aber er schwieg. Und so jämmerlich hat er damals geweint. So jämmerlich. IV. Die Fahrt geht weiter. Es sind Tausende, die unsere Wege kreuzen. ... Ein wirres Durcheinander von Begrüßungen, Bekanntschaften und Wiedererkennen. Manches wird bedeutungsvoll und verschwindet wieder. Manche lernt man kennen und begreifen. Hört ihnen teilnahmsvoll zu, fühlt mit ihnen — plötzlich sind sie angelangt, empfehlen sich: man sieht sie niemals wieder ... ^Nirgendwo sonst, nur in der Eisenbahn, sitzt Vman~TflenscKen Aug'Jn_Aug^egenüber. Nir- X gendwo sonst sind sie so gesprächig und offen- \Uj\ o herzig, so unverhüllt und erkennbar. \7*J>^ Vereinzelte Gestalten bleiben im Gedächtnis haften: Dienstmädchen, die Stellung und Domizil wechseln müssen, ängstlich horchen, welche Station ausgerufen wird, immer wieder aufspringen, ein schwitzender Tierarzt, der behutsam ein Huhn verzehrt, die Frau eines Schlossermeisters, die ins Krankenhaus zur 52 53 Beobachtung fährt, der Mann, der ununterbrochen von einer Holzschwellenlieferung an die Eisenbahn Verwaltung berichtet, die Bäuerin, die die Scheibe zerschlägt und sie bezahlen muß — sie war eigentlich unschuldig!—, ein Geistlicher, der immerzu die Lippen bewegt, Damen, die keine Ansprache wünschen — eine, die den Konfektionär Barkus anschrie—, schnarchende Greise, und die vielen Kinder, die alle aus dem Fenster schauen wollen, denen die Mütter unablässig die Röckchen und Höschen tiefer ziehen . .. Es sind harmlose Erinnerungen, harmlose Gedanken. Alles ist harmlos. Auch Petronides ist harmlos. Und doch rumort erTim Kopfe, frißt sich ein, bohrt sich immer tiefer ... Manchmal weiß Malenski genau, wogegen er sich wehren muß: gegen das Theatralische in ihm, gegen diesen verdammten Wunsch, anders zu sein, als er ist, anders als seine Bestimmung, zu der er berufen ist. . Er ist Geschäftsreisender, hat seine Sorgen, hat Geschäfte abzuschließen und sich an die Tatsache zu halten. Und diese Tatsache ist: Man muß_a^beiten, 54 um leben zu können, muß versuchen, den Kundenkreis zu erweitern und den Umsatz zu steigern, damit man später einmal, wenn man weniger agil ist, nicht auf die Straße gesetzt wird. Denn ein Reisender ist kein Angestellter im gewöhnlichen Sinne. Ein Reisender kann nicht schwindeln. Kann nichts vortäuschen, kann nicht so tun, als ob er arbeiten würde, als ob er unentbehrlich wäre ... Hier sprechen Zahlen! ,..; Eines Tages kann man ihm ohne weiteres sagen: Du rentierst dich nicht mehr, Ade, geh mit Gott! Und dann ist man allein, ganz allein . .. Heinrich aber will nicht allein sein. Wenn er allein wäre, das wäre das Ärgste. Vielleicht hängt alles, was ihn bedrückt, mit dieser Angst vor dem Alleinsein zusammen. Und wenn ihn/Adele verlassen würde — es wäre das Ende . . . Doch das ist ja nicht zu befürchten ... Einer spricht einen Satz, er klingt nach, verführt zum Grübeln. Der Zug rast durch den Abend .. Manchmal ist man auch zufrieden, allein zu sein, gibt dem Schaffner ein Trinkgeld, schließt die Augen, senkt sich in Halbschlaf. 55 Oder man blickt hinaus in die pfauchende Nacht, schaut den sprühenden, tanzenden Funken nach, sieht da und dort ein erleuchtetes Fenster, spürt für kurze Minuten die häusliche Wärme: ein altes Weib mit aufgelösten Haaren, das die Betten zurechtlegt, der heimgekehrte Vater, der die Suppe aus dem Emailletopf löffelt, ein junges Mädchen im Hemd, ein Bub, der an der Schulaufgabe arbeitet, eine gute Stube mit roten Plüschmöbeln und einer Standuhr... „Nicht wie der Besen ist — wer ihn kauft, besagt, wie lange er halten wird," pflegte der alte Wollrab zu sagen. — Auch mit sich selbst soll der Mensch ökonomisch umgehen, soll sich nicht unnütz an seiner Mitwelt reiben, nicht immer kampfbereit sein. „Ein Fisch ist so — ein Fisch ist so" —, willig packte er einen andern ein, wenn eine Frau einen angeblich verdorbenen Hering aus dem Papier wickelte. Malenski war zufrieden. Brav und gutmütig war dieser Wollrab, konnte gar nicht böse dreinschauen. Sprach nie ein böses Wort. Wärme sing von ihm aus. ' Für jeden hatte er ein freundliches Lächeln in seinem wohlgenährten Gesicht und wenn er redete, dann hatte man den Eindruck, als hätte er niemals einen trockenen Hals, als würde ihn eine innere Feuchtigkeit so fröhlich erhalten . Wie die meisten Dorfkrämer, litt er an Krampfadern an den Füßen und durfte eigentlich nicht allzuviel Bewegung machen. Aber das ging ja nicht. Mit den Händen hob er sich den Bauch hoch, wenn er vom Sessel aufsprang — und schon eilte er gefällig von Regal zu Regal, einerlei, wer es war. Für die Bauern füllte er die Steuerformulare aus, ließ sich Briefe an ihre Söhne nach Amerika diktieren '■—■ in seinem Laden erschienen im Laufe des Tages so ziemlich alle Bewohner des Ortes. Oft gab es richtige Versammlungen und scharfe Debatten. Da war der Redakteur der „Landpost" mit dem roten Vollbart. Eigentlich kein richtiger Redakteur, sondern Geometer, aber er schrieb wichtige Artikel über Bodenverhältnisse und Ernteaussichten. Das Volkstum stand ihm am nächsten. Ein kluger Mann! Jähzornig und rechthaberisch war er, vertrug nicht, wenn man ihm widersprach. Einmal hatte er vor dem Laden eine Prügelei mit dem Schloßverwalter. Seit dieser Szene sprachen sie kein Wort mehr miteinander . . . Auch Herr' Leinegg kam, der Sparkassen-beamte mit dem kleinen, kurzgeschnittenen ^Schnurrbart und den hohlen Wangen. In seinen freien Stunden befaßte er sich mit Statistik. 56 57 Unglaublich, wieviel Zahlen er auswendig herzusagen wußte! Er war geschieden. Seine/Frauj hatte ihn nach einjähriger Ehe verlassen. ,i,800/o aller Ehen sind unglücklich," erklärte er . . . Und dann das Fräulein vom Postamt, die gern so tat, als würde sie die Versetzung aus der Großstadt nach Karany mit berechtigtem Galgenhumor tragen. „Ich ersticke in diesem Nest," sagte sie. Sie wollte in Wirklichkeit gar nicht weg aus Karany, denn sie lebte hier viel billiger als in der Stadt, wo ihre Mutter bei einer Tante untergebracht war. Übrigens hielt sie es mit dem Friseur. Auch kaufte sie monatlich ein Dutzend rosa Briefpapier ... Und der Herr-SchloßVerwalter! Der tat immer so geheimnisvoll, sagte gern: „Ja, wenn man erzählen dürfte!" — schließlich begann er dann skandalöse Geschichten aus dem Schlosse zu berichten. Daß dort die Kammermädchen dem Ehepaar „dabei" zuschauen dürfen. Daß ^ie~Herrschaft zwei Stunden im Badezimmer verbringe. Daß man am Achtundzwanzigsten nicht wisse, wo man am Ersten das Geld hernehmen werde. Daß die Köchin im Verbrauchsbuch für ein Omelett acht Eier eintrage. In der Küche Feste feiere .. . Wenn er ins Reden kam, sprach er stundenlang und dann vergaß er gern ans Zahlen. Da mußte man gut aufpassen . . . Auch Katastrophen gab es. Z. B., als der Schlossermeister Firke, der eine volle Jahresrechnung schuldig war, auf und davon lief. Und Alois! Der Lumpenalois! Hundertmal hatte man versucht, ihn auf die rechte Bahn zu bringen. Nichts half. Eines Tages kam eine Zuschrift des Gendarmeriekommandos, daß man ihm täglich nur noch zwei Glas Branntwein einschenken dürfe . . . In seiner Jugend hatte er sechs Klassen des Gymnasiums besucht. Wenn er nüchtern war, konnte er lateinische Sprüche aufsagen: „Quidquid agis, prudenter agas et respice finem" . f / / / Ein Lehrbub in einer Kolonialwarenhandlung — oh, der hat Arbeit! Um fünf Uhr heißt es auf den Beinen sein! Die Ladentüren werden geöffnet, Milch und Weißgebäck wird übernommen. Dann bespritzt man den Fußboden, ordnet die Auslage, fegt den Staub von den Wein- und Suppenwürzenflaschen ab, schüttelt die Gurkenfässer, damit sie nicht Schimmel ansetzen. Dann bereitet man die gangbaren Artikel vor. Füllt Mehl, Zucker und Salz in Pfund- und Kilo-Pakete. Auch Tee und Gewürze werden in kleinen Düten verpackt, Sultaninen werden entstielt, Mandeln gereinigt, Bindfaden und 58 59 Papier muß immer bei der Hand sein, ein Fäß-chen dänischer Butter geöffnet, ein Demijon Himbeersaft entkorkt werden. Den ganzen Tag gibt es zu tun und abends, wenn der Zugang geschlossen wird, muß der Petroleumbehälter frisch gefüllt und die neuangekoramene Ware übernommen, abgewogen, mit der Rechnung kollationiert werden .. . Nur am Sonntag Nachmittag ist eine Ruhepause. Da geht man ein bißchen die Landstraße entlang, manchmal mit Kameraden bis ins nächste Dorf. Oder man steigt in die Dachkammer hinauf, legt sich ins Bett und schläft.. . # Gern erzähltJVIah'nslci aijs seiner Jugendzeit.. rEPtut es selten. \Ädele\hört zu, nicht teilnahmslos — sie ist ja^selbsreine Kaufmannstochter — doch so, als würde es ihr ein wenig komisch vorkommen, solchen Dingen durch ihn nahegebracht zu sein. Auch Petronides hört zu. Mit der interessierten Miene eines Menschen, der Geschichten aus einem andern Weltteil hört. Das kann nicht ganz echt sein. Aber Petronides ist Grieche — er betont es nicht ohne Genugtuung — und hat era.jtürmisches Leben hinter sich. Man weiß gar nicht, woher er eigentlich kommt, was er alles getrieben hat, bevor er sich auf den (Teppichhandel warf. Es müssen mysteriöse Geschäfte gewesen sein, bald mit Edelsteinen,bald mit Valuten, dann wieder große Transaktionen, Interessengemeinschaften auf Kolonien, Verträge zwischen Javanern und einem holländischen Prinzen, Vermittlungen zwischen fremdländischen Banken und Optionen auf Patente — es ist nicht leicht, sich darin auszukennen, die Angaben auf ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen und Petronides flunkert glewiß ein wenig ... Selbst Adele scheint das zeitweilig zu merken ... Aber es ist, als würde sie ihm das gar nicht übel nehmen, ja sie blickt ihn dann OTT schwach, beinahe zärtlich und verzeihend an;— nein, nicht zärtlich, eher mütterlich . . . Vielleicht auch nicht mütterlich! Jedenfalls so, wie sie niemals aufsieht, wenn sie mit Heinrich allein ist.. . Doch auch das ist nicht richtig. Das sieht er nur so in seiner verwirrten Urteilskraft in allem, was Adele betrifft.. . . „Sie sind zu beneiden," sagte Petronides mit seiner schweren, gedämpften Stimme, „ich beneide Menschen, die ein begrenztes, aufzuarbeitendes Weltbild haben. Für sie ist das Le- 60 61 ben in allem, auch in der Not, auch im Vergnügen, auch in der Liebe, eine Aufgabe, ein Pensum, das erledigt werden muß. Sie wissen gar nicht, wie fürchterlich alles das sein kann, was Gift in sich trägt und vielleicht Genuß heißt. Begrenzung ist ein Glück für den, der sich sie schaffen kann. Arg ist nur, an seiner Natur verbrennen zu müssen."-- * Aber muß nicht in allem System sein? Irgend eine Richtung? Sagte es nicht schon der „Generaldirektor"? Der „Generaldirektor" — das war wohl der närrischste Kauz in. Karany. Man kannte ihn im ganzen Bezirk und erzählte von seinen Schrullen ... vr-Hc£^ An Heinrich hatte er besonderes Gefallen gefunden. „Generaldirektor" war nur sein Spitzname. Er war wohl nie Generaldirektor gewesen, aber er muß doch früher einmal ein besonderes Amt bekleidet haben, als Oberbuchhalter oder in ähnlicher Position. Einem Gerücht zufolge, war er sogar vor Jahren an der großen Farbenfabrik beteiligt gewesen, die in der Nähe des Ortes 300 Arbeiter beschäftigte. Das sind nur Vermutungen. Nun wohnte er in einem Fachwerkhaus am 62 Ende des Dorfes, ein kleines Besitztum, das ihm angeblich reiche Verwandte eingerichtet hatten, als die Firma fallit wurde, in der er angestellt war. ^pC Daß er damals den Posten verlor, muß einen bösen, vernichtenden Eindruck in ihm hinterlassen haben. Seit damals lebte er so abgeschlossen . . Aber dumm war er.nicht! Im Gegenteil. Man wendete sich oft an ihn, wenn es irgendeine juridische Frage zu lösen galt. Allein, ohne Beihilfe führte er seine kleine "Wirtschaft. In musterhafter Ordnung. Täglich kam er zu Wollrab, kaufte Brot, Mehl, Hülsenfrüchte, was er eben benötigte. Heinrich sah ihn gern im Laden. Vielleicht lag auch ein wenig Dankbarkeit in dieser Sympathie. Wenn sich der „Generaldirektor" einfand, ging gleichsam ein frischer Wind durch die Räume.Groß, breitknochig, mit langen, festen Schritten trat er ein, die Aktentasche unter dem Arm — nie sah man ihn ohne Aktentasche —, ein langer, gelbbrauner Schnurrbart verdeckte Mund und Kinn — er kommandierte seine Bestellung. Über jeden Einkauf, den er besorgte, legte er einen Auftragschein vor, jedes Viertelpfund Salz, das er übernahm, verglich er mit seiner Notierung, strich die Übernahme ab, ganz so, als ob es sich um große Lie- 63 J ferungen handeln würde, als ob sein Haushalt ein Geschäftsbetrieb wäre, und für den kleinsten Betrag, den er auszahlte, verlangte er eine ordnungsgemäße Bestätigung. Man mußte ihn aufmerksam behandeln, wehe, wenn man auf einem Rechnungszettel das Datum vergaß! Da konnte er wild werden . . . Er war eben ein Narr! # Und doch darf man es ein richtiges Glück nennen, daß Heinrich dem „Generaldirektor" nähertreten durfte. Eine Hand wäscht die andere und das Schicksal des einen greift in das des andern über. Hätte er den „Generaldirektor" nicht kennengelernt, dann wäre Malenski nicht der, der er heute ist, wäre er heute nicht bei Faßland . .. Doch nicht jeder hätte den „Generaldirektor" so respektvoll bedient. So mancher hätte seine Narreteien belächelt. Manche versuchten es ja auch, doch Herr Wollrab duldete in seinem Hause keine böswilligen Scherze . . . Und Heinrich war nie böswillig. Der -Generaldirektor" sprach gern mit ihm. Verlangte nach.ihm. Wollte nur von ihm bedient sein... Ein Feiertag. Feiertag auf dem Lande. Vor den Häusern stehen die Dorfbewohner. Die Frauen blicken stumpfsinnig drein, die älteren sitzen auf Steinbänken neben dem Hausflur. Die Kinder in den Sonntagskleidchen fühlen sich hilflos unbequem. Vor der Schmiede gruppieren sich die Männer, rauchen, und ereifern sich bei jedem Thema, das angeschlagen wird, ein wenig pathetisch, wie alle Menschen, die selten zum Reden kommen. Im Grunde hat man sich nichts zu sagen, kommt, wann man will und verschwindet ohne Gruß — einer weiß vom andern, wieviel Teller und Tassen er besitzt. Feiertag, man feiert. Erst läuft man ein wenig den Abhang hinunter, dann an der Tonziegelei vorbei — der Lumpenalois zieht dort seinen Arm durch eine Ziegelform, aus der Wohnung des Lehrers klingt eine Geige — der Sohn des Schloßverwalters hat heute „Stunde" —, die Allee hinter dem Gasthaus führt zu einer Wiese, sie gehört dem Schuldirektor — auf dieser Wiese stehen noch die Balkenreste des früheren Pferdegestüts — man kann sie als Turngeräte benützen —■ und oben, rechts von den Haselbüschen, an dem schmalen Weg, der zum andern Teil der Tonziegelei führt, liegt das Häuschen des „Generaldirektors" .. . „Da herein, marsch!" sagt dieser eines Tages, da Heinrich gerade vorbeikommt... 64 65 Im Vorraum riecht es nach Kalk. Eine kleine Stiege führt in ein separiertes Zimmer. Heinrich tritt zaghaft ein — „Mein Büro!" sagt der „Generaldirektor". „Nimm Platz!" Es war ein richtiger Kanzleiraum, mit ,t,u( Schreibtisch, Geschäftsbüchern, Gummi arabi- ^ ^ cum, schwarzer und roter Tinte und einer Kopierpresse. Der „Generaldirektor" schreitet gravitätisch auf und ab. Reibt die Hände. Faßt Heinrich ins Auge. „Bist du zufrieden?" fragt er und zwingt ihn den Kopf zn heben. „Sprich! Bist du zufrieden? Ich meine: mit deinem Beruf? Deiner Stellung? Deiner Tätigkeit? Aufgepaßt! Möchtest du vorwärtskommen? Karriere? Höherer Gehalt?"Position?"" """ Heinrich möchte schon . . . gewiß! „Ich habe Interesse an dir. Du bist ein aufgeweckter Kopf. Kein Schlafsack. Du bist jung, unerfahren, doch in dir schlummern Möglichkeiten. Sie müssen geweckt werden. Aus der Niederung deines engen Horizonts sollst du emporfinden. Sollst nähere Zusammenhänge erkennen. Ein weiterer Ausblick ist nötig. Deiner bisherigen Existenz fehlt die Erweiterung, fehlt der Halt, das System. Du besitzst Begabung, zweifellos. Du bist fleißig. Du bist entwicklungs ■ 66 fähig, du arbeitest. Du lernst und erlernst auch Brauchbares. Gewiß: die Firma Wilhelm Woll-rab, Kolonialwaren, ist gut fundiert. Du hast dir dort Kenntnisse erworben. Kenntnisse sind nicht wegzuleugnen. Aber aufgepaßt: von einer richtigen, rationellen Geschäftsführung hast du keinen blassen Schimmer, mein Sohn. Du verstehst Düten "zu drehen, ein Pfund Fett abzuwiegen, weißt vielleicht, daß die besten Pflaumen aus Bosnien kommen, aber die Essenz, den Geist, die Bestimmung deines Berufes hast du nicht erfaßt, nicht erfassen können. Was dir fehlt? Strammfeftit! Qrdpiingf DisT^pljn! Organisation! Du hängst in der Luft, hast keine Stütze. Warum? — Geschäft ist noch nicht Geschäft — ein Dasein ohne Buchführung ist wie ein Dasein ohne Heimat. Wilhelm Wollrab ist ein anständiger Kaufmann — nicht wegzuleugnen —,j:ichjt,ig,ex.giR3jagt: er ist ein Krämer!.Er handelt. Handelt, was man ihm vorvdie Nase hält. Verkauft Kandis und Stiefelwiclise^?. Ich frage nun: waißj^cdjM^ ? Führt er Regiekonti?Kann er kalkulieren, kapitalisieren, Amortisation berechnen, Abzüge buchen und Bilanzen aufstellen? Weiß er, was ein conto se-parato ist? Überblickt er überhaupt — so frage ich — das Ausmaß seiner Tätigkeit, den Erfolg seiner Bemühung? Gar nichts weiß er: er vegetiert!" 67 Heinrich hört aufmerksam zu. An der Wand hängen Prozenttabellen und ein „Musterschema der Staffelkontokorrentrechnung", eingerahmt und unter Glas. Bleistifte, in verschiedenen Härten und Farben, liegen gutgespitzt auf einem Ständer. Der „Generaldirektor" blättert in den grüngebundenen Büchern: „Sieh, Bursche! Hier ist mein Warenskontro! Mehl, Zucker, Butter, jeder einzelne Artikel meines Hausbedarfs hat seine besondere Rubrik. Links der übernommene Vorrat — rechts der Verbrauch! Jeder Einkauf wird eingetragen, die Entnahme wird abgeschrieben. An jedem letzten Tage des Monats werden die Vorräte aufgenommen, die Kolonnen müssen stimmen, Eingang und Ausgang sich ergänzen. Jeder Posten hat seinen Gegenposten, jede Geschäftsverbindung ihr eigenes Konto. Bestellscheine werden kopiert, Zahlungen vorerst separat gebucht, Fehlendes als unvermeidliches Manko festgelegt. Das ist Ordnung! Festigkeit! Übersicht! — Willst du mein Schüler seinj?^— Heinrich lernt Buchhaltung und Handelskorrespondenz. Er führt Gutschriften und Belastungen durch, überträgt die einzelnen Posten aus der Prima-Nota ins Journal und von da ins Hauptbuch. Er weiß nun, was eine Inventur, was Immobilien und tote Konti sind. Ein neuer Geist wird rege: Devise, Wechselprotest und Rohbilanz ... Er lernt oft bis in die späte Nacht, verfaßt Geschäftsbriefe, Standard-Formulare... Sein Lehrer ist zufrieden .. . Er wird eifrig: alles möchte er wissen, das Fach beherrschen .... Eine Klärung vollzieht sich, ein Weg wird sichtbar. Er muß verfolgt werden .. . Er möchte weg, weit weg von hier . .. J * Es ist Frühling. Anfang Mai. Der Himmel liegt klar, klar liegt die Ferne. Von der Kopcpe herab dringt der Blick weit in die Täler hinein. Dort oben ist eine Bank, auf dieser Bank sitzt JHeinrich \ und schaut. Schaut bis zu den Bergen,"die jetzt nicht mehr im feuchten Dunst der Wälder liegen. Aber seine Gedanken reichen schon weiter hinaus, hinter die Berge, weiterfassend, dorthin, wo die großen Städte liegen, die Fabriken, die Import- und Exporthäuser, die Firmen mit hundert und fünfhundert Angestellten, mit Schreibmaschinen und amerikanischer Buchführung, mit Zentrale und Filialen, Prokuristen und 68 69 Vorstandssitzung .. . neben ihm sitzt |HerrLein-egg mit dem kleinen, kurzgeschnittenen Schnurrbart und jHest^Zeitung^ Heinrichs Seitenblick entdeckt eTne~"Ää2feige: „Jüngerer Kontorist gesucht. . . Kurz- und Galanterie- LbilP-tfh waren Engros . . . Faßland . . . nur schriftliche ^ ö Angebote..." Mit Hilfe des „Generaldirektors" setzt Malenski ein Offert auf, das mit den Worten beginnt: „In Erfahrung gebracht, daß in Ihrem wt. Hause der Posten eines Kontoristen zu besetzen wäre, gestatte ich mir . . ." — und mit der Zusicherung endet: „— so werde ich immer bemüht bleiben, durch Fleiß, Treue und Geschäftsinteresse mir die Geneigtheit meines Chefs zu bewahren" —- — Petronides sieht richtig ^Begrenzung; ist ein -Glück für den, der sich sie schaffen kann. Ist es so? hht Warum aber wünscht ^Malenskii immer wieder, diese Begrenzung zu durchbrechen, ob-gleich ihn Joch, wiederum Angst packt, wenn er nur daran denkt, daß es gelingen, daß er plötzlich ausdieserBahn^er^enwerden könnte, in die er sich nun eingelebt? Seine eingeschränkte Welt fühlt er in gewissem Sinne als Schuld. Aber zugleich auch als Schicksal. Als Aufgabe. Als Pflichtgebiet. Und wenn er plötzlich mutig werden könnte, großzügig und bedenkenlos, umstürzlerisch, anders als er jetzt ist, vielleicht eigenartiger, vielleicht tiefgründiger, vielleicht so, Wie Petronides ist oder (zu sein scheint)— dann würden gewiß die Stunden kommen, wo seine verständige, haltgebietende Natur dazwi-schenfahren und seine Kräfte lähmen würde. Vielleicht verachtet ihn/'Adele ^aus diesem Grunde . .. 70 71 Ist es nicht richtiger, in jedem Falle, fest auf seinen zwei Beinen zu stehen? Zu sagen: so bin ich.und ich bin mir treu. Man darf nicht allen Eindrücken verfallen. Wer ewig rechts und links schaut, kann nicht gerade gehen. Auch Adele muß wissen, wer er ist und wie er ist, und sie muß sich bescheiden, wenn ihr — vielleicht ist es so! —- in ihm nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen. Es gibt eben Unterschiede zwischen Menschen und Menschen. Malenski ist so und Petronides eben anders. Warum diese Gedanken? Vor Jahren hätte ihn das nicht verwirrt. Auch wenn die Versuchung gekommen wäre. Sie kam ja auch, damals, als Beering bei A. Faßland & Sohn eintrat, damals, als er noch Lehrlingsdienste tat. Beinahe hätte es zu bösen Dingen führen können. Beinahe . . . # Viele Firmen gibt es heute nicht, die es an Rang und Ansehen mit der Firma Faßland aufnehmen können. Kaufmann! — so nennt sich jeder. Aber: — nur ein Geschäftsreisender weiß das zu schätzen — was hilft alle Tüchtigkeit, wenn 72 eine Firma nicht als solide gilt, die Vereinbarungen des Verkäufers nicht einhält? Der alte Faßland, das ist ein Kaufmann in des Wortes vollster und ehrenhaftester Bedeutung. _Sejn_Wj3rt_gilt1_jejneJ^ haben Kopf und Fuß. Er arbeitet von acht Uhr früh bis acht Uhr abends. Er kennt die Kundschaft. Weiß, wie jeder bedient und behandelt sein will. Er hat das^äüptblich sozusagen im Kopfe, jede Zinsendifferenz bleibt ihm im Gedächtnis haften. Auf Überpreise verzichtet er . . . Lockartikel führt er nicht. Künste überläßt er der Konkurrenz. Sein Firmenschild hält er rein, als ob. es ein Wappenschild wäre. Zahlt jede Faktura mit Skonto. Ehrenstellen lehnt er ab. Tritt ungern in die Öffentlichkeit. Nur einer Funktion vermag er sich nicht zu entziehen: er istjEhr enobmaimT\des Landesverbandes der Kurz- uncPGalanteriewarenengros-händler! * Jffibine_sind oft anders als die Väter. Man darf vom jungen Faßland — obgleich er in vielem der wahre Sohn seines Vaters ist — doch mit Recht behaupten, daß er ein wenig aus der Art geschlagen ist. Er ist — wohl der richtigste Ausdruck — . jüxerhildel" — , erliest finanztechnische und nationalökonomische Bü- eher — er ist ein guter Kopf und er bemüht sich, das Unternehmen, wie er sagt, auf eine „andere Basis" zu bringen. Das hat oft schon zu Mißhelligkeiten und Verlusten geführt. Mit Kleinigkeiten gibt er sich nicht ab, hat immer das Gesamtbild im Auge. Liebt es nicht, wenn der Vater kleiner Differenzen wegen in Erregung gerät. Er ist nicht eben ein Verschwender — das ist er nicht —, aber ihm fehlt wohl die achtungsvolle Distanz zum Gel de, die nur der besitzt, der es selbst schwer erworben hat... { Faßlands sind reiche Leute. Die Bonität steht nicht in Frage. „Gut für jeden Betrag," sagt Schimmelpfeng. Der junge Faßland verkehrt in nobelster Gesellschaft. Mit einem Direktor der Diskontogesellschaft steht er „per Du". Er hat auch Passionen. In Branchekreisen wird erzählt daß er Reitunterricht nimmt, daß er oft in vornehmen Nachtlokalen zu sehen ist — wo ein Gläschen Likör teuerer ist als anderswo ein Menu! —, auch daß er ^iue^S.c^ausjßieJ^in^^S; hält und andere Klatschgeschichten werden be-richtet. Das sind Gerüchte. Reiche Leute kommen schnell in Verruf und die Konkurrenz entdeckt mit Vorliebe wunde Punkte .. * Frau Faßland, die alte Dame — sie heißt Leontine — ist eine wirkliche Dame. Ein Rei- sender aus der Rauchwarenbranche schätzt ihren Nerzmantel auf ein Vermögen. Im Büro ist sie fast nie zu sehen. Das darf man ihr nicht übel vermerken: das ist nun einmal in derGroß-stadt so — dje Frau eines reichen Mannes muß repräsentieren —. das ist nun einmal anders als auf dem Lande, wo die Frauen den ganzen Tag im Laden stehen und meist gewandtere Verkäufer sind als die Männer—vielleicht, weil sie von Natur aus Menschen besser durchschauen—Frau Faßland ist aber nicht etwa stolz, im Gegenteil, sie grüßt liebenswürdig, wenn sie doch bisweilen das Kontor betritt, und als der Buchhalter kürzlich ins Krankenhaus mußte, da brachte sie eigenhändig eine Flasche Wein an das Krankenbett.. * DaB sind Privatangelegenheiten der Chefs. Um die hat sich ein anständiger Geschäftsreisender nicht zu kümmern. Man liefert die Orders ab, gibt Direktiven, kontrolliert die fälligen Zahlungen, ordnet die Musterkollektion, reiht die neuen Partien ein und verschwindet wieder. * Heinrich war nie neugierig. Ist es auch heute nichtrEFist heute nur mißtrauischer . . 74 75 Neugierig war er nie. Nur wißbegierig. In den ersten Monaten in einem neuen Posten — da ist jeder wißbegierig. Da reißt man die Augen auf. Gar wenn man aus dem Dorf in die Großstadt kommt, wo man mit „Herr" angesprochen wird, seinen eigenen Schreibtisch hat — ein herrliches Gefühl! — und alles Neue ungewohnt und erstaunlich wirkt. Der „Generaldirektor" hatte JMalenski ein wenig präpariert. Das waren nur Anfangsgründe. Viel hatte er noch durchzuarbeiten, zu lernen. Fürchterlich viel. . . Zuerst war er der Registratur zugeteilt. Da mußte man den ganzen Tag stehen—das macht müde! Er mußte früh die Geschäftsschlüssel aus der Wohnung des Chefs holen, die abgelegten Briefe alphabetisch ordnen und in die Mappen einfügen, er mußte die Kopien und Kopierbücher für die rekommandierten Briefe in Ordnung halten, die einzelnen Abdrücke numerieren und dann mit dem Index in Einklang bringen, die Post abfertigen, Adressen schreiben und die Briefmarken aufpicken. Man nennt das Lehrlingsdienste. Jeder muß so beginnen. Er arbeitete ehrlich — das darf er ohne Überhebung von sich behaupten —, „schwindelte" nicht, wie es so viele tun, die den ganzen Tag nur statieren, dazwischen auf dem Hofe Zigaretten rauchen, ununterbrochen auf die Uhr schauen, auf Papieren gedankenlos hundertmal ihre Unterschrift niederkritzeln und immer nur geschäftig werden, wenn der Chef oder der Buchhalter vorbeikommt. Dann werfen sie rasch einen ganzen Stoß Briefe durcheinander .. # Maleriski ist kein Rebell: ein brauchbarer Angestellter muß immer die Geschäftsinteressen über die eigenen stellen. Darf nicht von I der Voraussetzung ausgehen: der Chef hat ge-L-jttug Geld, lebt von fremder Arbeit. Das sind üble Prinzipien. Mit denen kommt man nicht weit. [rEin Rebell war Heinrich nie p- er ist es auch beute nicht! ~~~~~ "''" Geschäftsreisende können gar nicht so sein. Sie vermitteln zwischen dem kleinen und großen Unternehmen und sehen mit dem Blicke des ) Selbsterhaltungstriebes die Verarmten als nicht „kreditfähig" an. Wie wäre es auch mit der iJBonität)der Kunden bestellt, wenn sich nicht Kapital anhäufen ließe, und wie könnte ein Chef leistungsfähig bleiben, wenn er von seinen Angestellten ausgenützt würde . . Das muß man doch begreifen können ... 77 Man will doch Geschäfte machen, will doch leben... # , Einsichtig muß man sein. — Heinrich war immer einsichtig. Er war es auch damals, als man ihm eines Tages einen neuen Kollegen vorstellte, der nun gemeinsam mit ihm in der Registratur arbeiten sollte. Das sind schwierige Situationen. Andere hätten das nicht so ohne weiteres hingenommen. Zumindest aber die Lage ausgenützt. Denn der, der „zuerst" da ist, hat immer, auch wenn er nicht höher gestellt ist, die Möglichkeit, wichtig zu tun, den „Neuen" falsch zu informieren oder ihm gegenüber den Vorgesetzten zu spielen. Dieser Beering war ein hübscher Junge von gepflegtem Äußeren. Hoch aufgeschossen, . rschmalschultrig gebaut, mit glänzenden^und^/ doch müde schauenden Augen. „Eine verstlfck^e' / Natur!" war automatisch der erste Eindruck. Gewiß ein falscher Eindruck, doch nicht zu umgehen ... Was war es denn, was Heinrich so verwirrte, zum erstenmal in seinem Beruf so durchgreifend aus der Fassung brachte? Wie vor etwas Rätselhaftem, bisher Ungeschautem, stand er vor dieser Sprache, vor diesen Bewegungen, vor dieser Haltung. Das ist verständlich: wenn man täglich sechs Monate hindurch immer wieder die gleiche Arbeit verrichtet, dann hat man doch gewisse Erfahrungen, kennt die einzelnen Geschäftsverbindungen, weiß, welche Mappen oft gebraucht werden, welche Konti der Buchhalter öfter benötigt. . . Heinrich war nicht herrschsüchtig, wollte niclif^k'onmiandieren — dazu hatte er ja auch kein Recht —, er wollte nur den Neuling als besser Informierter in seine Tätigkeit einweihen, wollte ihm Handgriffe zeigen, wollte ihm raten, sollte es ja auch tun . . . Das war nicht so einfach. Denn dieser Beering war vom ersten Augenblick an, da er in Aktion trat, gewissermaßen der-Überlegene, er stand über der Situation, er ignorierte einfach Malenskis Bemühungen, ja überhörte oft einen^mwand — aber er tat das nicht so, daß man ihm sagen konnte: „Du! du mußt zuhören, wenn ich mit dir spreche, sonst lernst du es nie." — Nein, das ging nicht! Dieser Beering war immer korrekt, liebenswürdig, dankte_höflicj^jitiellte mitunter sogar Fragen, aber — wie war das nur? — auch diese Fragen waren gleichsam nur Höflichkeitsakte, blanke Äußerungen einer Guterzogenheit und er akzeptierte die Antwort ungefähr so, als würde er sagen: „So, nicht anders, habe ich es mir gedacht." 78 79 Das war kein deutliches, kein zugegebenes Geschäftsinteresse. Beering war der Sohn eines Direktora einer Druckknopffabrik und kam .Kehl nur deshalb zu Faßland, weil er in 5er ™ 1 —■- " '■* •—•---1-1----_f - -■ ■ -IT ---- Schule nichts getaugt hatte. „Warum hatte er nicht fleißig studiert," dachte Heinrich, „sein ^VatejMsJ^^ und hätte die Studienkosten gewiß gern bezahlt." Einen solchen Verzicht, einen solchen Mangel an Ambition konnte Heinrich nicht recht be-greifen. Noch etwas begriff er nicht: dieser Beering hatte keine Freude an der Arbeit. Das war offensichtlich. Das mußte jedem klar sein. Auch den Kollegen und den Vorgesetzten. Aber alle, selbst der Buchhalter, der sonst mißmutig jede private Annäherung ablehnte, behandelte ihn gewissermaßen /respektvollj und das empfand Heinrich schmerzlich, kränkend, wie ein Unrecht, das man an ihm beging. Einmal sagte Herr Faßland zu Beering: „Ihr Vater ist also Verwaltungsrat geworden —■ ich gratuliere!" Und reichte ihm die Hand. Damals fühlte sich Heinrich wie vor den Kopf gestoßen, traurig und tief verletzt. . EinErlebnis griff besonders tief, erregte ihn. Als Jüngster der Angestellten mußte Malenski jedesmal um 10 Uhr für den Buchhalter das zweite Frühstück einholen: Würstchen mit Kren oder Senf, dazu ein Brot, oder Salami, Käse, zwei ölsardinen, an heißen Tagen auch ein Glas Bier. Heinrich holte es immer willig. Das war selbstverständlich — es war keine Mißachtung —, er sah darin nichts Entehrendes . . . Es wäre auch dumm gewesen, darin etwas Entehrendes zu sehen, denn. Arbeit bleibt Arbeit — wie immer sie ist — und die Vorgesetzten bestimmen die Pflichten . . Aber als der junge Beering am 1. Oktober eintrat und der immer barsche Buchhalter ein Geldstück auf den Tisch legte und kurz ausrief: „Heute Salami!" — da durchzuckte es ihn ... Aber er nahm sich zusammen, bezähmte seinen Ärger. Er dachte: „Beering ist schließlich heute den ersten Tag hier, kennt sich im Kontor noch nicht aus, hat genug neues sehen und hören müssen, holt vielleicht auch nicht die richtige Salami — sie darf nicht zu hart sein! — ich will heute ausnahmsweise noch selbst gehen." Aber den nächsten und übernächsten Tag wiederholte sich das gleiche,beschämende Spiel: „Heute Salami," oder: „Heute ölsardinen!" — Es sitzt ihm bedrückend in der Kehle: — drei Tage lang aß er nicht zu Mittag, lief in die 80 81 Felder vor der Stadt. .. Warum wird Beering besser behandelt als er? Warum? /wn/* * Das sind schmerzliche Erfahrungen, kleine Nadelstiche nur, aber sie dringen tiefer als man glauben würde, man überwindet sie vielleicht mit den Jahren, aber ein schales mißstimmendes Gefühl bleibt zurück . .. Beering war ein Stadtmensch, war in Kultur gerückt. Zum ersten Male lernte Heinrich den Unterschied zwischen \den Ständen^ kennen. Lernte erfahren, daß das „bessere Mflieujf an sich respektiert wird. .. -Arrf jecter Kleinigkeit, in kleinen Dingen des persönlichen Verkehrs, trat das zutage; z. B. wenn der Chef vorübergeht — das gebietet der Anstand — muß man sich verbeugen, auch Beering verbeugte sich, so wie es Heinrich tat, doch anders, selbstbewußter, richtiger, vollendeter . . . das muß wohl angeboren sein, das kann man nicht erlernen . . . * Und doch! Neid verführt! Hätte sich nicht eine kleine, sonst kaum beachtenswerte Episode abgespielt, so wäre Heinrich heute nicht der Herr Malenski, Geschäfts- reisender eines altangesehenen Hauses, wäre vielleicht in ein weniger bürgerliches, vielleicht in ein sumpfiges Fahrwasser geraten, hätte auch verderben und verkommen können — Neid verführt und es gibt ja so viele anders geartete Einstellungen zur Welt, jeder setzt sich in seiner Weise in Szene, und für das, was dir als stärkste Wichtigkeit scheint — für dich von lebenswichtiger Bedeutung —, hat der Nächste vielleicht nur ein „ironisches Lächeln und das, was du gar nicht beachtest, kann einen andern in furchtbarste Verzweiflung treiben ... Was hatte denn Malenski bisher mit Stolz, erfüllt? Was ihn befriedigt? Was war ihm Rückgrat gewesen? Daß er bis dahin auch nicht ein einzigesmal zu spät ins Büro gekommen war! Daß die Registratur in musterhaftester Ordnung funktionierte! Daß man zweifellos — dafür hatte er Beweise — seine Arbeitstätigkeit schätzte! Daß aber alles das nicht gar so belangvoll war, wie er angenommen hatte, erfuhr er erst durch den täglichen Verkehr mit Beering ... Der gerade Wille gerät ins Wanken. Der Ausblick wird konturlos. Wie? Man muß also nach Geschäftsschluß nicht nach Hause oder vielleicht in den Stadtwald gehen? Man kann auch im Cafe Billard 82 83 spielen oder sich die Vorstellung im Variete anschauen. Man kann mancherlei tun. Das ist gar nicht so teuer—man darf nicht so ängstlich sein. Wenn man nichTgenugGeTcI hat, leiht man es eben von einem Kollegen und zahlt es am Gehaltstag zurück. Das spielt doch keine Rolle! Auch sonst gibt es Aufklärungen, die nicht ohne Belang sind. Man trägt nicht zu große Manschettenknöpfe. Das sieht scheußlich aus! Man tragt Selbstbinder und nicht genähte Krawatten. Ein junger Mann von heute darf sich nicht selbst zum Philister stempeln! Fleiß? — Nicht übertreiben! Es gibt Leute, die schuften jahrelang wie die Maulesel und verhungern schließlich. Undank ist der Welten Lohn. Andere, die schlafen bis Mittag, lumpen die Nächte und Jahre durch und leben auch. Nur nicht dämlich sein. Und die Augen offen hflUifin, Was kann geschehen? Nichts! Wenn man „Beziehungen" hat, geht man nicht unter. „Beziehungen" sind das wichtigste ... Das ist eine völlig veränderte Welt, die jetzt sichtbar wird. Heinrich beschaut sich im Spiegel: er ist breitschultrig, ungelenk, seine Nase ist breit, ausdruckslos, seine Hände grobknöchig und rauh. Und sein Gang! Er muß richtig gehen lernen. Er möchte sich gern so wie Beering verbeugen können ... So selbstverständlich ... Eines Tages steht er allein vor den Registratur-kästen — der junge Beering ist krank gemeldet. Drei Tage vergehen ... Der Chef im Vorübergehen: „Malenski, schauen Sie heute Abend nach Beering! wie es ihm geht.. ." # Ein Gartentor. Eine Villa. Eine luxuriöse Ruhe_ringsum. Blutrot wird Heinrich, als ihn im Vorsaal eine Dame begrüßt, dann weiterführt — man nimmt ihm den Überrock ab —, nun sitzt er an einem schneeweißen Bett — es ist fein hier! — mit jeder Bewegung fürchtet man die Sauberkeit zu stören — es ist so still und diese Stille macht unruhig —, er will sprechen,^weißnichTrecTrtTwie"^ soll... Nach kurzer Begrüßung stockt das Gespräch... „Mach dir keine Sorgen, Beering," sagte er nach einer Weile, „ich werde mit der Post schon allein fertig. Der Einlauf ist kleiner in den letzten Tagen." «f«V?»#* 84 85 Beering erwidert nichts, lächelt gezwungen. Er fiebert. Die Post und die Registratur interessiert ihn gewiß nicht. . „Der Chef läßt grüßen!" lügt Heinrich. — Der Raum, die Teppiche, das Licht verwirren ihn immer mehr: „Ich werde also wieder gehen —" er erhebt sich. Beering winkt ihm zu bleiben . . . „Ich habe noch nie eine so herrliche Wohnung gesehen," sagt Heinrich . .. Weiß denn dieser Beering, wie gut es ihm geht ? Ist er dankb ar für diese ungestörte Jugend, die so andächtig betreut wird? — Doch es war nur eine augenblickliche, Versuchung. Beering spuckt in einen Kübel. Man sieht seine dünnen Arme. — Heinrich aber spürt seinen breiten Rücken, er spannt die Muskeln und er wird wieder ein wenig hoffnungsfroher und dann kommt ihm -— ganz plötzlich — der Viehhändler Berka in den Sinn, die Nacht, da dieser in der Wirtsstube dem Vater vomFleisch-hacker Wlach erzählte .. * Es war nur ein Zwischenfall. Heinrich ging seinen geraden Weg. Und er ging ihn doch nicht schlecht. Er darf zufrieden sein. Zufrieden mit allem. Ja^T='HaTf^rcTr*geTä"de^u glücklich nennen, denn das, was ihn bedrückt, sind ja nur Gedanken, immer wieder Gedanken: Adele und Pe-tronides.. . " i i ! i 86 87 VI. aWie ist Adele? im Wesen. Adele ist sonderbar bie ist gutherzig, hilfsbereit und vertraglich, man darf sie auch vernünftig, ja in vielem klug und scharfsinnig nennen. Mitunter gerät sie in Stimmung. Und dann erzählt sie lange Geschichten. Oft ganz harmlose, oft übertreibend, oft ohne richtigen Anlaß und Abschluß. Aber eigentlich ist sie schweigsam, verschlossen. Erst läuft sie im Zimmer herum, ungehemmt wie ein kleines Mädchen, wird dumm und kindisch, weiß alle möglichen Neuigkeiten und Erlebnisse des Tages zu berichten, dann bricht sie unberechenbar ab,wird mißgestimmt, interesselos, gibt kaum eine Antwort. i{zkt>st Es ist nicht Launenhaftigkeit, dalf ist es nicht. Es ist eine seltsame Beklommenheit^, die plötzlich eintritt, die Heinrich immer wieder irritiert, ihn bisweilen ganz aus der Fassung bringt. „Du machst mich nervös," sagt sie ein- fallend, wenn Heinrich ein Gespräch fortsetzt, das sie selbst begonnen hatte. Sie sagt es nicht ärgerlich, nur ein wenig gereizt, beinahe bittend. Aber Malenski ist dann so ratlos. Manchmal blickt sie ihn erkennend an. Er fühlt diesen erkennenden Blick. Er weiß: sie i deak-t—mehxy_al ssie ausspricht, __ aussprechen will. Dann wieder schaut sie stundenlang — vielleicht sind es Tage, Malenski weiß es ja nicht! — ins Leere, apathisch, unbeteiligt^ so, als wäre ihr alles, was um sie vorgeht, einerlei, abweisend, als wäre sie in einer fremden, ungewohnten Umgebung. Sie offenbart sich nicht, sie ist /„reserviert"\— ja das ist das richtige Wort! ^Tte^h'at nicht den Wunsch, erkennbar zu sein und nicht den Trieb in sich.,_sich_pxeis-zugeben. . . Aber man darf das nicht etwa „rätselhaft" oder „dämonisch" nennen. Da würde ihr Malenski unrecht tun. So ist es nicht. Denn sie ist ja wiederum nur eine Frau wie alle anderen Frauen, gegenwärtig und ohne gespielte Gewichtigkeit. Sie ist kein weltfremdes Wesen, keine Träumerin, die irgendwelchen Phantomen nachjagt. Sie ist, im Gegenteil, vielleicht eher das, was man „praktisch veranlagt" nennt. Eine Frau wie jede anderel.Aber es scheint oft, als wäre diese|]Sachlichkeitj von einer leichten, nicht zu überwindenden Erbitterung beschwert, 88 89 als wäre dieser praktische Sinn in Wirklichkeit nicht gefühlt, nicht echt, als wäre es nur eine Möglichkeit, sich zu betäuben, über die Tage hinwegzukommen. So sind viele Frauen . .. Sie ist nicht eitler als andere — vielleicht ein wenig empfindlicher — und sie würde dieser Eitelkeit wegen gewiß nie den Kopf verlieren. Davon ist Heinrich überzeugt. Sie ist auch nicht leichtsinnig, nein, eher sparsam, oft beinahe knauserig, und sie verteidigt manchmal ihrRecht miteiner fast fanatischen Energie. Sie ist ja eine Kaufmannstochter . .. Aber ihr Verständnis und ihr zeitweise offenbartes Interesse für alle geschäftlichen Dinge ist begrenzt. Gleichsam frei von jedem Einfluß des persönlichen Erlebens. Beruf ist so viel wie Geldverdienenwollen.. . Darin ist sie eben anders als Malenski und darin verstehen sie einander nicht. Ein Geschäftsreisender kann nicht zur Maschine werden, kann nicht reiner Zweckmensch sein. Könnte er es denn sonst durchhalten, jahraus, jahrein den Strapazen zu trotzen? Er lebt ja von der Verbindung mit Menschen, von Zufällen, er erlebt gewissermaßen seine Geschäfte, und er erlebt sie so eindringlich, wie bedeutendere Menschen bedeutungsvollere Abenteuer erleben . . . Heinrich würde gern und oft erzählen — es kann ja nicht uninteressant sein, in seine Welt Einblick zu nehmen — Adele nimmt nicht Anteil. Wenigstens scheint es so. Viel leicht begreift sie es nicht, begreift es nicht, wie so manches, was Heinrichs Gedanken und Gefühle in Bewegung bringt. . . # Wechselvoll, bunt zieht alles durcheinander. Erinnerungen nehmen gefangen, benebeln den Sinn, und dann reißt wieder die Wirklichkeit zur Besinnung. Manchmal aber hebt man kaum die Augen. Ein grauer Novemberregen setzt sich an die Scheiben . . Doch hält das ja nicht ewig an. Man fährt weiter — eine kurze Strecke —, die Wolken teilen sich, es wird licht und blau, aus der Landschaft tauchen die Häuser auf, die Dächer blitzen und die Kaufleute sind fröhlicher gestimmt, weil die Straßen wieder belebter werden. . . Es gibt Gutes und Böses auf Erden. Man muß das Erfreuliche nur suchen. Man muß daran glauben. Auch ein Geschäftsreisender soll in diesem trüben Zeitablauf den Sinn für das Schöne, für das Höhere, das Angenehme nicht ganz unter-graben. Soll nicht melancholisch werden, wenn es eine Woche lang nicht recht klappen will, wenn die Geschäfte wie durch ein Verhängnis abgeschnitten scheinen .. . 90 91 4<\4Z Lrebeslie- In den Gasthöfen geht es bisweilen lustig zu. Man sitzt zu zweit oder dritt bei Bier oder Punsch, raucht, spielt Karten, erzählt kleine Begebenheiten, Witze und Anekdoten . . . * Malenski ist kein Spiel- und Spaßverderber. Das dürfte auch Adele nicht behaupten. Petro-mdes ist gewiß schwerer aufzurütteln als er . . . Gewiß: Malenski ist sparsam. Mit den scharf bemessenen Reisediäten kann auch ein anständiger Vertreter, der nicht in Schulden geraten will, keine Sprünge machen. Aber ein Geizkra-gen^ist er nicht! Bestellt nicht Käse mit Butter zum AbendessenVjSagt nicht, wie es manche tun: „Ich darf vor dem Schlafengehen keine FleisjQhspeisen essen — Ober! zwei kernweiche Eier!'1 — Nein, das tut er nicht. Er genehmigt sich mitunter ein Kompott nach der Mahlzeit und — wenn er Lust dazu verspürt —■ ohne weiteres noch ein Extra-Gläschen Wein. Man darf nicht engherzig sein: Malenski liebt Musik — er wiegt sich gern in ihre Melodien ein, schlägt den Takt mit — und deshalb läßt er auch die Musikanten leben, täuscht nicht Eile vor, wenn er an dem Teller vorübergeht. .. Er hat eben auch Sinn für derlei Dinge. Ein Lied gefällt ihm besonders gut. Es macht traurig. Aber es erhebt. „Ich wandle wie im Traum einher," beginnt es. Es ist eine weiche, süße Weise, die zu Herzen geht. Das können keine guten und vollkommenen Menschen sein, die den Sinn für das „Ideale" nicht begreifen wollen, sich ewig im Geschäftskreis drehen, Heil und Unheil nur in den Aufträgen der Kunden sehen und alles überlegentuend belächeln, was scheinbar sinnlos ist und keinen Nutzen bringt... Viele Geschäftsreisende sind so. Die meisten. Aber Malenski kennt seine Pflicht zur Ge-nüge. Weiß, daß er da ist, um Geschäfte abzuschließen, daß Verantwortung auf seinen Schultern lastet und daß nach der Weltordnung, wie sie nun einmal ist, jeder, der^pe^g4,verursacht, sich auch bemühen muß, sie wieder einzubringen. P«<;h lebt man ja nur einmal, ein einzig es-mäl!Bnd stündlich kann man abberufen wer-de^FWeiß man denn, ob man erwachen wird, wenn früh der Hoteldiener an die Türe klopft? Malenski hat eben auch neben den geschäftlichen Interessen — so nannte es Petronides einmal — ein „Privatgemüt". Ist das ein Fehler? Er ist eben so. 92 93 Vielleicht hat er deshalb vor Jahren so innige Freundschaft mit Florian geschlossen . . . (Floriaij vom Lager! Waren das nicht nette, amüsante Stunden? Dieser Florian war ein ungewöhnlich begabter junger Mann. Tagsüber war er schmutzig, ungewaschen, aber nach Geschäftsschluß holte er sein Rasierzeug hervor, wechselte den Anzug und war ein Kavalier. Während der Arbeitszeit spannte er seine Straßenhosen in einen Rahmen ein und mit einem Lappen putzte er seine Lackstiefletten. Ein Seidentüchlein sah ihm aus der Brusttasche ... In seiner Nähe roch es nach Haarpomade — und wenn der Buchhalter ins Magazin kam, hielt er sich die Nage zu —, aber Florian war wirklich ein adretter, nlonder Junge mit hellen, fröhlichen^ugen im runden Gesicht. Wenn der Chef eine Stunde früher als sonst „Gute Nacht" wünschte, oder im Sommer, wenn er an die See fuhr, dann versammelte sich das Personal im letzten Magazinraum und dann sang Florian Lieder und Couplets . .. Ganze Operetten konnte er auswendig hersagen, singen und erläutern, jede einzelne Rolle 94 f — besonders die des Tenors — hatte er durchstudiert . .. Seine einfühlende Art gab den Texten sinnvolle Bedeutung. Die innere Erschütterung übertrug sich auf die Hörer. Eines der Couplets _ liebte Malenski ganz besonders. Es begann mit den Versen: „Das Schicksal zupft uns oft am Ohr, So vieles kommt uns spanisch vor!" und endigte im Refrain: „Tanze nur, Stella, glutäugigc Stella, Tanze noch einmal die Tarantella, Schwing dich im Kreise L fj^.0^„| Spanischer Weise, Links herum, rechts herum, Wbb ist denn dahei?!" Seelenvoll zitterte bei den hohen Tönen seine Stimme .. . Zweimal wöchentlich erwartete ihn im Haustor gegenüber ein junges Mädchen. Sie hieß ^Jert£j) und hatte gute blaue Augen. Er zog den Hut7küßte ihre Hand und sah sie lange an . . . „Werden Sie sie heiraten?" fragte Heinrich einmal. „Ich weiß es nicht. Es liegt in der Zukunft. Ich liebe sie leidenschaftlich und sie vergöttert mich. Aber ich bin nicht im klaren. Der Him- 95 I mel ist noch nicht offen. Es ist noch nicht das Eigentliche. Wenn ich mich für ewig binden soll, dann muß es wie im „Liebeszauber" eine ganz große, eine gewaltige Liebe sein. Ich warte .. . Ich fühle es kommen. Vielleicht wird es Berta sein. Übrigens ist ja mein Gehalt noch zu niedrig!--" Florian war zwar jung — kaum zwanzig Jahre alt — aber er hatte selbst in Anbetracht dieses jugendlichen Alters, ein viel zu geringes Einkommen. Er avancierte nicht. Er arbeitete eben nicht verläßlich . .. Wenn er sich unbeobachtet glaubte, las er in Textbüchern und Romanheften. Dann schwirrte ihm der Kopf, er vertauschte die abzusendenden Warensorten oder expedierte an falsche Adressen. Auftritte waren an der Tagesordnung. Oft schrie ihn der Chef an: „Kein Wunder! Sie denken ja an andere Dinge!" Es stimmte. Dieser Florian dachte wirklich ÄJtoAfV an andere Dinge. Zum Theater wollte er. Das war seine Sehnsucht. . . „Ich liebe die Kunst — sie ist mein Lebensinhalt," sagte er, „ich möchte zur Operette!" Er glaubte an seine Begabung. Felsenfest. Und er verstand es so gut, nach einem Theaterbesuch, den Inhalt eines Stückes nachzuerzählen, so plastisch, daß man das Empfinden hatte, selbst im Theater gewesen zu sein ... „DasTheater, meine Herren," meinte er, „sehen Sie, das Theater, das ist die Oase in der Wüste des Daseins. Das ist das himmlische Wunder auf dieser sonst so wunderlosen Erde. Seit drei Jahren konsigniere ich nun diese Kurzwaren, assortiere die Kollektionen. So ist das Leben! Aber das ist nur das scheinbare Leben. Glauben Sie mir, meine Herren, es gibt noch eine höhere Welt, eine bessere Welt. Ich will und werde in sie gelangen!.Noch ist es Hoffnung, noch ist es Traum, doch — er kann in Erfüllung gehen. Und wenn es heute unter den so traurigen Verhältnissen für einen armen Kommis nicht leicht wird, dieser besseren Welt ganz und bedingungslos anzugehören — das Theater gibt uns die Illusion, das Theater ist die Fata Morgana, vor der wir in die Knie sinken, das Theater ist das Elysium. Wir sind wie ausgemergelte, gequälte Gäule, die sich ewig im Kreise drehen. Wenn das Leben ein Theater ist, so sind wir nur Statisten. Aber einmal, einmal: da kommt der große Tag! Da trete ich vor meinen Chef hin, nehme mein Gehalt und sage: Oh revoar, Mosiö, ich habe ein besseres Engagement!" --- So war Florian. In allem konnte ihm Malenski nicht beistimmen. Aber ein wenig verehrte er ihn. Es ist 96 97 i doch schöa und bewundernswürdig, wenn sich ein Kojnjjys von der Tretmühle des Alltags nicht zermür^eji läßt.. . An sich und seine Ideale glaubt. .. „Ich habe eine Bitte," sagte Florian eines Nachmittags, „ich muß heute abends unbemerkt verschwinden. Wenn Berta kommt —sagen sie einfach: ich sei nicht hier. Oder: ich sei verreist. Es ist einerlei. Sie muß nicht warten." „Was ist denn los?" wollte Heinrich wissen, „Sie sind ja so unruhig." Florian wurde geheimnisvoll: „Pssst! Großes ijno. bereitet sich vor! Ich habe eine andere! Ich lie-be . . . Ach, das ist nicht mehr Liebe allein. Das V große Erlebnis ist da!!" „Ist sie schön? Schöner als Berta?" „Schön? Nein! Sie ist herrlich! Eine Göttin! Eine wahrhaftige Venus!" „Blond oder schwarz?" „Tiefschwarzes Haar! Eine Göttin — Augen! — Unbeschreiblich!" „Jung?" „Jung. Und Hände, so zart und weiß, wie hier dieses Papier." „Kontoristin?" „Nein!" „Sondern?" „Ich darf es nicht verraten. Niemals!" Heinrich drang nicht weiter in ihn. Aber am nächsten Tage kam Florian wieder: „Waren sie schon einmal im ffiaxim'?" Nein, dort war Heinrich noch nie gewesen. Ein Lehrling kann sich solche Ausflüge nicht leisten... „Zahlt man dort Eintrittsgeld?" „Nein! doch hören Sie: dort ist sie!!" „Wer?" „Die Herrlichste von allen!!" „Die Venus?" „Ja!! „Was tut sie dort?" „Sie ist — Sie sollen es erfahren — sie ist Chansonette!" „Was ist das?" „Sie singt Lieder. Sie singt hinreißend. Aber ich will ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Schwören Sie, keine Silbe zu verraten. Es könnte fürchterliche Folgen haben. Sie sind der einzige MengcJiauf Erden, den ich einweihe. Hören Sie:Qlon£y— sie heißt Ilona — ist gar nicht Chansonette „Wie ist das möglich?" „Alles ist möglich. Ich halte nichts mehr für unmöglich. Das große Erlebnis lag in der Luft. Jetzt ist es gekommen. Mein Schicksal nimmt eine bedeutsame Wendung. Sie ist — kein Mensch darf es erfahren —, sie ist in Wirklichkeit Komtesse, die Tochter eines Grafen von 98 99 I J yjjilftntinrst. die aus dem Hause geflüchtet ist, um der ewigen Gefangenschaft in einem Kloster zu entgehen. Noch vor wenigen Wochen wohnte sie auf ihrem Erbschloß. Aber die grausame Härte des Vaters hat sie veranlaßt, sich einen eigenen Weg zu bahnen. Dieser alte Graf muß ein grauenvoller Tyrann sein. Die Arme, sie hat Unsägliches erleiden müssen. Nun kam sie mutterseelenallein in die Stadt, sie, die sich früher nie ohne Gouvernante zeigen durfte, sie mußte tagelang durch die Straßen irren, immer von der Angst gejagt, erkannt zu werden und ohne zu wissen, was sie eigentlich beginnen, wie sie sich helfen konnte. Zu ihrem Glück erinnerte sie sich, daß sie zu Hause, wenn sie allein war, oft kleine Lieder gesungen hat, die sie im Schweizer Pensionat, wo sie erzogen wurde, heimlich gehört und erlernt hatte. Das kam ihr nun zugute. Sonst wäre sie verhungert. Jetzt steht sie fast ohne Geldmittel da — ich habe ihr nur notdürftig aushelfen können —,aber später einmal, da wird sie viele, viele Millionen erben. Sie sagt es selbst." „Sehen Sie sie täglich?" „Ich könnte sie täglich sehen. Aber Sie wissen: mein kleines Gehalt — es ist nicht billig dort! Wir könnten einander ja anderswo begegnen, aber das geht nicht, das geht auf keinen Fall!" „Warum nicht?" 100 „Das hat gute Gründe. Es ist eine geheimnisvolle Geschichte, die mitspielt. Eine aufregende Geschichte, die gefährlich werden kann. Ein Freund des Vaters ist noch da, ein alter, scheuß-licher Wüsümg, der sie schon lange bedrängt. Sein Schloß grenzt an den Besitz ihres Vaters, er ist unermeßlich reich, er will sie heiraten und der Vater wünscht die Verbindung. Aber sie wehrt sich mit aller Leidenschaft dagegen, ihre Unschuld diesem Männczu opfern. Sie heiratet nur den, den sie wirklich liebt. Sie will sich selbst entscheiden, sich selbst auswählen dürfen. Deshalb ist sie entflohen. Nun wird sie verfolgt und — es wäre entsetzlich! — man könnte sie finden, obwohl sie unter einem falschen Namen lebt. Nur im ,Maxim' fühlt sie sich sicher, dort kennt man ihre Abstammung nicht, dort sucht man keine Gräfin ..." „Das geht ja wie in einer Operette zu," sagte Heinrich erschüttert, „aber wird das nicht böse enden?" Florian seufzte: „Ich liebe sie . . Verträumt blickte er aus dem vergitterten Wochen vergingen. Florian kam öfters zu spät ins Kontor. Arbeitete nachlässig. Es hatte ihn gepackt. Kreideweiß war er im Gesicht. 101 i Einmal lief er im Hof auf und ab, drehte seine Haarlocken. „Florian! Was ist mit Ihnen?" fragte Heinrich? „Sind Sie bei Sinnen?" „Ich bin es noch. Noch! Bald werde ich es nicht mehr sein. Fürchterliches hat sich ereignet." „Kann ich Ihnen helfen?" „Nein! Es dröhnt mir im Kopfe. Doch ja! Sie braucht Geld! Viel Geld! Dringend!! Können Sie mir einen kleinen Betrag leihen?" „Wieviel?" „Soviel Sie entbehren können." Malenski lieh es ihm. Er hätte es vielleicht nicht tun sollen — es war ein Leichtsinn! — aber man hat eben in solchen Fällen oft nicht die Kraft, Nein zu sagen . . . Das Geld war weg. Auf Nimmerwiedersehen. Denn bald darauf kam die Katastrophe, der dramatische Höhepunkt: Florian war davongelaufen, durchgebrannt, und mit entsetzten Augen stand Faßland senior im Magazin und nahm die Warenbestände auf. Es wurde spät — eigentlich war längst Geschäftsschluß — aber je später es wurde, desto größer wurde dasDefi-i_zitund gerade in dem letzten, kleinenTLagef-raum, mit den vergitterten Fenstern, dort, wo Florian so oft gesungen hatte, dort fehlte am meisten und dort brach der Chef jammernd 102 zusammen, griff sich an den Kopf und schrie immer wieder: „Wer hätte das diesem Florian zugetraut? — dieser Betrüger!!" Es war aufregend! Man darf nicht rachsüchtig sein. Dem Gerichtsverfahren, das eingeleitet wurde, hat sich Malenski nicht angeschlossen. Es hätte auch wenig genützt. Ein schlechter Mensch war er ja nicht, dieser Florian. Wohl nur leichtgläubig. In seine romantischen Wünsche verstrickt.. Jahre später — es war an einem dunklen Winterabend — kam Malenski in ein kleines Landstädtchen. Im Hotel kein Kollege zu sehen ... Was tut man am Abend? Eine Ankündigung: „KabarettvorStellung — das bekannte Künstlerpaar — einmaliges Auftreten ..." — Es war Florian und seine „Com-tesse"! . ' ■ Er sah ein wenig verkommen aus, der Sänger vom Magazin, auch seine Stimme klang nicht mehr so hell und einschmeichelnd wie einst. .. Er hat sich getäuscht. Es geht eben im Leben nicht immer wie in Operetten zu. Er hätte verständiger sein müssen ... 103 VII. Das ist der Weg, der zum Ziele führt: man geht, läuft, zwängt sich durch, versucht dies und das, hat seine Pläne — alles ist Zufall. Zufälle regieren. %L$l Das ist natürlich nicht ganz zutreffend. Man **yflJ*' ■ darf die Kraft nicht unters chätzenj die sich durchringt, die die Zweckdienlichkeit einer Handlung erkennt, Erfahrungen sammelt und sie anzuwenden weiß. Wie oft bedauert doch Heinrich Malenski, daß er nie Zeit finden konnte sich fortzubilden, fremde Sprachen zu erler- ^ß^^l nen, oder Chemie, oder sonst eine Wissenschaft. — Vielleicht könnte er heute kluge Bücher lesen, Vorträge besuchen und mit studierten Leuten debattieren . .. Kenntnisse werden immer gewürdigt. Er selbst hatte ja auch das Avancement bei Faß-land seiner besonders schönen Handschrift zu verdanken. Jetzt kommt es allerdings nicht auf die Handschrift an. Ob die Aufträge kalligra-phiert sind oder nicht — einerlei, wenn sie nur eine namhafte Summe ergeben ... .Ein Reisenderl^Das scheint etwas ganz Vulgäres zu sein, eine Dutzenderscheinung, ein Sinn-bild der Nüchternheit. Für ihn aber war es ein Inbegriff der Macht. Ein Reisender — oh der hatte Nimbus, Persönlichkeit! — Auf seiner Beliebtheit, auf seiner Routine basiert das ganze Unternehmen. Seine Stärke drückt sich real in Ziffern aus. Von seiner Tüchtigkeit lebt der Chef, leben die Angestellten, von seinen Verdiensten wird die Regie und der Haushalt bestritten. Wenn er zum Wochenende grüßend das Chefzimmer betritt, den Reisestaub abschüttelt, das Orderbuch aus der Tasche zieht und die perforierten Kopien herausreißt, greift der Chef gierig zu: „Wie ist es Ihnen ergangen?" — Nein, das ist keine harmlose Frage und Phrase! „Wie ist es Ihnen ergangen?" —■ das heißt so viel wie: „Wie ist es mirergan-gen?"-- Von alledem weiß Petronides nichts. (Petro-ranfe5}arj3eitetv nur von Fall zn Fall. Seiner passiven Art widerspricht es, dienlich zu sein, um sich durchzusetzen. „Ich kann nicht wie ein Bürger leben," sagt er „ich esse kein Menu und ^ertrage keine Regelmäßigkeit." Das ist verständlich. Denn der Teppichhandel ist ja auf Gelegenheiten angewiesen: Ver- 104 105 i kaufe in Schlössern, Todesfälle, Zufallskäufe und besondere Umstände. Dazwischen wochenlange Pausen. „Dieser unentwegte Daseinskampf ohne Attraktion ist nur Feigheit, Angst vor dem Risiko des Lebens" —- Petronides wirkt bisweilen unheimlich in seiner eisernen Art, die Dinge beim Namen zu nennen . .. Bewundert ihn Heinrich? ArewiU nicht, £r fühlt nur einen weltengroßen Abstand zwischen sich und ihm. Petronides ist nicht zu fassen, hat keinen schwachen Punkt. Petronides ist höflich. Beinahe verletzend höflich. Kalt und formell. Als man ihn kennen-lernte7 da sagte ja auch ^Adelej „Mit diesem Petronides möchte ich nicht wieder zusammenkommen . .." Es war der erste Eindruck. Damals hatte ihn Malenski verteidigt, in Schutz genommen: Man darf Menschen nicht so ohne weiteres verurteilen .. # Heinrich Malenski urteilt nicht voreilig . . . Verurteilt nicht nach einem Eindruck, den er nicht gründlich nachgeprüft hätte. Er ist auch nicht hartköpfig. Und wenn er ungerecht sein könnte — er ist es nicht!—,so könnte er es nur gegen Schnapsreisende sein, gegen diese Bürsch-chen, denen er so aufregende Dinge verdankt.. 106 Dieser Rapper z. B. — er ist seit Jahren asthmatisch und reist nur noch unregelmäßig — rückt jetzt scheu zur Seite, wenn Malenski ihm begegnet. Er merkt den Widerstand. Er soll ihn merken! Und Prix und Nickel sind nicht besser! Eine Warensorte. Einer wie der andere! • Es ist nicht Redensart, wenn man die alten Zeiten lobt. Das kann nur ein älterer Reisender, der noch beschaulichere Tage sah, beurteilen. Heute arbeitet man nicht in Ruhe. Man jagt von einem Kunden zum anderen, gierig, als würde einem durch ein Geschäft ein zweites P_ verloren gehen, man dreht und windet sich im Höllenkessel des Betriebs, in den man sich stur-zen muß, in den man mitgerissen wird. Kommt nie zur Ruhe. Nie . . . An dieser neuen Zeit starb auch der alte Grab. Gottlieb Frischer! Und Lazarus Grab! So hießen die beiden Reisenden, die als Vorgänger Malenskis das Haus Faßland in der Provinz vertraten. Das waren Männer, die man achten durfte! Ihnen Dienste zu erweisen, sie zu beobachten, mit ihnen sprechen, zu dürfen, war für^ Malenski ein Vergnügen von besonderem ReiafTT. 107 Gegensätze in scher, groß, stark, stattlich, mit harthaarigem, vollem schwarzen Schnurrbart, ein Mann in den besten Jahren, ein Mann von Welt, ein Mann, dem man nicht widerstehen konnte. Immer ^riihiichj_von Lebensmut und, Siegeswillen erfüllt, leuchtete sein kräftiges, schneeweißes Gebiß, von einem Goldzahn unterbrochen, hoffnungsfroh auch in den geschäftslosesten Zeiten. Seine blendende, schlagfertige Art zu sprechen, belebte, animierte. In tausend kleinen Geschehnissen entrollte er die Abenteuer seiner Reise. Man glaubte ihm. Man glaubte ihm Dinge, die man nicht jedem geglaubt hätte. Bewunderte ihn. Bewunderte seine Einfälle und Ausfälle, die Darstellung seiner pfiffigen Tricks — man sah förmlich, wenn er ins Erzählen kam, wie er die Kunden um den Finger wickelte. Ein Meister der Anekdote I „Haben Sie schon den neuesten Witz gehört?" fragte er und zog sein Notizbuch aus der Tasche, in dem er alle Scherze eingetragen hatte: — man lachte Tränen! Seine Reiseberichte waren prägnant und anschaulich, seine Vergleiche treffend und humorvoll zugleich. Gewisse Wendungen bevorzugte er. Seine Sätze eröffnete er gern mit den Worten — wobei er jedes einzelne Wort betonte —: „Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube," — oder: „Ich erkläre dezidiert" und „ich bin kein Universitätsprofessor, aber mein gesunder Menschenverstand sagt mir klar . . ." Lebenserfahrung sprach aus ihm . .. # „Ein Geschäftsreisender und eine Primaballerina," sagte Herr Frischer: „— kein Un-terschied! Beide dürfen nicht alt werden!" Eine frivole Behauptung, die kraß die Unfähigkeit seines Kollegen Grab als Geschäftsreisenden charakterisieren sollte. Man müßte jahöhnische Bemerkungen dieser Art verurteilen: aber,man mußte sie in diesem Falle — wenigstens teilweise — begreiflich finden , . . A/c(fV)C Denn Herr^azarus Grab) das Gegenstück, war eine wahrhalt traurige Erscheinung. Er hinkte. Und er hinkte seiner Zeit nach. Gleich-sam einem Versehen der Weltordnung hatte er sein Noch-Dasein zu danken. Was konnten es für Gründe sein, die ihn bewogen, dies bißchen Lebenskraft so ängstlich zu hüten undweiterzu-schleppen? „Warum," so fragte Herr Frischer jedesmal, wenn der Greis die Tür hinter sich geschlossen hatte, „warum geht dieser Mann nicht endlich in Pension? Er setzt doch schon Moos an wie ein alter Teichkarpfen." Aber Lazarus Grab wollte seine Reisetätigkeit nicht aufgeben. Vielleicht fürchtete er, zu 108 109 sterben, wenn er seine Lebensführung andern müßte. Und man ließ ihn gejJv^Kgg; „Aus Gnade und Barmherzigkeit!' wie Herr Faßland dreimal wöchentlich versicherte ... Es war ergreifend, was dieser Mann an De-lütigung ertragen mußte und ertrug. oft er von einer Geschäftsreise zurückge-kehrtNKar, ging der Tanz los: „Herr!!" brüllte ihn der Chef an, .„Sie verstehen vom Geschäft ^OTiigrpr als ich von Astronomie! Wenn ich meinen dreijährigen Neffen in die Welt schicke, wird er brauchbarer sein als Sie! Ein feiner Repräsentant! Herr!! Warum verkaufen Sie nicht gebratene Maroni an der nächsten Straßenecke? Trocknen Sie doch zu Hause Äpfelschalen oder sammeln sie Streichholzschachteln aus allen Ländern, statt in der Provinz mein gutes Geld auszugeben! Ihre Aufträge sind nicht wert, in ein Vormerkbuch eingetragen zu werden. Schade um Tinte und Papier! Sie verkaufen ja doch nur das, was nicht vorrätig ist, und selbst wenn es vorrätig wäre, könnte man es zu solchen Schandpreisen nicht liefern!" Eine traurige Erscheinung. Lazarus Grab hatte schwache Augen und konnte die Lagerliste nicht lesen. Auch zitterten die Hände, wenn er den blauen Orderbleistift hervorholte. Und wenn er — das wußte man — in gebückter Haltung, humpelnd, einen Kaufmannsladen betrat, so war es, als ob das Unglück einziehen würde: die Kunden wurden mißmutig, geschäftsüberdrüssig und die wenigen Freunde, die ihm aus glanzvolleren Tagen geblieben waren, genügten nicht, seine Tätigkeit rentabel werden zu lassen .. Tragisch und doch zum Guten! Das Leid des einen ist die Hoffnung des andern. Nicht ohne Ehrfurcjit, sah Heinrich in dieses verwitterte Gesicht. ,So schaut das Ende aus,* dachte er, ,däs ist der Rest, das Fazit: ein Bündel Knochen von Husten geschüttelt' . . . Warum ist das so? Einer wird alt, zu alt, und dann geschieht das, was wohl das Schwerstzuertragende ist: er darf nicht mehr in die Zukunft schauen. Seine Tage sind gezählt, aber selbst die gezählten Tage sind den anderen zur Last. .. Tragisch und doch zum Guten! Seltsame Zusammenhänge .. . es war ein Erlebnis. Und es bestimmte Malenskis Schicksal... Ein Tag war es, aber kein gewöhnlicher Tag, ein denkwürdiger Tag, ein Sonntag, im Mai, und ein Sonnentag dazu. Alles schien aufgeräumt. Die Häuser blank. Wie frisch getüncht. Und die Menschen freundlich, friedlich, ohne _Eile...... J 110 111 Heinrich ging damals am Maltheserplatz/auf und ab .. . ^--— Er ging dort oft Sonntag vormittags spazieren, weil er in dieser Gegend Herrn Faßland zu begegnen hoffte und es ihm Vergnügen bereitete, seinen Chef außerhalb des Geschäftes zu grüßen . . . " Wie aber kam er denn in den „Grünen Kranz"? L- Wie war das? Er wollte ja Herrn Faßland begegnen . . . Da muß man die Augen offen halten. Wenn der Chef mit seiner Gattin aus dem Hause tritt, muß man schnell die Schritte verdoppeln, sonst wird die Absicht auffällig. Es soll ja den Anschein erwecken, als ob Malenski nur so zufällig hier vorüberkäme ... Wie kam er in den „Grünen Kranz"? Er geht auf und ab. Und w^rjäuftihm in die Arme? Bill! Das ist ja Bill,(gelix BiTjt, ein einstiger Mitschüler, ein Jugendfreund, ein Spielkamerad aus der Heimat... „Servus, Bill!" „Servus, Malenski!" Händedruck. „Wie lange haben wir einander nicht gesehen?" „Acht Jahre! Stimmt es?" „Wie geht es dir?" „Danke! Und dir?" „Danke!" Man ist ein wenig verlegen. Man ist immer verlegen, wenn man einem guten Bekannten nach Jahren wieder begegnet. . . „Ich habe dich gleich erkannt!" „Ich habe dich auch gleich erkannt." Viel hätte man sich gegenseitig zu erzählen. Aber der Anfang ist nicht leicht.. „Was tust du?*^y „Ich bin Kontorist." „Bei?" „A. Faßland und Sohn." „Gutes Haus!" „Wohin gehst du?" „Komm mit!" „Bist du auch Kontorist?" „Nein, ich bin Subvertreter in einer Parfu- meriewarenfirma. Komm mit!" Heinrich ist unsicher: „Wohin willst du gehen?" „Begleite mich!" „Ich kann nicht, ich bin verabredet!" „Komm! Einmal in acht Jahren sieht man dich und schon machst du Späne! Netter Freund! Komm! Ich muß dir etwas erzählen. Also: seit sechs Monaten, seit ich hier bin, kom- 112 113 me ich jeden Sonntag Vormittag in die Kasinostube. Nicht vier Paar Pferde bringen mich wieder hin! Selbst wenn die Zeche gratis wäre. Höre: ich war soeben dort. Man sollte es nicht glauben. Ich trete ein, setze mich, bestelle ein Bier — ich will dich nicht lange auf die Folter spannen: das Bier hat einen Beigeschmack, einen Stich! Ich zucke nicht mit der Wimper, ich rufe den Ober, ich sage: „Herr Ober, ich möchte jedes Aufsehen vermeiden, tragen Sie das Bier diskret zurück!" — Ich liebe keine Auftritte, ich sage ruhig: „Herr Ober! tragen Sie das Bier diskret zurück, das Bier hat einen Stich!" — Was glaubst du sagt er?" „Nun?" „Unmöglich!" sagt er. —- Ich bleibe weiter in den Grenzen des Anstandes, ich sage: „Ober! rufen Sie den Wirt!" — Der Wirt kommt: „Pardon," sage ich, „es ist nicht meine Art, andern Menschen das Geschäft zu erschweren, aber: dieses Bier hat einen Beigeschmack, ich bitte, nehmen Sie es zurück!" Was glaubst du geschieht? Das ist das Unglaublichste, was ich je erlebt habe: der Wirt sagt: „Mein Herr," sagt er mit süßlicher Stimme, „das ist ganz ausgeschlossen, ich nehme das Bier nicht zurück, das bin ich dem Renommee meines Namens schuldig —■ wenn Ihnen bei uns das Bier nicht schmeckt, so — vielleicht nicht bei Durst — vielleicht ein anderes Lokal — Ergebenster Diener!" Ist das zu glauben? Diese Unverschämtheit! — Malenski! wir haben einander jahrelang nicht gesehen, aber du kennst mich: bin ich ein Querulant? Ja oder nein?" „Du warst es nie," sagt Heinrich und Erinnerungen schwirren ihm durch den Kopf. Felix Bill war vielleicht immer zu temperamentvoll gewesen... „In der Kasinostube sieht-man mich nicht wieder. Von heute ah gehe ich in den „Grünen Kranz"! Erstklassig dort! Prima! Komm mit!" Malenski ging mit. Es war entscheidend. y»IJr CT Im Haustor ist ein Ausschank. Eine Menge Leute lungern dort herum. Man hat Mühe sich durchzuwinden ... Der Riesensaal ist überfüllt: — „Achtung! latz da!" — An einem Ecktisch sind noch Stühle frei — mein Gott, zwei Tische weiter sitzt doch Herr Lazarus Grab!.. ■ Felix Bill ist verschwunden. Im Gedränge .. . „Guten Tag, Herr Grab! Sie hier?" Herr Grab blickt auf. Er sieht hier noch klei- 114 115 ner und hilfloser aus, als im Kontor. Ganz zusammengeschrumpft. „Darf ich an Ihrem Tische Platz nehmen?" — Malenski verbeugt sich höflich. Der Alte ist verträumt. Die Gesellschaft kommt unvermutet. „Aber gewiß, gewiß junger Herr!" Er reicht die Hand, versucht aufzustehen: „Bitte, bitte nehmen Sie Platz, bitte . . ." „Sind Sie immer Sonntags hier, Herr Grab? Warum wählen Sie gerade dieses Lokal?" „Ja, ja" — Herr Grab tut einen Schluck, das kleine Gesicht verschwindet fast im Glas und über den Rändern ragen die verwelkten Ohren hervor... „Ich gehe jeden Sonntag in dieses Lokal. Schon in den Siebzigerjahren habe ich hier meine freie Zeit verbracht. Damals war der ,Grii-ne Kranz' natürlich viel kleiner als er heute ist. Und nicht so lärmend. Aber ich bin eben hier geblieben; alles ist Gewohnheit. Vor fünfzig Jahren bekam man hier Suppe und Fleisch für einen Pappenstiel. Die Zeiten haben sich geändert, sehr geändert! Damals war ich Lehrling bei Veit Philipp Huth . .." „Dieses Haus besteht wohl heute nicht mehr?" fragt Heinrich interessiert. Er kennt doch sonst alle Konkurrenzfirmen. 116 „Ja, die sind schon lange tot. Ein Enkel des Huth lebt irgendwo im Norden." „Herr Grab! Warum sieht man Sie denn eigentlich nie im Cafe ,Merkur'?Herr Frischer ist doch auch döfr-fTV*^' „Herr Frischer!" Der Alte wird lebhafter. „Herr Frischer! Der gehört ins Cafe ,Merkur'! Der kennt ja solche Kaffeehäuser von den Ge-schäftstouren. Der ist dort zu Hause. Das ist nichts für mich... Glauben Sie-mir, junger Herr: ich möchte gern auch Sonntag draußen bleiben, aber Herr Faßland lehnt es ja ab, mir für diesen Tag die Reisespesen zu vergüten. Da kann man nichts tun! Aber Herr Frischer — was machen die noblen Herren? — spielt ^^Zhjkjp^ulka! Davon hält ihn keine Pflicht ab! Ich rühre Keine Karte an. Habe es nie getan. Aber: wenn man statt Montag erst Dienstag wegfährt und die Daten der Briefe an die Firma fälscht, kann man sich schon sölcKe~Passio-1J(^nen erlauben." Herr Grab zieht ängstlich die Schultern hoch: „Junger Herr, ich rede da zuviel. Ich weiß ja nicht.. . Sie werden doch nicht weitererzählen, was ich da gesprochen habe, Sie werden mich doch nicht verraten, junger Herr? Ich will keinen Verdruß haben . . . Mit niemandem . . . Habe schon genug Verdruß im Leben gehabt. . ." „Gewiß nicht! Ich rede kein Wort. Übrigens: 117 I Herr Frischer ist mir gar nicht sympathisch" — Heinrich lügt hier. Er will den Alten beruhigen. „Ich glaube auch, daß er bei der Kundschaft nicht beliebt ist." „Kunststücke, nichts als Kunststücke! Die Leute einsalzen, ihnen Honig^mis Maul schmieren, sie vergewaltigen —'ja, aas bringt jeder fertig. Aber ein gpsundes Geschäft basiert auf stabilen Kunden! Feste Kunden, treue Kunden, Freunde, mit denen man rechnen darf. Herr Frischer! Große Geschäfte! Das kann nicht gut enden: — wenn ich Chef wäre, ich hätte nicht den Mut, so große Beträge an rostige Nägel zu hängen. Es ist unkaufmännisch, es ist ein Wahnsinn — glauben Sie mir, junger Herr — ein heller Wahnsinn, piti snTr»hes Risiko einzugehen. Ein alter Wahrspruch sagt: „Kauft einer leicht, sei auf der Hut, kauft einer schwer—der Mann ist gut."-- Herr Grab atmet hörbar. Die rotumränderten Augen sind tränenfeucht. In der Mundhöhle wird mitunter ein großer, gelber Zahn sichtbar. Das faltige, ßegetbte Gesicht zieht sich zusammen. Er kaut unausgesetzt, als ob er essen würde . . . ,Er muß den breiten Mund immer in Bewegung halten,' denkt Heinrich. — ,AUe Geschäftsreisenden haben einen breiten Mund. Ein Reisender braucht den Mund, er ist sein Werkzeug . . .' " '-- 118 „Wie alt waren Sie, als Sie zum erstenmal auf Reisen gingen?" „Sechzehn Jahre!" „Sechzehn Jahre?" und seit dieser Zeit reisen Sie ununterbrochen?" „Ununt erb ro chen." „Das ist doch ein Menschenalter!" „Ja, das ist ein Menschenalter ..."-- Herr Grab zieht die Schultern hoch, als ob er sich gegen die Last der plagevollen Jahre stemmen würde . . Ein Menschenalter! Heinrich möchte ihn gern in bessere Laune versetzen. „In früheren Zeiten — da waren die Umsätze größer?" fragte er. Jümsätze?^— Ja, die waren größer. Alles war eben besser. Vierundzwanzig Aufträge, sage und schreibe vierundzwanzig Aufträge habe ich am- dritten Tage meiner ersten Reise nach Hause gesandt. Das ging wie am Schnürchen. Jeden Abend schrieb ich: Herrn A. Faßland & Sohn — Anbei überreiche ich Ihnen den Erfolg meiner heutigen Tätigkeit und begrüße Sie ohne Mehranlaß hochachtend Lazarus Grab. Und ^— das ist noch wichtiger! — Tag für Tag, so regelmäßig und verläßlich wie die Sonne aufgeht, kamen Nachbestellungen meiner Kunden. Heute? Du lieber Himmel, ich kenne mich und 119 \ kenne meine Schwächen. Ich bin ein Schatten — ich darf nicht reden, ich muß mäuschenstille sein. Darf mich nicht rühren. Wenn ich in die Erde sinke — kein Hahn kräht nach mir — der Karren läuft weiter, keine Erinnerung bleibt zurück — was bin ich? — Ballast für die Firma .. Aber ich habe Erinnerungen. Und so lange ich noch lebe — es kann nicht mehr lange währen! —, bewahre ich die alten Orderbücher auf. Die sind mein Trost. Ich bin heute ein Nie-TriandT dor.h einmal war ich ein Jemand! Ich war Lazarus Grab!! — ich blättere in alten Kopierbüchern — „unser Generalvertreter wird sich die Ehre nehmen" — damals, damals-- ich sehe — ich habe Riesengeschäfte gemacht, Bombengeschäfte, ich kommandierte, die Expedition kam nicht nach, ich verkaufte, verkaufte, ich war Lazarus Grab, die Stütze des Unternehmens, der Stolz der Firma, die große Verkaufskanone!---Und heute? — Ein töter Hund!" Der Alte zittert, schnappt nach Luft. Heinrich wird ängstlich. „Was ist denn? Herr Grab? Sie sehen zu schwarz! Sie arbeiten doch auch jetzt noch mit Erfolg. Ihre Tätigkeit drückt sich eben anders aus. Ist nicht so greifbar. Jeder Geschäftsreisende hat jetzt schwer zu kämpfen. Man wird sich umstellen müssen. Die Wirt- 120 schaft geht zugrunde, die Menschen reißen sich gegenseitig das Brot vom Munde weg — es sieht triste aus. Wir pinfarliftTi Mfnqphfn können das nichf iJTidprntRBaindhnhprfMäfhtf, H M' die das Schicksal lenken." „Mächte? Schicksal? — 0 mich foppt man nicht! Ich nenne es nicht Mächte. Die Lumpen L G> regieren, die Lumperei trjnmpWT'H Da sitze ich, Lazarus Grab, hilflos, gebrochen, mit ausgesungener Stimme. Ich könnte schreien, fürchterlich schreien—man würde mich nicht hören, nicht hören wollen! Ich könnte aufstehen und eine Rede halten, Dinge erzählen, daß die Leute Mund und Augen aufreißen würden, Dinge, junger Herr, Dinge, daß Revolutionen entstehen könnten —■ ich tue es nicht: ich schweige . . . Aber ich behaupte: — und wenn ich dafür geköpft werden sollte — die Lumperei- triumphiert! Gut und Böse, Recht und Gesetze — alles nur Schwindel, Hokus und Pokus! Sand in die Augen! Die Lumpen regieren, die Lumpen lachen, lachen und reißen uns Fetzen vom Leibe . . ." „Es ist so," sagt Heinrich, „aber bleiben Sie ruhig! Wir ändern es nicht!" „Nein, wir ändern es nicht! Ich habe es auch nicht ändern können. Nennen Sie es Schicksal, — ich habe mir die Stirne blutig geschlagen, bin winselnd wie ein überfahrener Hund am 121 Boden gelegen, ich habe es doch nicht ändern können, er hat mich vernichtet, zu Tode getreten ffi-dalbert KoblerJ^ „WeiM WlMrM'l Kobler, Herr Grab?" Den leidenschaftlichen Ausbruch des Alten möchte Heinrich gern verdrängen. Grab hebt den Kopf, seine unterlaufenen Augen treten rund aus den Höhlen .. . „Jungfer Mann," sagt er mit gebrochener Stimme, „Sie sind ein Kind, Sie kennen das Leben nicht. Ich bin älter und deshalb darf ich Sie belehren, obgleich wir Alten ja eigentlich von den Jungen lernen sollten. Doch hören Sie meinen Rat für die Zukunft an, er ist bedeutungsvoll und Sie müssen sich ihn einprägen, fest und tief ins Gehirn, damit Sie ihn immer bereit haben, wenn die große Stunde an Sie ^ herantritt. Mein Rat ist: Wenn sie sich einmal etablieren sollten: — bleiben Sif> fillpin! YAr-trauenSiedenMpTiBi.l™Ti n^LtfFi» TT^p^»^ — ist kein Freund. Man glauht es manchmal—er ist kein Freund! Er kann ein Weggenosse sein. Vielleicht ein anständiger, mit Einsicht und Gerechtigkeitsgefühl. Aber wenn er nicht anständig ist, dann ist er ein Einbrecher, ein Defrau-dant und Betrüger, so wie es dieses Tier in Menschengestalt war, mein Kompagnon Adalbert Kobler." * . 122 Heinrich ist erstaunt. Das wußte er nicht: „Sie waren selbständig, etabliert, eine protokollierte Firma?" Lazarus Grab schlägt die Hände zusammen. „Ich habe das Weinen verlernt, junger Mann. Ich kann nicht mehr weinen. Ich habe ausgeweint für alle Zeiten, und wenn ich so alt wie Methusalem werden sollte. Ja, ich war Chef. Richtiger Chef. Mitchef der ^j^K^Jgj^^g^ Wissen Sie was das bedeutet? Sie sind jung, zu jung, um das ganz begreifen zu können. Ich war Reisender, jHutt^ tüchtig, geschäftslustig — es ist so traurig, aber es ist so. Man ist Reisender. Fünf Jahre, sechs Jahre, zehn Jahre. Ist glänzend eingeführt. Und Woche für Woche kassiert man die Spesen ein, nimmt überall das billigste Hotelzimmer, wählt die billigste Speise, vergönnt sich keine Kartoffel zum Fleisch, ißt nur, um zu leben, lebt nur, um arbeiten zu können und spart und spart. . . Schon ist man nahe am Ziele, hat einiges Geld zusammengescharrt, bereitet alles vor, besorgt Kredite — und dann, dann kommt der große Tag — das ist wie ein Traum —, man ist selbständig, sein eigener Herr, ein Chef — ,Aha, der Herr Grab ist hier!' sagen die Kunden — ,Eine kleine Neuigkeit', erwidert man die Begrüßung, ganz leichthin, als ob es nichts Besonderes wäre. ,Ich habe mich etabliert, hier 123 1 meine Karte, von heute ab firmiere ich: Kobler & Grab4! Der alte Grab hält ein und greift sich an die Schläfen. Heinrich: „Und dann haben Sie Ihr Geschäft wieder aufgegeben?" „Aufgegeben?"Er schüttelt den Kopf. „Nein, das Geschäft hat mich aufgegeben! Und es hätte nicht so kommen dürfen — es war ein Verbrechen, es war nicht gut." „Was tat dieser Kobler?" ..Wir hatten einen Vertrag: Ich werde reisen und_dn wirst reisen. So lautete unsere Vereinbarung. Bist du zu Hause — bin ich auf der Tour. Bist du auf der Tour — bin ich zu Hause. Oh die Sache kam in Gang! Es lief. Es lief sogar ausgezeichnet. Vierzehn Monate. Aber der Teufel liegt in der Luft. Ich habe es geahnt. Ich wußte nicht, was geschieht, was geschehen könnte, ich wußte nur: der Teufel liegt in der Luft. Was fiel mir damals ein? Man darf nicht hochmütig werden. Es hatte nicht kommen müssen..." Der Alte jammert: „0 Gott, o Gott, was fiel mir damals ein? Vielleicht wäre ich jetzt noch der, der ich einmal war. Könnte den Kopf aufrecht halten: Lazarus Grab, Mitchef der Firma Kobler & Grab. Vielleicht wäre ich heute Handels- akte f rat, mit Standesinteressen, unantastbar. Und warum bin ich es nicht? Weil ich den Kopf zu hoch hielt! — Doch der Mensch ist schwach: in allen diesen Jahren hatte ich nicht ein einziges-mal ausgespannt, ich wollte einmal in einen Kurort fahren. Was fiel mir damals ein? Ich wollte mich erholen. Ich mußte weg. Mußte ich? Es trieb mich. Nichts vom Geschäft, nichts von den Kunden hören. Brunnen trinken, promenieren. Durch die Straßen schlendern, ruhig, ohne Hast, die Zeit, die langsame Zeit genießen — ich habe das nie gekannt... In der glühendsten Hitze bin ich im Zylinderhut herumgelaufen, überlegte, ob ich mir einen Strohhut kaufen sollte, stand vor dem Hutladen, wollte eintreten, überlegte es wieder, verglich die Preise, zauderte, überlegte es noch einmal — und inzwischen geschah die Katastrophe! In-zwischen hat Kobler zu Hause das Geld zusammengerafft, Forderungen einkassiert, "TTin- preis verkauft üncTist aufTm^davon gelaufen, durchgebranntjjnach Amerika -^qieserMörder! — nach AmerikapSad ich — es war umsonst — in meiner Verzweiflung — ich fuhr ihm nach . . ." *,~"<:: „Nach Amerika? Sie waren in Amerika?" Heinrich traute seinen Ohren nicht. Er hatte angenommen, der alte Grab wäre nie über die 124 125 Distrikte seiner Reiseroute hinausgekommen. „Sie waren wirklich in Amerika?" Im nächsten Augenblick entfährt ihm aber auch schon ein Schrei: „Herr Grab! .was fehlt Ihnen? Herr Grab! Was ist?" Der Alte ist zusammengebrochen, ein Kellner fängt den Umsinkenden auf, der Feuerwerker springt über eine Brüstung, ein Mädchen fährt zurück, stolpert, fällt in den Kleiderständer, die Leute springen von ihren Sitzen, springen zur Seite — man trägt den Alten in einen kahlen Nebenraum, in dem leere Sessel aufgetürmt stehen . .. Malenski ist wie betäubt. Starrt den Leblosen an. Starrt auf den breiten, faltigen Mund und den blauen Orderbleistift, der dem Alten aus der Brusttasche bis zum Kinn herausragt... Es ist kalt in diesem großen Zimmer . . . (l"»ge-, die eigentlich nicht zu ihm gehört, merkt wie gespreizt und überheblich alles das klingt und möchte am liebsten dazu sagen: ..Adele, .das-ist ja nur Maske. So muß ich sein. Denn das ist mein Beruf, so ist es eben, und wir müssen und wir wollen doch leben — in Wirklichkeit bin ich anders als du mich kennst, erkennst, zu erkennen glaubst..." Jfa, er ist nicht wie andere Geschäftsreisende. ...^^-r.-n».»-«.......I.-U.J Zwar steigen Zweifel auf: —i^jäl^j^ä^JISiB fleJBjals die anderen", das bildet^ic]M ~—rncTrTnur\reschä^ aucn^Beamte und Künstler, jeder glaubt, über der eigenen Situation zu stehen und im geheimen wertvoller zu sein, als seine Kollegen ... Aber ist es nicht auch etwas wert, seine eigenen Grenzen zu kennen? Malenski weiß, daß es Dinge gibt, für die er vielleichtju^chwggh^jgf, um sie erfassen zu können, die aber — er ahnt es —^|äriker sind, als alles das, was scheinbar Bestimmung und Lebenswert ist. .. Die andecen^S^e-könnecL-denJMund-nicht-Mh|alten!_K_einer kann- den Mund halten! Alle müssen redejq^jaadep|und . Nur Adele schweigt. _ Und Petronides. Aber eben deshalb muß man die richtige Mittesriehen. Muß wissen, daß Schnapsreisende — und gar Prix und Nickel — unberechenbar in die Luft reden, verantwortungslos und ohne Bedenken... Oder wußten sie nicht, was sie taten? Kann überhaupt ein Mensch einschätzen, wie tiefverändernd er oft mit einem einzigen Wort in die Seele eines Nächsten eingreift?-- Kappus)ist sein Konkurrent. Wenn Kappus nichlTgesprochen hätte — vielleicht wäre auch Adele nicht. Nicht für ihn".". . # In der „Handelskammer" ist kein Plätzchen frei. Links sitzt Torf und schläft. Er schläft fast 136 i 137 immer während der Fahrt. Man beneidet ihn um diese Fähigkeit. In einer Ecke spielt man Karten — Zinkbulka! Man spielt kein anderes Spfel^w'ährend der Fahrt ein ganz vernünftiger Zeitvertreib. Gegen übliches Kartengeld sorgt der Schaffner für ungestörtes Beisammensein. Malenskispielt nur selten. Im Zuge nie. Man kann ja auch nicht miTjeclem spielen^Man muß wissen, mit wem man spielt.. Hnffi~gegenüber sitztfKappus.)Sein Konkurrent. Mit dem großen Kopf. Er kiebitzt dem Nebenmann. Dazwischen aber ist er gesprächig, wie immer, und offensichtlich bemüht, auch Malenski zum Sprechen zu.bringen ... An sich belanglos. Alltäglich. Man müßte es gar nicht festhalten. Hundertemal werden im Coupe ähnliche Gespräche geführt. Diesmal nicht belanglose. ,. / Ka'p^sf^ohin fahren Sie. Herr.Malenski?" (Schon eine taktlose Frage, die ein solider Konkurrent zu vermeiden hat. Es ist nicht angenehm, Auskunft geben zu müssen.) Malenski weicht aus: „Das ist noch unbestimmt. Jedenfalls steige ich in(Berlitz)ium." Kappus mit typisch Iauerndem^BUckej „Waren Sie nicht vor zwei Monaten in Berlitz?" Malenski zurückhaltend: „Ich müßte in meinem Verzeichnis nachsehen — ich erinnere mich nicht." Kappus läßt sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen. „Arbeiten Sie dort mit K. Füllers Sohn?" (Wieder eine^Ta^h^gkeit! Solche Fragen dürfte Kappus mcTrTstelien. Unter keinen Umständen!) Malenski kurz: „Nein!" Kappus: „Es scheint mir aber, als hätte ich kürzlich ihren Koffer bei Füller gesehen." (Wie hinterlistig! Kappus.will durch eine unverfrorene Lüge seinen Partner in Verlegenheit setzen.) v Malenski, ein wenig gereizt: „Das dürfte ein Irrtum sein!" Kappus merkt, daß er zu weit gegangen ist, lenkt ein: „Warum arbeiten Sie nicht mit Füller? Die Firma ist doch prima primissima!" Malenski ruhig: „Möglich! Man kann in einem Orte nicht alle besuchen, das macht böses Blut!" Kappus geht in Front: „Aber mit Cleve, zwei Häuser weiter, stehen Sie doch in Verbindung? Zahlt in acht Wochen!" (Wieder eine Ungehörigkeit. Kappus versucht, Malenski gesprächig zu machen, um Zahlungsmodalitäten eines Kunden zu erfahren.) Malenski gibt keine Antwort. Cleve ist übrigens einer seiner treuesten Abnehmer ... Kappus läßt nicht nach: „Vor 14 Tagen habe 138 139 ich dort einen kolossalen Auftrag erzielt; (Eine Lüge! Cleve kauft sehr vorsichtig!) Die Zeit hat nicht ausgereicht — die Bahnverbindung ab Berlitz ist hundsmiserabel: zwei Züge täglich. — Offen gesprochen: hätte ich die Möglichkeit gehabt, ruhig zu arbeiten, dann wäre der Auftrag doppelt so groß ausgefallen. Ist Ihr Jahresumsatz mit Cleve nennenswert?" Malenski verärgert: „Ja und nein." Kappus: „Ich arbeite dort seit fünfzehn Jahren. Persona gratissima sozusagen. Der Schwager Cleves war mein Mitschüler und sein Neffe Dyk, der jetzt Blechgeschirr handelt, stand während der Lehrzeit neben mir hinter dem Ladenpult. Übrigens ist seine verheiratete Schwester die beste Freundin meiner Frau. Sie verstehen: — er könnte mich, selbst wenn es für ihn verdrießlich wäre, nicht ganz ohne Auftrag abziehen lassen. Solche Kunden liebe ich: ich komme in Berlitz an, ich beordere die Koffer zu Cleve, ich grüße, ich packe aus — es geht wie am Schnürchen .. ." Malenski kennt diese Tiraden. Es ist die oft geübte Methode!, die auf die GefahTTiin, durchschaut zu werden, unter allen Umständen versucht, den_J£pjikmuienieu™u^ mnn^zu^v^r^jz^n,,^- (Es ist ganz ausgeschlossen, daß dieser Kappus bei Cleve sich als persona gratissima bewegt. Die Vorspiegelung sei- 140 ner guten Beziehungen zu diesem Kunden ist nur ein geschickter Vorwand, um Malenski zum Sprechen zu bringen. Und selbst wenn diese Absicht nicht gelingen sollte, lügt Kappus. Er lügt unter jeder Bedingung. Und wenn längere Zeit verstrichen ist, dann glaubt er schon selbst an seine Lügen. Und steigert so sein Selbstbewußtsein, erreicht also jedenfalls einen Zweck!) _ jGesprächefnehmen oft seltsame Wendungen. Man geht auf ein Ziel los und erreicht das Gegenteil dessen, was man beabsichtigt hat. Man könnte in diesem Fall auch sagen: wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst herein . .. Kappus ist jetzt niclu^mehj:_zu halten: „Arbeiten Sie auch in|Buchenberg?" (Dieses Ausfragen ist unerhört!) Malenski: „Nein!" Doch Kappus ist nicht so leicht aus dem Konzept zu bringen. Das Mundwerk läuft ab: „Sie arbeiten nicht in Buchenberg?? Buchenberg liegt doch in der Nähe von Berlitz! Es dürften kaum 30 km sein. Wenn Sie vormittags in Berlitz arbeiten, können Sie bequem den Mittagszug benützen. Übrigens: weil wir gerade von Buchenberg reden — ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Ich könnte viele Geschichten erzählen, aber — es gibt erstaunliche Dinge auf 141 I Erden — dieser Vorfall ist tatsächlich erzählenswert." „Erzählenswerte Vorfälle" sind oft nur für den int eressant, der sie erzählt. Manchmal Können sie aucn^T^Tlp^sein. lXiesmärwar es ein „Tip"... Gegen seinen Willen hatte Kappus seinem Konkurrenten Malenski zu einem Geschäft ver-holfen. „Es gibt erstaunliche Dinge auf Erden! Es ist immer dasselbe, aber man lernt nie aus, auch wenn man schon, wie ich, ein älterer Hase ist. Hören Sie: ich nenne einen Namen — er muß Ihnen genügen —: Engelbert Haliban! Engelbert Haliban in Buchenberg. Kein Geschäftsfreund im üblichen Sinne, nein, ein richtiger, teilnahmsvoller Freund war mir dieser Haliban. Man kann zu einem Menschen in keine engere Beziehung treten, man kann nicht besser eingeführt sein, als ich es bei Haliban war. Ich glaube, ich hätte ihn um zwölf Uhr nachts aus dem Bette trommeln können: — er hätte nicht mit der Wimper gezuckt, er hätte sich die Kollektion angesehen. — Ich übertreibe nicht, und wenn ich etwas behaupte, so kann ich es auch verantworten. Ich wiederhole: Engelbert Hali-ban, Buchenberg^^prJma.Kunde von mir! Verzeihung! — war Kunde von mir! Es ist aus! Schluß!! — Und warum?? — Das ist die Geschichte! Darf ich sie Ihnen erzählen?" 142 Malenski nickt. Mehr aus Höflichkeit, als aus Neugier. Auch Malenski ist kein junger Hase und schließlich: man weiß, wer Kappus ist. Und wieviel man ihm glauben darf . .. „Frage ich mich," beginnt Kappus, „wie es eigentlich kam, daß meine langjährige Geschäftsverbindung mit Engelbert Haliban in die Brüche ging, so kann ich nur antworten: meine angeborene Gutherzigkeit, gegen die ich oft ankämpfen muß, hat mir wieder einmal einen Streich gespielt. Ich bin in der Galanteriewarenbranche groß geworden. Ich habe nie einen anderen Artikel gehandelt. Und zu meiner Entschuldigung stelle ich fest: in Gewürzen kenne , ich mich nicht aus. Ich kann Ingwer nicht von e"f Phnent unterscheiden. Aber: — das darf ich wohl behaupten — eine Portion Menschenkenntnis kann man mir nicht absprechen. . . Diese Menschenkenntnis hat einmal versagt. Und deshalb ist Buchenberg in meiner Landkarte gestrichen! — Man könnte es auch Pech nennen... Stellen Sie sich einen Wintertag vor, Bäume und Berge vereist, die Luft scharf, spitzig, die Wege unfahrbar. Mit Mühe und Geldopfern ergattere ich in Berlitz einen Schlitten. Die Fahrt geht los, ich habe Eile — der Kutscher peitscht in die Pferde. Es ist vier Uhr nachmittags und verständlicherweise möchte ich vor 143 Einbruch der Dunkelheit anlangen, weil man doch allzuspät nicht arbeiten kann. Zumindest nicht in Ruhe. Auch wenn es Haliban ist... Eben als wir — knapp vor dem Schleusenwerk — in den Wald einbiegen wollen, ringsum Totenstille, keine Hundeseele auf der Landstraße —, werden wir durch ein Zeichen genötigt, einzuhalten. Es ist ein junger Mann, kaum zwanzig Jahre alt, spindeldürr, in einem dünnen Mäntelchen, eine Mustertasche unter dem Arm — ein junger Mann, der offenbar den zwei Stunden langen Weg zu Fuß zurücklegen will. „Bitte," sagt er, „gehe ich hier recht nach Buchenberg?" „Hören Sie mal," erwidere ich — er tat mir leid —, „mit mir müssen Sie aufrichtig sprechen! Keine hinterhältigen Wendungen! Ich weiß, was Sie wollen: steigen Sie ein, und wenn Sie danken wollen, so danken Sie dem Himmel, daß er mich hier vorübergeführt hat. Wen haben Sie?" •— Ich erfahre: dejL-jJingeJVTflriri ist zum erstenmal auf der Tour. Er vertritt eine Gewürzmühle. Ich frage: „Sind Sie in Buchenberg eingeführt?" — „Leider nein," erwidert er, „auch meine Firma ist dort unbekannt." — „Schöne Geschichte," meine ich, „da werden Sie nette Aufträge überschreiben! Wenn Sie kaltes Wasser offerieren würden, wäre es nicht weniger aussichtslos. Haliban ist kein Anfänger 144 und die beiden anderen Kaufleute kommen nicht in Betracht." — „Ich habe wenig Hoffnung," sagt der junge Mann — er schien kaum sattgegessen —, „aber wenn Gott will, kälbert ein Ochse, und vielleicht habe ich Glück." — „Junger Mann," muntere ich ihn auf — er tat mir wahrhaftig leid, aber im Geschäft darf man eben nicht gutherzig sein!—„Ich will etwas für Sie tun: ich werde Sie bei Haliban einführen!" — Haliban ist ein schwerer Käufer, doch der Jüngling kam ja mit mir! — Und was geschah? Ich übertreibe nicht: Ingwer, Piment, Muskat, Pfeffer, Paprika, Zimt, Anis und Macis-blüte, kurz alle Gewürze, sortiert gepackt und von jeder Sorte je zwanzig Kartons hat das Bürschchen an den Mann gebracht. — Er hätte mir vor Dankbarkeit beinahe die Hände geküßt. Das Ende der Geschichte? — Drei Monate später komme ich wieder nach Buchenberg. In einer Ecke sind die Gewürzkartons aufgeschlichtet. Ich ahne nichts gutes. Haliban steht hinter dem Pult. Ich grüße. Haliban rührt sich nicht. „Nun?" sage ich, „mein Kompliment, Herr Haliban! Immer wohlauf?" — „Danke," erwidert er und seine Augen funkeln gefähr- 145 i lieh. „Ich kaufe heute nicht' •Warum?' frage ich möglichst unbefangen. „In Peitschenstöcken dürfte doch wieder Bedarf vorliegen?" „Weder in Peitsche^sfocKen, noch in anderen Artikeln. Ich ersuche Sie, mich weiterhin nicht zu belästigen!" — „Was ist denn geschehen??" frage ich erstaunt. „Was geschehen ist!?" schreit Haliban mit verhaltener Wut. „Herr!! Hier sehen Sie 160 Gewiirzkar-tens. die ich am liebsten in die Schleuse werfen. möchte. Unbrauchbar! Verfälschte Warel Schlechtes Gewicht! Schwindelfirma!" — Haliban wird wild: „Und einen Mann, der eine solche Firma vertritt, wagen Sie, dessen treuer Kunde ich war, mir zu empfehlen?? Leben Sie wohl!!" Sagts und verschwindet in den Hintergrund. Ich warte natürlich; erwische ihn schließlich, versuche zu beschwichtigen, biete vier Prozent Kassaskonto — alles vergebens: der Mann ist böse, für alle Zeiten — es ist nicht gutzumachen.. . Aber es war mir eine Lehre. -Geschäft und Gemüt sind ein ungleiches Paar. Übrigens: ich werde Ihnen eine andere Geschichte erzählen, die in ihrer Art..." „Wann waren Sie zuletzt in Buchenberg?" unterbricht Malenski. Er hat seine Pläne . . . „Vor ungefähr acht, Wochen.. Zum letztenmal. Wo sind wir? In/Kronsthai ? fleh muß ja aus-steigen! Auf Wiedersen^!uEs'hat mich gefreut! 146 Ein andermal erzähle ich mehr — Grüß Gott, Herr Malenski!" Malenski: „Grüß Gott!" Das war ein wichtiges Zusammentreffen. Wie oft hat wohl Malenski diese Geschichte erzählt? War es Bestimmung? ^ Als er es vor Adele so nannte, da lächelte sie und meinte: Es war ein Zufall! Auch Petronides — auch er kennt ja den Verlauf — lächelte. Aber er sagte: Nein, es war kein Zufall — es war Bestimmung ... 147 IX. Man soll nicht gutherzig sein. Sagt Kappus. AberJMalenski ist ja nichtTCappus. Malenski hat doch ein „Privatgemüt". Weiß man das? Man weiß es, doch man begreift es nur im gewöhnlichen, bürgerlichen Sinne. Man weiß, daß er charaktervoll, gefällig,und anständige ist. So wie es ein Erdbewohner sein soll. Und wie es die wenigsten sind. In Wirklichkeit: — ist das nicht so einfach. Merkwürdiger. Oft erschreckend. Eine Zwiespältigkeit steckt in ihm, die er nicht überbrücken kann. Er weiß: er ist nur Malenski, Vertreter der Firma A. Faßland & Sohn — mit allen Wünschen und Voraussetzungen, die den ambitionierten Geschäftsmann bedingen—doch plötzlich durchzieht ihn dann ein seltsames Empfinden, ein neuer Sinn, eine Art tieferen 'VersteEens und er beginnt — man kann es nicht Sesser bezeichnen — zu „hören". Es ist, als ob er bis dahin taub gewesen wäre — nur ein Durchgang für alle Geräusche ringsum — und als wäre das, was er bis dahin erfaßt hatte, nur haften geblieben und nicht aufgenommen worden. Kommt es aber über ihn, dann ist es wie eine Weihe, ein gottnahes Gefühl, er schließt die Augen, horcht und hört, hört eine andere Welt, jeder Ton, jede Stimme, jedes Wort durchdringt seinen Körper, er „hört", und — das Herz schlägt schneller, Blut steigt in den Kopf, das Unbegreifliche tritt nahe... Petronides meinte kürzlich — in einem andern Zusammenhang, man sprach von einem Bekannten — : „Es gibt Konfektionsmenschen und solche, die gleichsam „nach Maß" gearbeitet sind. Man darf die Weltanschauung nicht fertig geliefert kaufen." Irrt Petronides nicht? Ist es denn so leicht, sich von allem, was ererbt und Gewohnheit ist, loszureißen und so zu leben, wie man vielleicht ahnt, daß es richtig wäre?__ -Dazu fehlt ihm d^iejCraft.. . . _ Auch er hat ja das, was IJPetronidejP'den „Frei-heitsdrang an sich" nennt. Auch er spürt ihn. Aber dieser „Freiheitsdrang" ist nur eine Ahnung. Manchmal steigt er aus dem Waggon — die Ortschaft liegt abseits der Bahn — er geht durch das Walddunkel — nur ein Stückchen Himmel gibt Licht, geht Schritt für Schritt, die kleinere Mustertasche in der Hand, Sand knirscht unter den Füßen — Angst befällt ihn —, aber: Gedanken jagen durch den Kopf, durchkreuzen seine ängstlichen Gefühle, er klammert sich an Geschäfte, offeriert im Geiste Spiegel, Kämme, Bürsten — und plötzlich rauscht es wieder in den Zweigen, sie zwängen ihn ein, sind drohende Zeichen, rücken ihm nach und suchen ihn zu fassen — doch schon blitzt wieder eine Lichtung, eine Wiese auf, winkt ihm freundlich, einladend zu, ein frischer Windhieb rüttelt ihn auf, er fühlt sich frei, sicher, geborgen und voller Arbeitslust.. * ^Bestimmung oder Zufall— Kappus war der Anlaß. Wie wäre denn Malenski sonst nach Buchenberg gekommen . . . Es war das, was man in seinen Kreisen eine „Entdeckungsfahrt" nennt. Und ein bißchen Kalkulation: wenn Kappus bei Haliban nicht mehr arbeiten darf ... vielleicht? — man muß Gelegenheiten auszunützen verstehen . . . " Routinierte Reisende lieben solche Ausflüge im allgemeinen nicht. „Ich akquirire keine neuenKunden," sagt Löwenbein, „das überlasse ich unverbrauchten Jünglingen, die freuen sich noch, neue Gesichter zu sehen." Später vermeidet man, fremde Hände drük-ken zu müssen. Doch gibt es Umstände, die nicht vorauszusehen sind. Man kann den Bahnanschluß versäumen, wenn beispielsweise der Fahrplan abgeändert wurde, man hält sich bei einem schwerfälligen Kunden unvorhergesehenerweise 152 153 lange auf — was nun? — die Zeit soll ausgenützt werden, man ist nicht zum Vergnügen auf -•der Tour, nun: man nimmt eben einen andern Zug, fährt in eine andere Richtung, vielleicht nach Buchenberg — Kappus darf ja nicht mehr nach Buchenberg! — irgendwohin, wohin immer es sei, irgendwo, wo man, wenn auch mit zweifelhaften Aussichten, sein Glück versuchen kann.. * ^Büchenbergs— Viel wird dort nicht los sein! Es ist ja nur ein größeres Dorf, eine Art Marktflecken — wenn auch nicht ganz ohne Verkehr—, liegt an der Reichsstraße, und wen der Staub nicht zwingt, die Augen zu schließen, der kann, besonders an Sonntagen, die Fahrzeuge vorbeipassieren lassen und im Geiste mit in die Ferne fahren ... Das ist wohl die einzige Möglichkeit, etwas zu erleben, wenn man hierher verschlagen ist. Da vergißt man dann vielleicht, daß Buchenberg selbst nur ein Nest von kaum hundert Häusern ist, mit einem schmutzigen Tümpel in der Mitte, in dem im Sommer die Kinder baden, mit einem Gemeindehaus und einem Übungsplatz für die „Freiwillige Feuerwehr". Sonst wäre nichts Nennenswertes zu berichten. Eine Schule ist noch da, zweistöckig, acht-fenstrig und schneeweiß getüncht, ein Lagerhaus, richtiger ein Schuppen der Landwirtschaftlichen Genossenschaft und schließlich die Bauernhöfe, die vom Gestank der Mistgruben erfüllt sind und die kleinen Häuschen mit den Stroh- und Schindeldächern, manche ^mrt Blumengärtchen umsäumt; mit roten Kattunvorhängen vor den Fenstern . . . Öde Gegend. -----——— * Ein Haus ragt ein wenig hervor. Es ist hellgrün gestrichen und es wirkt in dieser Umgebung mit seinen blinkenden Fensterschließen und Regenröhren beinahe herrschaftlich. In der Mittelfront von Stuckatur umrahmt, ist ein weithin lesbares Schild angebracht: Engelbert Haliban Gemischte "Warenhandlung Die beiden Tafeln, rechts und links neben der Eingangstür, sind schon ein wenig verwittert. Aber den Neger mit dem Kaffeesack am Rücken erkennt man noch. Er schleppt sich 154 155 i und seine Last mühselig durch afrikanischen Wüstensand weiter — kein Baum, kein Strauch ist hier, nur weit entfernt eine Oase —, er ist 4n_diesem kleinen Dörfchen wohl der einzige Hinweis jmf die Größe der |WeIt und die Welt-bedeutung des Handels . . . Malenski tritt ein. Er ist nicht gerade in rosigster Laune. Das muß man begreiflich finden. Man hat doch seine Stammkunden und nun soll man, wie ein „Neuer", seinen Namen und Stand angeben. Das ist peinlich. Umsomehr, wenn man im vorhinein weiß, daß diese Zeremonie im Gesicht des Partners automatisch ein abweisendes Zucken hervorrufen wird... Malenski verübelt das einem Kaufmann nicht. Die Geschäftsreisenden fluchen, wenn sie unhöflich empfangen werden, aber sie bedenken meist nicht, daß ja solche Besuche auch für die Kaufleute nicht ganz unblutig verlaufen müssen. Der, der da eintritt, sich eben vorstellt, Rede und Antwort fordert, kann doch zu den sogenannten „Bohrern" gehören, also einer von i denen sein, die im guten nicht abzuschütteln j sind, die sich einhaken, als hätten sie einen Eid geleistet, ohne Auftrag nicht von der Stelle zu weichen, einer von denen, die ihr Opfer ara ! 156 ! Rockkragen fassen, ihn schütteln und eineRede vom Stapel Tassen, die unter Umständen auch bis zum Abend währen kann . . * Malenski versteht diesen Vorbehalt. Und deshalb ist er nicht zudringlich, wie viele seiner Konkurrenten, im Gegenteil, er hat sich für solche erste Begegnungen, .einen Tonfall voll Ruhe und Sachlichkeit zurechtgelegt, der jedes Mißtrauen des Kunden im Keime ersticken muß . .. „Guten Tag! Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: ich heiße Malenski, Vertreter der Firma A. Faßland & Sohn, Kurz- und Galanterie-waren-Engros." Er streckt seine Hand der Begrüßung entgegen. Ein altes Weib, das ein Päckchen Mottenpulver verlangt, verhindert vorerst die nähere Bekanntschaft. . . Das geht vorüber. Haliban setzt die eingefrorene, undurchdringliche Miene auf. Er zieht sich gleichsam in sich zurück. Er gehört — wie alle Geschäftsreisenden sucht auch Malenski zuerst einmal ^ das Naturell des Kunden zu erfassen=.zu jener Isorte von Menschen, die in harter Abwehr so 157 tun, als würden sie es nicht riskieren oder nicht der Mühe wert finden, durch Höflichkeit irgendwelche Debatten, aus denen sich Konsequenzen ergeben könnten, möglich zu machen. Leicht den Kopf schüttelnd, sagt er kurz: „Danke! Bin versorgt!" Das ist nicht sehr animierend. Malenski hat sich doch vorerst nur vorgestellt. Hat noch gar nicht offeriert. Immerhin: eine Antwort, auch wenn sie nicht eben höflich ist, ist doch ein Anlaß näherzutreten. Kappus sprach doch von.PeUsc^enstöcken-^^^ „Herr Haliban," sagt Malenski mit einer möglichst ungefährlich wirkenden Wärme _jn der Stimme, „ich hätte preiswerte Peitschenstöcke abzugeben." „Danke! Bin versorgt!" „Einwandfreie Ware! Bruch- und sprungfrei. Bitte: — Sie sind versorgt — gut! Vielleicht Nadlerwaren zu Fabrikpreisen?" „Danke!" „Das Originellste in Bijouterie? Pariser Schöpfung! Feuervergoldete Kettchen?" „Keine Verwendung!" — I Eine kleine Pause tut gut. Man darf sich / nicht überstürzen, muß dem Kunden Zeit las-sen, sich zu sammeln, um zu verhüten, daß seine Ablehnung automatisch einsetzt. .. Nach einer Weile: „Wir hätten eine größere Partie Taschenmesser lagernd." „Habe ich gestern gekauft." „Scheren?" „Genügend Vorrat!" „Spielwaren?" „Danke!" — Haliban bleibt unter Null. „Eine Frage noch — wenn Sie gestatten —: wie wäre es denn mit Ledertäschchen? In diesem Artikel sind wir besonders reichhaltig assortiert. Gute Arbeit, erstaunlich billige Preise, eine seltene Gelegenheit." „Luxusartikel werden nur in der Weihnachtszeit abgesetzt." „Verzeihen Sie, wenn ich hier widersprechen muß: einfachere Genres dürften wohl auch zum Frühjahr abgesetzt werden ..." „Schlechte Zeiten!" „Ja, schlechte Zeiten!" Malenski nickt, seufzt zustimmend und dieser Seufzer Jst gleichsam das erste Anzeichen einer menschlieh-j3^1ijexenJB.eriihrjTng->... ^ Das Gespräch kommt langsam in Gang. Man spricht vom Wetter und von den schlechten Straßen. Von mancherlei. Es ist ja so traurig bestellt. In allem. Das Geld ist knapp, der Zinsfuß steigt und gewissenlose Parteien nützen den Kredit aus. „Ich arbeite nur mit prima 158 159 i Leuten," versichert Malenski — Haliban zahlt doch Kassa! — Das Gespräch wird angeregter: die Verdienstmöglichkeiten sind gering und es ist nicht anzunehmen, daß sie in nächster Zeit besser werden könnten. Trotzdem hat man heutzutage nur Vergnügen im Kopfe. In der Provinz ebenso, wie in der Hauptstadt. Wovon leben die Leute? Der Nutzen im Geschäft|(^-Man ist glücklich, wenn man die Regien verdient! — Die Behörden wollen das allerdings nicht einsehen. — Die Steuern — ein Kapitel für sich. — Die Vorschreibungen sind drückend und unhaltbar. — Die Existenz der Kaufleute ist gefährdet. — Hätte man nicht — wie Haliban — ein Haus und ein wenig Grundbesitz — und hielte man nicht so auf Ordnung wie er — maň müßte betteln gehen ... Malenski hört teilnahmsvoll zu. Begleitet jedes Wort mit der entsprechenden^mitf ühlen-den Geste. Illustriert Gehörtes durch ähnliche BeispTělé"aus der Praxis. Er antwortet und erzählt . .. Und wenn er die eifervollen Schilderungen, diesen bis dahin harmlosen Disput, nicht bisweilen versuchsweise durch ein Angebot unterbrechen würde — „Apropos: Spiegel vorhalten: — wir hätten originelle Taschenspiegel!" — so müßte er selbst vergessen, in welcher Absicht er eigentlich hergekommen war. Wie immer aber — das weiß er bereits — dieser Besuch ausfallen würde — dieser Haliban kann eine Kundschaft werden! Man sieht schon jetzt: er ist im Grunde seines Wesens keine halsstarrige Natur, er ist nur, wie die meisten, die diesen Eindruck erwecken, mißtrauisch. Solche Kunden erweisen sich im Laufe der Zeit erstrebenswerter und dankbarer als die süßlichen und höflichen, die mit einem Wortschwall bedauern „diesmal leider nicht zugreifen zu können" und den Besuch unter Bücklingen ujkd Händedrücken zur Tür hinauskomplimentieren ... Haliban, zwar schon ein älterer Herr — seine Schläfen sind ergraut—hält sich stramm, und man merkt schon an seiner Kleidung, daß er eine gewisse Standeswürde wahrt. Er ist mittelgroß, glatt rasiert und seine Augen zei-gen einen rötlichen Schimmer. Der Gesamteindruck: ein fester Charakter, dem man vertrauen und kreditieren darf. Wenn auch vielleicht diesmal noch nicht mit einem Auftrag zu rechnen ist, darf doch für spater, fast mit Sicherheit, ein Anschluß erhofft werden. .. Befriedigt sieht sich Malenski im Laden um, schätzt das Lager ab, taxiert den Jahresbedarf — da stehen ja auch die Gewürzkartons, von denen Kappus sprach! — im Hintergrund führt eine Tür über das Magazin in den Hofraum, rechts dürfte das Wohnzimmer liegen — es 160 161 scheint gut eingerichtet zu sein —, ein Mullvorhang verdeckt da den Einblick, aber dieser Vorhang wird jetzt ein wenig zurückgezogen, ein schwarzhaariger Mädchenkopf taucht auf — durch die Glasscheibe sieht man gerade noch die Nasenspitze —, zwei dunkle Augen schauen auf, glänzen und verschwinden wieder — es war nur ein Augenblick —, Heinrich rückt die Kraw^iißjjurecht und den Rockkragen gerade... ^,AdeIe!"l)Herr Haliban reißt die Tür auf, „du mußt che eingelangte Weißware sortieren!" Malenski verbeugt sich... Adele dankt. Herr Haliban stellt vor: „Herr Malenski von A. Faßland & Sohn, bekannte Firma — meine Tochter!" „Sehr erfreut!" sagt Heinrich. „Ebenfalls," erwidert Adele, faßt lächelnd die aufgeschichteten Kartons und verschwindet wieder im Wohnraum . . . Eins, zwei: — es ging sehr schnell. Aber Malenski wittert mit einemmal — wie die Geschäftsreisenden sagen — eine „gute Prognose". Er wird mutiger. Vielleicht läßt sich Haliban doch erweichen, vielleicht kommt doch noch eine Order zustande. „Fräulein Tochter — ist, wie ich sehe, auch 162 7» im Geschäft tätig. Besitzt sie denn Waren-\ kenntnisse?" ^ Der Vaterstolz wird mobil gemacht. „Die?" — Die harten Züge werden weicher. „Die ist tüchtiger als icJbu,vielleicht als Sie und mancher andere. Die versteht den Handel aus dem FF. Meind ^Bitzench könnte unbesorgt spazieren gehen. Ein Prachtmädel! Bravjjjichj.^ tig und verläßlich!" ^Interessiert, mit einem bißchen deutlicher Versonnenheit läßt Malenski die Blicke über den Mullvorhang gleiten . . . Emeld eine Kunstpause entsteht. . . „Wie alt ist ihr Fräulein Tochter?" n , „Sie wird im Herbst zwanzig Jahre alt." ^ „Die einzige Tochter?" „Das einzige Kind! Übrigens: — was kosten bei Ihnen haltbare Peitschenstöcke in prima Qualität?" Malenski dienstbereit: „Ich lasse sofort die Koffer herschaffen!" — * Als er drei Stunden später im Gasthof „Zum goldenen Löwen" befriedigt die Umsatzziffer dieses Tages zusammengestellt hatte — die Order Haliban füllte drei Seiten aus und bevor er sie dem Brief an Faßland beifügte, schrieb er 163 mit großen Lettern in die obere Ecke: Ia Ia! -— da schlenderte er noch ein wenig durch die Straßen, freute sich des guten Tages und ein freundliches Erinnern blitzte auf: Adele ... SU/ Paß es^so kommen mußte und nicht so, wie es Malenski vielleicht gewünscht hätte — ist solche Erkenntnis nicht ausschließlich und ganz allein diesen losen Mäulern zujJankfauL Ohne Frage: es ist so. ^fickelund Prix! Schufte übelster Sorte! .^*5™a!",v Nickel und Prix sind Junggesellen. "Was wissen solche Leute von Fraueni Sie kommen ins Hotel und inspizieren: die Zimmermädchen müssen herhalten. Die sind gefügig und wissen, wie man mit Männern umzugehen hat. Ein bißchen Schmeichelei, ein bißchen sentimentale Schilderungen dieses freudlosen Daseins —■ „das hatte man ihnen auch nicht an der Wiege gesungen, daß sie heute usw." — die Reisenden kennen solche Scherze, aber sie lassen sich gern hinters Licht führen. Der Zweck wird erreicht und eine Nacht mit „Bedienung"—von Mitternacht bis zum Morgen—kommt,"auch wenn man ein wenig geneppt wird, noch immer billiger, als wenn man separat ein Zimmer nehmen 164 165 I [ müßte. Huren! Alle! Das lehrt die Erfahrung. Man gibt sicITkeinen Illusionen hin... Da wäre man schön dumm ... „Einmal im Leben, ein einzigesmal", sagte seufzend der hinkende Torf, ^ der zu den Aufrichtigeren zählt: „möchte ich eine anständige ^fJFrau kriegen." Wie soilte~ihm das aber gelingen? Er ist häß-lich, verwachsen und verfügt nur über ein be-"^c^eI3enes_ Einkommen. Da ist das nicht so leicht... Aber auch die jüngeren, die flotten Reisen-, .den haben es nicht leicht. Täglich liegen sie in einem anderenBett und weil sie selbst sich nicht binden können j erwarten sie es auch nicht von den Weibern. „Erst mTder "Ene^T sagen die Verheirateten, „weiß man, was eigentlich eine Frau ist." Und dann loben sie ihre Frauen! (Ein beliebtes Thema!) Wie sparsam sie ist! Und wie aufmerksam! Und wie gut sie kocht! — Selbst Kartoffeln schmecken zu Hause besser als im Gasthaus. — Die Frau! Immerzu sitzt sie daheim. Und Montag früh steigt sie ganz leise aus dem Bett und bereitet den Kaffee . . . VAdeleJist nicht wie diese Frauen. Und sie ist es mcTät^erst, seit manPetronides kennt. Unver- ständlicher, weniger klar schien sie ihm schon damals — und sie war doch fast ein Kind — als er — so oft! — nach^B^cJ^enberg fuhr. Das waren leuchtende, herrliche Zeiten! Wahrhaft herrliche. So gern kam er nach Buchenberg. Und eigentlich war er immer dort, zu jeder Stunde, und wenn er im Zuge saß — auch wenn er in andere Richtung fuhr — träumte er von Buchenberg, malte Bilder der Zukunft, träum-te ... War es gestern? Vor einem Monat? Wird es erst sein? Immer_auf Reisen, wieder auf Reisen, dann wieder zu Hause und wieder auf Reisen . .. Das erste schüchterne Beisammensein., Jedes-maTder gleiche Weg, den sie gingen: von der Bank vor dem Haus über den Steg, hinter die Anhöhe, im Bogen durch den Föhrenwald, am Schleusenwerk vorbei und dann noch ein wenig die iReichsstraße entlang ... „Gehen Sie oft spazieren?" „Oft. Wenn ich Zeit habe . . ." „Führen Sie auch die Hauswirtschaft?" „Ja! Aber wir halten ein Dienstmädchen." Pause. 166 167 I „Die Gegend ist hier sehr waldreich." „Ja, das zieht sich stundenlang so." Pause. „Erzählen Sie etwas!" „Was soll es sein, Fräulein Adele?" „Sie sind wohl sehr fleißig?" „Muß man wohl sein, Fräulein Adele." „Immer auf Reisen?" „Immer. Das ganze Jahr."--- „Ein andermal: „Ich freue mich so, Sie wiederzusehen." „Wirklich? Besten Dank für Ihre Ansichtskarte." „Sammeln Sie Ansichtskarten?" „Nein, das nicht. Aber es freut mich, wenn ich Post bekomme." „Auch ein wenig, weil die Grüße von mir sind?" „Ein wenig." —---- Nächstens und wieder nächstens: „Werden Sie antworten?" „Ich werde nmen schreiben." „Weiß Ihr Herr Vater, daß ich Ihnen schreibe?" „Ich glaube: er weiß es."--- Und wieder: Arm in Arm. In fröhlichster Laune... 168 Und dann: „Adele!"i — Wie sang doch Florian so schön: „Die Liebe, die Liebe ist eine Himmelsmacht."--- # „Mit Vgrlaub.^meine Herren" — der Bind-fadenreisend^Gabor/äer „Professor", dozierte so: „Wir sind Zigeuiler! Ruhelos von den Furien des Kommerzes gejagt, Zigeuner mit Verlaub, die am Morgen nicht wissen, wo sie am Abend ihr Haupt zur Ruhe legen werden, Heimatlose gewissermaßen, die sich Tag für Tag von Lager zu Lager schleppen, bis sie irgendwo am Wege verrecken..." Nein, kein Zigeuner ist Heinrich. Vielleicht ein Wanderbursche, irgendein fröhlicher, sorgloser Landstreicher, voll lichter Laune —. es. war so beglückend ... Und dann das Programm jür—d\g ^Zukunf t: zwei Zimmer und Küche. Es geht vorerst lähg^ sam. Es wird bald besser werden. Kleine Haussorgen, die seinem Wohle gelten. Wie würde es sein? — — „Nimm die Wollweste mit," wird Adele sagen, „du könntest dich erkälten!" „Langsam! Du hast Zeit!" — „Iß nichts Aufgewärmtes!" — „Nimm noch ein Taschentuch 169 zu dir!" — „Könntest du nicht erst morgen fahren?"--Und er stellt die Handtasche zu Boden—„Adele!" küßt sie noch einmal,und dann nimmt er das Eßpäckchen, das vorsorglich vorbereitet ist—wie werden ihn die Ledigen um dieses Päckchen beneiden! — und dann winkt er Abschied und dann ist er wieder mitten im stürmischen Getriebe, öffnet die Mustertasche, offeriert und notiert, eilt von Laden zu Laden, berechnet den Umsatz, addiert die Reisespesen, sitzt im Zuge, steigt aus, sitzt wieder im Zuge, schläft, wird geweckt, steigt aus dem Bette, grüßt, notiert, offeriert, offeriert.. . So ist es. So war es. Und doch ist es ja nicht so trübe wie bisher, jedes Wort hat nun Zweck und Ziel, jeder Handgriff ist sinnvolle Mühe... Endlose Fahrt, endlose Fahrt. Immer fährt man der Heimat zu, alle fahren der Heimat zu, glotzen in schwarze Nacht, über den Köpfen schwanken die Mustertaschen, noch drei Stunden, noch zwei Stunden, noch eine Stunde — „Geht meine Uhr richtig?" — „Haben wir Verspätung?" --Geduld, Geduld, die Räder schlagen den Takt dazu — noch vierzig Minuten! — „Wir gehen selten ins Theater" — „Wenn ich ankomme, frage ich zuerst" — „Dreißigeinhalb wollte der Chef bewilligen..." 170 — „Meine Frau . . ." „. . . die Kinder ..." — „Sonntag gehen wirmeist..." — „—steigtman um und ..." — „das Geschäft war nicht zu ma- i chen, deshalb..." — „wenn man zu Hause ist..." — „Meine Frau meint..." — „Meine Frau sagt..."--noch zehn Minuten, noch fünf Minuten, noch zwei Minuten, jetzt... —„meine Frau wartet an der Kassa ..."--. J Aussteigen!! Aussteigen!! j - „Wohin fahren Sie Montag?" — endlose (i Fahrt... „Adele!" „Vertraust du mir?" ! „Ja!" I Ganz kurz und doch so verheißend. ^ ' Noch ist es Zukunftstraum. Bald ist es Wirklichkeit. „Um 10"°", wird er schreiben, „komme ich an . . . ich freue mich . . . ich küsse dich . . ." j — und dann fährt der Zug ein — und dann j sind es nur noch Minuten — und dann wird es jetzt und wahr sein — und dann läilft er durch Licht und Dunkel der Wohnung zu — springt i die Treppe hinauf, ist ohne Atem, drückt den Schlüssel ins Schloß, ist schon im Vorraum ... --Nein! so war es nicht!! NichtjUran-dfi1^ kW!T^~"~—~~~ . jPetronides ! 171 Etwa^I^mdes umschwebt Adele. Immer war es befremdend. Eange bevor man* Petronides kennenlernte, lange, bevor man glauben könnte ... wer glaubt es denn? — schon damals, in den ersten "Wochen, in der Brautzeit und als man Verlobung feierte ... Und dann: die Hochzeit, der Abschied, Ruh- , rung und Tränen ... Und wieder saß man im Zuge, jagte in die Ferne. Aber diese Fahrt war die Hochzeitsreise, die Fahrt in eine neue Welt... Diesmal sitzt man auch nicht wie sonst in der „Handelskammer", denn man fährt ja auch ohne Muster und Kundenliste, denkt überhaupt nicht an Geschäfte. Abfahrt! Ein letztes Winken. Der letzte Griff nach der Fahrkarte: — da stürzt noch ein Nachkömmling herein, Herr Löwenbein, derSantos-Achilles. Ist ganz außer Atem... War es Absicht? — es wäre ihm schon zuzutrauen — keuchend wirft er die Muster tasche ins Gepäcknetz: „Ah, Malenski! Sie auch da? Nicht in der Handelskammer'? Hätte beinahe den Zug verpaßt. Ich schwitze. Wer ist schuld? — Meine Frau! Weckt mich nicht rechtzeitig!Läßt mich schlafen, als ob ich Hausbesitzer wäre. Der Morgenschlaf ist der beste, sagt sie. — Für rei- che Leute, antworte ich. Jetzt sitze ich da. Naß wie ein Hecht im Karpfenteich. Schnappe nach Luft. Ist ein ,Dritter' da?" — „Nein," sagt Malenski ein wenig verlegen. „Karten spiele ich heute nicht. Ich reise dies-mal nicht geschäftlich. Ich habe heute geheir^ai. tet. Du gestatYest, Adele: ich stelle dir hier meinen Kollegen Herrn Löwenbein vor." „Ah, da gratuliere ich." ■— Löwenbein streckt beide Hände entgegen — „meinen innigsten Glückwunsch. Ich freue mich, Gnädigste kennenzulernen. Mit Herrn Gemahl bin ich seit Jahren befreundet. Kannte ihn noch,als Lehrbuben bei Wollrab in Karany. Ein Prachtmensch! Ein Mann, der seinem Stande Ehre macht. Feierlich erkläre ich: Sie hätten keine bessere Wahl treffen können!--Also verheiratet!"—Löwenbein neigt liebevoll lächelnd den Kopf zur Seite. — „Was ist eine Heirat? Ein Lotteriespiel! Was ist die Grundlage für eine gute Ehe? —• der Charakter . Aber wir heirateten . .. Die Jugendist eben leichtsinnig. Urlaub wurde mir nicht bewilligt — dem Chef war diese Heirat ohnedies nicht sympathisch, er fürchtete schlechter wegzukommen: Ledige bleiben ganz gern auch Sonntags in der Provinz und Verheiratete werden schon Donnerstag nervös. Aber ich tat es doch. Liebe ist blind: ich hatte kein anderes Einkommen als mein kleines Gehalt — Vorschuß konnte ich nicht nehmen — es war am fünfzehnten des Monats — der Rest reichte gerade noch für die Heiratsspesen. Aber: Jungvermählte möchten doch auch ein bißchen hinaus, ein wenig in der Fremde ihr Glück genießen. Was tut man da? — Ich habe mir den Kopf zerbrochen, lange spekuliert und dann — es war kein leichter Entschluß —, dann habe ich meine Frau eben auf die Ge-sj^[iäfj^tour_m^ Es war keine alltäg- liche Hochzeitsreise. Sehenswürdigkeiten haben 174 175 wir nicht besichtigt. Des abends saßen wir mit den andern Reisenden an einem Tisch, es ging nicht ohne Witze ab, einmal hätte sie beinahe geweint, Jie Arme, und wenn ich inHen Dör-fern bei den Kunden offerierte, stand sie vor dem Eingang und wartete ... Bedenken Sie, bitte: im Februar!Es war ein kalter Winter. Sie ist ohnedies so schwächlich. Hat sie sehr mitgenommen, diese Hochzeitsreise. „Hast du ein Geschäft gemacht?" fragte sie ängstlich, so oft ich aus einer Tür trat. Sie zitterte am ganzen Körper ... Immer glaubt sie sich von allen möglichen Gefahren verfolgt. Immer denkt sie gleich an das Schlimmste. So war sie vor fünfunddreißig Jahren — so ist sie auch heute noch. „Rosa," sage ich immer, „du nimmst alles so tragisch. Sei doch fesch und vergiß die Geschäfte!" — Ich bin zufrieden mit ihr: eine herzensgute Frau! Und fünfunddreißig Jahre einer glücklich verbrachten Ehe — noch dazu mit mir! —■ sind schon eine Leistung. -— Es war keine beneidenswerte Hochzeitsreise, aber: — was tuts? — wir waren lebensfroh, wir waren jung..."-- Herr Löwenbein erzählt noch mancherlei. Es fällt ihm nicht schwer. Erlebnisse wechseln mit Erfahrungen — Malenski kann nicht immer folgen, er ist zerstreut und irritiert und Adele zeigt schon ein wenig Müdigkeit. Sie lächelt zwar, aber sie hält scheinbar nur noch krampfhaft die Augen geöffnet. Stunden vergehen — Herr Löwenbein merkt das nicht. Er spricht jind^spricht. .^_Aber schließlich rutscht er ein wenig vom Sitze hinunter, die Lider fallen ihm zu — er schläft... Auch Adele ist ganz erschöpft. Der Kopf ist in den Mantel gehüllt, er zuckt abwärts —■ — auch sie ist jetzt eingenickt.. Malenski ist seltsam zu. Mute. Hochzeitsreise ... # {Daß es nicht so kam, wie es Heinrich gewünscht hätte —'■ oder "ist es nur Einbildung, eine Wahnidee, die ihn umklammert hält? Petronides ist es nicht! Es ist nur das Teuflische, das aus "Prix und Nickel spricht._.. Doch schon die erste Nacht-- Das sind die Hotelzimmer! — Hotelzimmer sind f urchterliShTT, Sie saß am Diwan und starrte vor sich hin. Ganz leise kam er ihr nahe .. Faßte ihre Hand .. und dann ließ er die Hand langsam höher gleiten . . . und dann sah sie so flehentlich zu ihm auf . . . und dann nahm er sie um die Hüfte ... und dann schloß sie 176 177 die Augen .. . und dann zog er sie an sich heran — Stück für Stück löste er sie aus denKleidern — und dann packte ihn die bedenkenlose Macht des Besitzes .. . Und dann-- Und dann — riß sie mit einem Aufschrei die Augen auf und dann — — sah sie so wild-verzerrtTzulhmauf,To'verstehend, als wäre sie von diesem Augenblick an für immer jeder mög-lichen Selbsttäuschung entrückt.. . I i XI. ,,UnsjGxiechenUej|t^Li^ Wir lassen die Götter um unser Schicksal raufen." Sagt^e^r^nidfis^ Solche Sätze wirken hochmütig, aber —trotz allem — so sollte man vielleicht sein: — ein Mensch wie Petronides! Auch er wartet. .. wartet, wie Malenski war-I tet, wie alle Menschen warten müssen. Aber er wartet ohne Angst. Es ist nicht so, wie es Malenski an sich selbst erlebt, daß ihn heute schon das Morgen im Kopfe belästigt und daß sich dieses Morgen nicht vom Gestern lösen kann. Er sitzt im Fauteuil, die Beine übereinandergeschlagen, raucht „Ketten" — eine Zigarette nach der anderen — und hält den Kopf seitlich gedreht, wie in der Absicht, das Geschaute in einem engeren Winkel zu fassen. Auch er könnte seine Haltung verlieren, auch er ist nicht leiden-schaftslösT^her es ist, als ob sich seine Leidenschaft in stahlharte Formen, ergießen würde. 178 179 Er ist vielleicht eitel, streicht mit schmalen Fingern über den Scheitel und lächelt, wenn eine Äußerung Anerkennung findet, aber: — das ist vielleicht das Grundlegende seines Charakters, das, was ihn von Malenski unterscheidet: — er ist .selbstbewußt, unerschütterlich, er streift nicht in der Welt Jierum, sucbTmcTrthier und dort das Wahre zu ergründen, das Richtige zu tun, das Richtige zu erfahren, jagt nicht von Ort zu Ort — er offeriert sich nicht in jedem Augenblick, wie es Malenski tut... tun muß!— Er sitzt und läßt^dJ^Götterjuym^ sal raufen.. Wenn sie zu Dritt beisammen sind—allzu oft kommt es nicht vor — dann fühlt Malenski deutlich, daß es ihm nie gelingen wird, solche Menschen, wie es Petronides ist, zu begreifen. Denn Petronides ist nicht zu packen, nein, er ist fast erbarmungslos in seinem versteinerten Wesen. Adeles Laune wechselt in seiner Nähe. Minutenlang starren die Xugen in die Weite, sie versinkt in Gedanken, und sie versinkt scheinbar auch körperlich, sie senkt den Kopf, wird schwach und kraftlos und hinter ihrem Lächeln sitzt Jjljjlmiej^ oder ein resigniertes Dulden .. Malenski merkt es. Aber Malenski — hier darf er es ja sagen — liebt. Er liebt Adele, liebt sie — und das ist 180 wohl die wahre Liebe! —■ verzeihend, liebt sie mit allem, mit jeder Faser seines Ichs, er wäre stündlich bereit es ihr einzugestehen, restlos und ohne Vorbehalt... Adele wehrt sich dagegen. Immer wieder. Nicht offen. Nicht hart. Sie wehrt sich _nux-ge--gen die vertieftere Form_d|esea-JBeisammen-seins, gegen jeden Versuch, eine solche Form zu begründen und deutlich werden zu lassen, sie bleibt an der Oberfläche, will an der Oberfläche bleiben... Immer wieder versucht er ... Immer wieder versucht er^jrictijhr zu nähern, leise, mit vorsichtigen Schritten, ihr in die Augen zu schauen, sie bei den Händen zu fassen und zu fragen: „Adele, kann ich dir helfen?" Doch gerade das ist es, was Adele nicht mag. Sie erträgt solche Sätze nicht, wehrt sie ab, bevor sie ausgesprochen sind und sie blickt ihn in solchen Minuten beinahe feindlich an. Und sofort bricht dann Heinrich ab. Will nichts wissen. Stellt keine Fragen. Tut, als ob er gar nichts merken würde. Er liebt sie wirklich ... Er ist unglücklich! Nein, er ist es nicht! 181 Oder dankt er es vielleicht nur der Halbheit seines Wesens, daß er nicht völlig verzweifelt!? Er will nicht unglücklich sein! Denn es gibt ja Menschen — und zu ihnen gehört auch Malenski —, die sich nur deshalb über Wasser halten, weil sie den Kopf untertauchen. Nicht sehen wollen. Sich immer wieder sagen: es ist janichts geschehen.. . Es i s t auch nichts geschehen! Aber vielleicht ist .doch etwas geschehen? jCtwas Fürchterliches,/.. Doch nein!~Diese nagenden, immer wiederkehrenden Zweifel, die zur Verzweiflung führen können — wer hat sie entfesselt? —■ Boshaftes Gesindel! Nicht übertreiben! Damals, an jenem windigen Abend, als Prix an seiner Seite ging, dieser Prix war es, Prix, dem die Schadenfreude aus den Augen springt. Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, und wenn sich auch die Leute die Mäuler zerreißen würden!! Er ist ruhig, zufrieden, zufrieden mit allem, so wie es ist. . . Wenn Petronides nicht wäre ... Er wünscht ihm nichts Böses. Wahrhaftig nicht. Es ist nur ein Einfall, dieses: wenn Petronides nicht wäre. . . Es ist nichts erwiesen! Man darf auch das 182 Gemeine, das sich aufbläht, nicht allzu tragisch nehmen: es ist nur Klatschsucht, vielleicht nur Leichtsinn und Verspieltheit, harmloser Zeitvertreib müßiger Stunden . . . Und er selbst: ein Phantast! Wenn Petronides nicht wäre — kein Schatten könnte sein Gluck verdunkeln . . . t * Doch Petronides ist ein Schatten. I Er ist immer da, immer zur Seite, ein Teil des HajiS£S«ein Teil desJDaseins ... 7 /AdeleJ schätzt P<*ttr>n^'"< Frpnnrispliflft. Es isVöidKt mehr! Und deshalb ist ja auch Malenski nicht beunruhigt. Er ist nicht im mindesten beunruhigt. Er darf ja auch gar nicht beunruhigt sein, er ist doch Geschäftsreisender, lebt auf Reisen, Woche für Woche, treibt sich in allen möglichen Nestern herum--wenn er nun glauben sollte? —■ —■ ' Es ist keine Veranlassung, es zu glauben! Er ] darf es nicht glauben! Muß ruhig bleiben, wenn er ruhig arbeiten soll, es wäre lächerlich, kindisch, verrückt, solche Gedanken heraufzubeschwören .. . Aber Gedanken sind nicht zu umgehen. Gedanken kommen von selbst. Sie tauchen plötzlich auf, verkriechen sich, sind wieder da. Man I 183 muß eich gegen Gedanken wehren, wie gegen böse Feinde ... Es geht vorüber, es wird vorübergehen. — Man muß warten, warten — schließlich siegt doch die Vernunft, die heilige Vernunft und diese Vernunft, sagt klar und verständlich, ohne Philosophie und ohne Übertreibung: hier ist Malenski, der den schweren Kampf um seine Existenz führt und hier ist Adele, die er liebt. Aber diese Liebe, die Liebe eines Geschäftsreisenden, darf man nicht romantisch verklären, man darf nicht das Unmögliche möglich machen wollen. Der Liebende, ein idealer Lieb-haber^-unfehlbar. vollkommen, ohne störende Wirkung — das ist er nicht, kann er nicht sein, wird er nie sein, kann kein Reisender sein ... Was ist denn geschehen? Man muß den Sachverhalt bloßlegen und zu erfassen versuchen. Eingehend klarstellen, aber ihn nicht verdrehen. Adele ist eine Frau. Eine JFrau wie jede andere. Und eben doch eine Frau. -— Petronides? — Er ist ein Freund des Hauses, er ist klug, gebildet, scharfsichtig, erfahren., klüger als Malenski, kennt die Welt, sieht die Welt, ist aufklärend, anregend -—• nichts berechtigt, die Motive dieser Freundschaft anzutasten. Wenn Petronides nicht wäre ... Aber wäre denn ohne ihn das Leben für Adele überhaupt erträglich? Soll sie allein zu 184 Hause sitzen? In die dumpfe Straße starren, glücklich sein, warten zu dürfen, auf ihn, Malenski, der müde und abgehetzt zum Wochenende den Ehemann spielt? Und daß er wünschen würde, mehr geliebt zu sein. Und daß Adele ihn gerade dort zurückweist, wo er sich hochtrabend auf der Höhe fühlt? — Ein Hirngespinst! Ideale gehen nicht Jn^Erfüllung, sollen gar nichTin^ErTüllung.ge-hen, sonst gebe es ja~nicht Sehnsucht und Träume. Man muß sich zwingen, real zu schauen, sich an die Wirklichkeit halten, zwischen Ber-genjind Wolken unterscheiden lernen ... y^Weil Prix und Nickel nidfrt den Mund halten /können — ist das einejschlaflose Hotelnacht y 11 i , ,| i , , NU» Ii ~T wertZ ___ Und doch: wenn es möglich wäre — aber es ist ja nicht möglich! — wenn es doch möglich wäre: — es wäre entsetzlich! Es ist so! Es ist doch so!! Es ist die Tragik dieses Berufes! Zigeuner! Und doch: Zigeuner ohne Freiheit. Und ohne Rechte. An die Räder ihres Wagens gekettet. — Jeder Mensch auf Erden hat ein anderes Gepäck, das ihm aufgehalst wurde .. . Manche, die führen die schweren Musterkoffer mit, 180 kg, zweitausenddreihundertdreißig Artikel, heben den Deckel hoch, zeigen Stück für Stück, müssen reden und offerieren, bieten sich an, 185 j I f setzen sich, in Positur, parieren Angriffe, wehren sich und schlagen zu, eindringlich und begehrend, betteln um ein wenig Liebe, bis zur Erschöpfung, bis zur Erniedrigung — und dann sind die anderen da, die arbeiten am „Platz", das sind die Außerwählten£ die Erhabenen, das ist Petronides, das sind die, die still sitzen dürfen, die die Augenbrauen hochziehen, zu Hause bleiben, nicht reisen müssen, die nie in Schweiß geraten, die keine Bürger sind, die überlegen lächeln dürfen... Man soll nicht generalisieren, abep« chnapsmsejidg^^ckel nicht besser als|Pnx^|' Prix! nicht besser als Rapper. — Ein Scheusal ist dieser Prix! Dieser spitzige, haarlose Kopf auf dem gedrungenen Körper wird nach unten zu breiter. Und über dem Kragen quillt der rote, fette Nacken hervor. Seine Augen wandern. Er braucht Zuhörer und Bestätigung. Immer sucht er einen „Dritten" — nicht nur zum Kartenspiel! — immer suchen seine Augen einen Zeugen: er spricht nicht für den, den er angeredet hat, sondern für den, der daneben sitzt, den er vielleicht gar nicht kennt .Jfojlebt JfüiLjden Nebentisch. Und zwingend sucht er Gespräche anzuknüpfen. ,Er grinst. .. Mit ge-^he^chelter Biederkeit tritt er näße? Man merkt nicht, was er will, man weiß nicht, was geschieht, man weiß nur sofort: — es kann nichts 186 Erfreuliches sein. Erst spricht er von Geschäften, windet sich, geht nicht geradeaus — nie weiß man: geht er jetzt zur rechten oder zur linken Seite? — dann bleibt er, wie damals, vor einem Haustor stehen, dann tut er so, als ob er verlegen wäre — er ist es gar nicht! —■ und dann zieht er los: „Es geht mich nichts an (das wird schon stimmen!), es ist nicht meine Sache und nicht meine Art (es ist wohl doch~seme Art!). Sie könnten es übel nehmen . . . Sie könnten annehmen ... nur freundschaftliche Gefühle zwingen mich . .. Die Menschen sind schlecht. .. Gerüchte, nichts als Gerüchte.... Ich habe energisch widersprochen. Ich will keine Klatschgeschichten hören. Interessiert mich nicht... Jeder soll tun und leben, wie es ihm gut dünkt. . . Ich wehre immer ab—bitte, sage ich: in meiner Gegenwart unterlassen Sie solche Bemerkungen!... Schließlich aber... das Dekorum... nur um das Dekorum geht esJiier-Lv.Sie werden begreifen — es ist peinlich —• ich mische mich nie in Privatangelegenheiten, prinzipiell nicht IDasist so meine Art... Immerhin: — man sollte den Leuten das Handwerk legen . .. Ich sage nichts gegen Petronides... Es ist kein Konkurrenzneid — ich bin völlig unbeteiligt . . . Ich meine nur... ich behaupte... Sie sind mir doch nicht b Öse, Malenski... ich schätze Sie viel zu hoch . .. ich weiß auch: Frau Ge- 187 mahlin ... wäre empört. .. ich muß wohl nicht ausdrücklich betonen, daß ich selbst nichteinen Augenblick. .. Aber Sie sollten doch — die Leute reden —■... nicht jeder hat persönliche Sorgen, die ihn abhalten .... Ihre Frau und Pe-tromdes... es spricht sich herum. .. ich bin "aurrrcnug— ein gerader Michel —, wenn Sie auf Reisen sind ... es ist ja nicht leicht... ich verstehe, iehjtenn.e die Branche--Sie soll- ten da eingreifen... Verzeihung: ich habe nichts gesagt..." Malenski erschrickt. Warum sieht ihn dieses scheußliche Gesicht so teilnahmsvoll an? Nur Ruhe ... Nur Ruhe ... _JEs ist ja nichts geschehen y^alenski, jis.t nur ein wenig aus"ur5iTFassung gebracht. Aber Prix darf es nicht merken, darfnicht triumphieren. Ma-lenskTIzienTdie Uhr: „Es ist spät," reicht Prix die Hand: „Auf Wiedersehen!" packt es an. Sitzt im Nacken. Oder in den Schläfen. Es hämmert, es reißt fort, es würgt im Hals und schwimmt vor .den Augen. Die Zähne klappern. Es fährt in die Glieder, in die Gedär-— brrrr^ bald wäre man nicht mehr der nie ruhige,_repräsentative Fjejnri^^Malenski, sondern ein wütender, lmltlp.S£rjG-e^ nungsfähig, mehr Tier als Mensch, ein tollwütiges Individuum, das mit Händen und Füßen ausschlägt, dem der. Schaum aus dem Munde quillt. Erschreckend anzusehen .. Beinahe.^Niji^tieniahe^^ . Und das kam so: Es ist vorbei, es ist jetzt wieder ein Tag, wie jeder andere, man fährt in die Ferne, von Ort zu Ort. Eins, zwei, drei — bis hundert muß man zahlen, wenn das Beängstigende in die Glieder fährt. Eins, zwei, drei, vier, fünf... es kommt vom Blut. Oder von den Nerven. Es ist rätselhaft. Es ist ein Augenblick. Irgendwo 188 189 XII. „Warum spielen Sie nichj^Ltout^jis?" Das ist an sich gewiß nur eine harmlose Frage. Es wäre vielleicht klüger gewesen, ruhig weiterzuspielen. Aber so begann es. Was begann? — Die Katastrophe? DasEnde? Nichts. Es ist nichts geschehen. Man muß vernünftig bleiben ... „Warum spielen Sie nicht Atout aus?" Ein alltäglicher Vorfall, dieser bedeutungslose, vorlaute und nicht einmal zutreffende Einwand. Eher Unart als Bosheit... So sieht er es heute! Das kann vorkommen. Das darf vorkommen. Anstandsregeln sind keine Staatsgrundgesetze und die Geselligkeit der Geschäftsreisenden kein Hofball. Wenn es nicht Nickel gewesen wäre, der Schnapsreisende Nickel, der hinter ihm saß — er hätte ruhig weit er gespielt und die Frage kaum beachtet. . . Es war an einem [Sonnabend^ Ein freier Tag. Nachmittags im Cafe. Man spielte Zinkbulka. Wie immer. Malenski hatte eben einen Stich verpaßt, als ihn diese wenigen Worte aus seiner sonst so lobenswerten Fassung brachten. [Zinkbulka jist ein einfaches Spiel. Man muß kein Gelehrter sein, um es spielen zu können. Selbst gut und wirkungsvoll zu spielen — nur wenige gibt es, die es tatsächlich gut spielen —, ist noch kein Intelligenzbeweis. Aber wie in jedem Spiel, kann, man auch hier einen gewissen Instinkt walten lassen. Das Raisonmäßige ist nicht immer die glücklichste Methode. Es gibt da allerlei Probleme, die nicht klar zutage treten. Es gibt Meister des Faches — oder solche, die sich dafür halten! — und vielleicht werden die gerade Herrn Nickel meritorisch beistimmen — im gegebenen Augenblick werden selbst diese, gegen ihre bessere Überzeugung, das Blatt einwerfen. Gewiß: vier Augen sehen mehr als zwei. Immerhin wird jeder billig denkende Mensch auch Malenskis Motive anerkennen: daß es nicht unbedingt nötig ist, Atout einzusetzen, wenn man Grün sieben unter die Hand spielen kann. Es könnte richtig sein, aber es muß nicht richtg sein. In diesem Falle war überdies die Chance für Grün durch Unterlage bedingt. .. Doch zugegeben: man hätte auch Atout ausspielen können. Aber ohne Widerspruch, debattenlos, darf 190 191 man behaupten: daß Kiebitze immer klüger sind oder zu sein glauben, als die Spieler, denen sie in die Karten schauen, und daß ihr großer Verstand immer erst dann zusammenschrumpft, wenn sie selbst und auf eigene Rechnung über das Blatt verfügen. Wie immer es sei: ob es nun gut oder ein Fehler war, Atout auszuspielen, wenn die Fehlfarbe einen sichgr^jaa&üch gab — klar bleibt die Tatsache: derlKiebltzjhat ruhig zu sein, hat den Mund nicht aufzureißen, wenn ihm ein Blatt nicht zu Gesicht steht, ein Kiebitz hat sich passiv zu verhalten, und er darf seine Kritik am allerwenigsten in einem Tonfall laut werden lassen, der den Spieler mißmutig stimmen muß. Denn selbst wenn es ein offensichtlicher Fehlgriff war, der kritisiert wird, so ist er ja um so schwerer gut zu machen, je deutlicher durch die Bemerkung eines Außenseiters die restlichen Karten verraten werden . . . Unnötig, darüber zu sprechen! Nickel aber hätte vor allem ruhig sein müssen, denn gerade er müßte, wenn er nur ein klein wenig Feingefühl besäße — doch gerade daran fehlt es ihm—, dieser Nickel müßte längst bemerkt haben, daß seine Anwesenheit an Malenskis Tisch nicht eben erwünscht ist. Doch in solchen Fällen zeigen manche Leute ihre eherne, unerschütterliche Konstitution. Unausgesprochene Gedanken kommen ihnen nicht nahe. Andeutungen wollen sie nicht verstehen. Sie setzen sich an einen Tisch, der schon vollbesetzt ist und nötigen zu einer kollegialen Rücksichtnahme und Intimität, auch wenn man sie erst vor einer halben Stunde im Zuge kennengelernt hat. Man meidet sie, man nimmt keine Notiz von ihnen, man gibt keine Antwort — beim Kartenspielen genügt auch das nicht: hier sind sie völlig immun. - Der„Kiebitz kommt, bleibt sitzen, kommt wieder, käme immer wieder, auch wenn man ihn mit nassen Fetzen davon-jagen_v£Üxde-~ pferr Nickel) ist einerjvqn diesen. Den Kunden gegenüber forciert er eindeutigste Lebensform. Tut, als ob er jedes Wort, das er ausspricht, vor dem Obersten Gerichtshof verantworten könnte.JErist nicht einzuschüchtere-Nicht in Verlegenheit_zuTJoringen. Er weiß so gut, wie es die anderen Reisenden wissen, aao man Karten zum Vergnügen und nicht des Geldes wegen spielt. Er weiß das so gut, wie es Malenski weiß. Und Malenski mag ihn nicht. Vielleicht, weil dieses widerliche Gesicht noch augenfälliger als bei Rapper und Prix^^G^e-rissenheit und Tückeder Schnapsreisjenden-jRer-,, ^i'irnML.■ jiiiiii m"n"m—i—i——rr---c—»».*^ii-«3a|—■ •« rätTUnentwegt schaut er mit seinen eingeknir- fenen, kurzsichtigen Augen über die Schulter des Spielers in die Blätter — man spürt seinen stinkenden Atem — und wenn man nach ver- 192 193 geblichen Versuchen, ihn loszuwerden, die Frage stellt: „Herr! Wollen Sie die Partie übernehmen?" lehnt er kopfschüttelnd ab. Nein. Er will nicht. Er spielt nicht. Prinzipiell. Er will nur kiebitzen ■ .... Malenski aber kann nicht aufmerksam spielen — und jeder Spieler wird das begreiflich finden —, wenn der Hintermann jeden Griff in die Karten mit einem „Ssssss!"— „Unverständlich!" oder „Blödsinn!" kommentiert. .. „Bitte, Herr Nickel," sagt Malenski vorerst zu-, rückhaltend, „wir kennen einander seit einigen Jahren und es dürfte Ihnen bekannt sein, daß ich zu den tolerantesten Menschen zähle. Ich will nicht streiten. Ich lasse die Frage offen, ob Atout besser gewesen wäre. Ich möchte Sie nur eindringlich ersuchen, sich als Kiebitz ruhig zu , „.; wiMijiiiiiii.........j......»iir-T-TTj-ir-tT verhalten, sonst mußten tue oder ich diesen lisch verlassen. Jine sehen, ich bin im Verlust. Malenski war tatsächlich im Verlust, aber der kleine Betrag, rfon er verloren hatte, tat ihni^chLweh. Das war es nicht. Das läßt sich verschmerzen. Er war eben wütend, innerlich aufgebracht, geladen — zum Explodieren . . . JVickel blieb seelenruhigrProvokativ-die-Ruhe genießend. „Das können sie halten, wie es Ihnen beliebt," sagte er lächelnd, „hier ist ein öffentliches Lokal und ich darf sitzen, wo ich will. Wenn es 194 Tut Ihnen hier nicht gefällt, so gehen Sie nach Hause. Nun ja! Ihre Frau wartet gewiß schon. Sie können ja mit ihr Zinkbulka spielen. Und Pe- tromdes kanni^der^Dntt Nickel blickt ""triun^hi¥rend in Hie Runde: die Antwort saß .. . Schon wieder!--- — in diesem Augenblick kam es über Malenski: — eine Kaffeetasse liegt zerschmettert am Boden, ein Stuhl fällt um, der Ober: „Aber meine Herren!" — Malenski hat die Karten hingeworfen, reißt Hut und Überrock vom Kleiderrechen und ist auf der Straße . .. Es tobt in ihm . .. Etwas muß geschehen . :. Was? —- Was? — Wohin? Malenski rennt durch die Straßen, erregt, in stürmischer Eile, den Hut in der Hand, mit aufgerissenen Augen, immer weiter, weiter . .. Was_ging denn damals in ihm vor? Er kann auch heute darauf keine klare Antwort geben... Ihm war, als hätte er alles, was ihn an die Erde kettet, von sich geworfen. Und nur ein Satz, drei Worte waren übriggeblieben, hämmerten wie Zimmerleute an dem neuen Gebäude, das jetzt erstand: ,,£sjsjt_aus! — es ist aus!" Doch dieser Satz:^esjatju^j!i>war ohne Verzicht gedacht. Auch ohne Traurigkeit. Wie es 195 überhaupt schien, als wäre ihm mit dem eindringenden Schmerz eines Nadelstiches ein verwandelndes Gift eingeflößt worden, das wild und aufrüttelnd zu wirken begann ... Denn das Seltsame: er war nicht unglücklich. Man kann es nicht unglücklich nennen... Ir^ gendwo spürte er: Unglücklich sein heißt: vor einer Leere stehen, ohne Widerstand sein, hoffnungslos, gebrochen. Doch wo Revolte geweckt wird, geweckt werden kann — da ist auch kein eigentliches Unglück mehr. Nur im Verzicht liegt Tragik. Und nur dort ist Heinrich Malenski vielleicht bemitleidenswert, wo er seine wahre Natur verleugnen muß, zwischen Pflicht und Angst vor dem Morgen sich in seinem Zigeunerleben eine kümmerliche Bürgerlichkeit geschaffen hat, wo man glaubt, daß der Stoff, der sein Inneres füllt, nicht mehr zu entzünden ist, wo man glaubt, mit ihm, mit Malenski, nicht rechnen, ihn gar nicht beachten zu müssen. Aber er lebt, es lebt in ihm! Wie sich die Wassermassen in den geleerten Kessel einer neurangierten Lokomotive stürzen — so bricht j etzt eine Flut neuerXejbensfüUein ihn ein. .Rachel Rache! dröhnt es in ihm. Was ist ihm die Welt? Was ist ihm sein Beruf? Faßland? Die nächsten Saisonartikel? — er kennt kein Zurück! —: prasselnd und berstend fliegt alles durcheinander, wenn seine verheerende Hand hier neue Ordnung schafft. Jetzt kommt er auf. Jetzt wird er lebendig. Jetzt ist er nicht mehr gefügig und konziliant, nicht Diener mehr, sondern Herr. Nicht mehr wird er mit krummem Rücken ein gnädiges TJačEBKlžŤi!^ er sein Stückchen Brot in Sicherheit bringen will. Es „lebt" in ihm. Das wußte man nicht bisher. Ahnte man nicht. Hätte man nicht geahnt.- Auch Adele hätte es nicht geahnt.. . Man soll es erfahren! Man wird es erfahren... Jetzt geht es um die Sache! Was will er? Die Wahrheit! Mit der Unverfälschtheit seiner eigenen, wiedergefundenen Natur will ei der unverfälschten Situation gegenübertreten. Schon merkt er deutlich, wie dieser Wille, diese Bereitschaft zur Wahrheit, zur Gewißheit, sich innerlich ausbreitet und langsam verhärtet. Es wird geschehen, es muß geschehen! Bedenkenlos .. . Jetzt: — über den Platz! Menschen, Menschen, ein Briefträger, zwei Soldaten, Waldemar Laban & Comp., Wirkwaren, ein Restaurant, Tintoretto, Obst- und Südf rüch- 196 197 te, Karl Kammauf, Konfektion, „Ideal", das ideale Klebemittel, Wohltätigkeitslotterie — ein Auslagekasten — eine Waffenhandlung — Gewehre, Revolver, Pistolen, Patronen .. . Es schüttelt ihn ... Weiter, weiter ... Da ist ein Kaufmannladen — aha —, A. Ker-kauer's Witwe — sie ist sehr dick, die Frau —, jetzt schneidet sie mit einem riesigen Messer einen Laib Käse auf ... Was wird geschehen? Petronides! Er wird läuten. Sturm läuten. Ohne aufzuhören. Er wird nicht läuten! Er wird die Tür einrennen, mit aller Kraft, mit dem vollen Gewicht seines Körpers, und dann wird er plötzlich hochaufgerichtet mitten im Zimmer stehen. „Da bin ich," wird er rufen, mit hoher, gewaltiger Stimme . . . Petronides fährt zurück, mit dem aufgewühlten Entsetzen, das jeden Menschen — auch Petronides — einmal packen muß. Ha! Bist du auch nur ein Mensch? Doch jetzt keine Betrachtung! Hart, unweigerlich, unabänderlich fällt ein Schuß, fällt Schuß auf Schuß, so viele Patronen, 198 so viele Schüsse. „Was tust du da?" — Adele schreit auf... — zu Tode getroffen wälzt sich Petronides am Boden... „Adele!" — Sie taumelt — ihr Mund ist geöffnet — Blut — Blut — fürchterlich... — sie fällt — „Achtung!" — „Adele!?" — sie könnte sich verletzen ... Ent—setzlich . . . Sie ist tot. Beide sind tot. Ein Mord ist geschehen. Ein Doppelmord in der Tyboldstraße ... #'->■ Nicht so. Eetronides-muß sterben Er allein ist der Schuldige. Er ist der Maulwurf, der den Boden unterwühlt. Man muß ihn vernichten. Nicht so. Nicht so darf es sein, daß Petronides hinterrücks überrumpelt, ahnungsloses Opfer wird. Er muß wissen, daß er einer stärkeren Macht unterliegt. „Oho," wird ihm Heinrich gegenübertreten mit dem aufblitzenden^Mgssfir-in . der Hand, „oho, du Bube! glaubtest du wirklich, du konntest mich — vielleicht weil du Grieche bist? — ewig zum Narren halten? Wer _bist du jetzt, du Schöngeist mit „Horizont", Verächter des Realen, Verächter dprGps<4iäftK-reisenden, Weltverächter, mit deinem überlegenen Lächeln, du Heide, um dessen Schicksal sich die Götter raufen." 199 So rufe sie jetzt, die Götter! Wie? Du verkriechst dich? Wo bleibt dein Mut? Wo ist die noble Größe des Kultivierten? Die Haltung? Hochstapler! Deine Stunde hat geschlagen: — ein Kind des Todes .. .hörstdu? ein Kind des Todes! Wiederhole es: Du bist ein Kind des Todes! — Jetzt, jetzt kommen sie einander näher, mit den Händen schlägt Pe-tronides aus, will in die Augen fahren: „Hände weg!" — Ein Schlag mit der Faust in die Kinnlade — Du wimmerst? Warte nur, ich stopfe dir das Maul! — Wozu das Messer? — Weg mit dem Messer! — Und nahe an ihn heran: jetzt geht es an den Kragen... hat ihn schon, hat ihn schon bei der Kehle — kiiih — ein verzweifeltes Röcheln, ein letztes Schnappen — haltlos brechen die Knochen zusammen — es ist geschehen .. . # Was nun? Was nun? Weg! Verschwinden! Wohin? — # Stimmen werden laut: das sind sie! Ein Schrei — das ist Marie — das Dienstmädchen — die Nachbarsleute — was geht das denn die Frau Kollin an? — Tumult! — Nichts verlieren! — der Orderbleistift! — Jetzt blitzschnell die Straße hinunter — unten: — eine Menschenmenge — laufen — laufen — schon fassen sie ihn ... — „Malenski!!"„Malenski!!!"—diegan-ze Stadt ist auf den Beinen —- „von Faßland!" — laufen — laufen —: sie habgnJhnL==^Ini Namen des Gesetzes!" — Hoher Gerichtshof! Meine Herren Geschworenen! — Verzeihen Sie, bitte, wenn ich Sie hier mit einer Privatangelegenheit belästige. Es ist etwas Fürchterliches geschehen und dieses Fürchterliche muß nach den Gesetzen gerichtet werden. Wenn Sie mich fragen, oh ich die Tat begangen habe, so kann ich nur mit einem lauten und vernehmlichen Ja antworten. Wenn Sie mich aber fragen, ob ich schuldig bin, so sage ich mit fester Stimme: Nejn! Ich bin un-_ gchuldig. Schuld ist, schuld sind — doch nein: — das wollte ich nicht vorbringen — ich will niemandem die Verantwortung aufbürden — das ist nicht meine Art — ich — ich bin Geschäftsreisender, Vertreter der Firma A. Faßland & Sohn, Kurz-und Galanteriewaren-Engros — ich — ich bin beliebt und angesehen, ob Kundschaft oder Konkurrenz — man wird in Branchekreisen meinen Namen nicht ohne Ach- 200 201 tung nennen. — Ich reise seit vielen Jahren — und ich darf behaupten — prima Referenzen! — Ich wollte ursprünglich Fleischhauer werden — der Berka —, ja, aber ich bitte daraus keine falschen Schlüsse zu ziehen. — Wenn Rapper nicht gewesen wäre — d. h. eigentlich war es der Generaldirektor — und der Tod des alten Grab — oder Kappus — die Gewürzkartons — Verzeihung, meine Herren — ich will Sie nicht lange belästigen —, ich weiß, oft fehlt die Zeit, einen Geschäftsreisenden zu empfangen — es ist gar nicht so: eines Tages war eben Petronides da — ich habe ihn nicht gehaßt — es wäre ein Mißverständnis, wenn man annehmen würde, daß ich ihn gehaßt habe —, es galt nicht ihm, es galt mir, es ging um mich — Sie müssen das begreiflich finden —, ich bin ein einfacher Mann, ich habe nie allzuviel erwartet — ich bin auch nicht jähzornig, wie es Löwenbein ist —, ich möchte nur feststellen: — jpJL^a^e Afek^gefobt ~ so geliebt, wie man eine Frau nur lieben kann — und wenn Ihnen das vielleicht auch lächerlich und pathetisch erscheint, weil Sie vielleicht nicht mit Unrecht annehmen werden, — daß ein Geschäftsreisen-der — zu verhärtet ist, auch nicht feinfühlend sein darf — es ist richtig: — in uns — die wir so ruhelos leben — können sich Gefühle — nicht rein entwickeln — sie können uns höch- 202 i I stens irritieren — vielleicht zum Wahnsinn treiben — ich bitte Sie aber, mir zu glauben: ich habe Adele geliebt — und ich habe sie geachtet — und ich hätte niemals annehmen können — daß Petronides — es ist auch nicht möglich! — Ich kann reden — ich behaupte — es ist gewissermaßen die Voraussetzung meiner Existenz, reden zu können — aber in diesem Falle — fällt es mir schwer, mich verständlich zu machen — Geschäftsreisende können sich nicht lange aufhalten, sie müssen immer weiter, weiter . .. Geschäftsreisende — alle sind so — weichen aus, den Kirchturmspitzen und allem, was bedeutungsvoller werden kann — sie sind eben „portalscheu", auch ich war „portalscheu*' — eigentlich bin ich es heute noch — aber man darf daraus keine falschen Schlüsse ziehen — im entscheidenden Augenblick: — meine Ehre stand auf_dem_Spiel — ich habe zugeschlagen ... # Nein. Vornehmer. Stärker. Wirkungsvoller. — Mein Herr! Ich möchte mit Ihnen sprechen. Noch einmal. Zittern Sie nicht! Ich nehme an, daß Sie als Gentleman meinen Standpunkt würdigen und keine Ausflüchte suchen werden. Ich bin vielleicht nicht so exklusiv wie Sie — ich bin nicht Teppichhändler— verstehen Sie? — ich bin auch nicht Grieche, ich bin nur ein / 203 II gewöhnlicher Bürger, Malenski, Vertreter der Firma A. Faßland & Sohn — gestatten Sie —, aber Sie täuschen sich, wenn Sie annehmen, daß Sie mich zum Narren halten können. —Es würde mir jetzt freistehen, mich so zu verhalten, daß Sie dieses Zimmer nicht mit geraden Gliedern verlassen, ich ziehe es aber vor —■ im Interesse meiner Gattin—jeden Skandal zu vermeiden— ich verstehe —Adele — bleib ruhig! — Ich fordere Sie auf — eine Erklärung abzugeben — kein Wort, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist! — hier ist Tinte —'- und Papier — schreiben Sie: „Ich erkläre hiermit feierlich, von heute ab jedwede ... C Adele hi f, ^--\ * ^Besser soft Sehr geehrter Herr Petronides — nein, Herrn Petronides: — Mit Vorliegendem teile ich Ihnen mit — Mit Erhalt dieses Schreibens wollen Sie — Herr Petronides: —/Xclyteile Ihnen mit, daß ich — Hiermit ersuche~ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen — und ich erwarte, daß Sie meinem Verlangen in jeder "Weise entsprechen werden — Zweck dieses Briefes ist — , Nicht sol Das ist Wahnsinn. ~Er wird mit Adele sprechen. Nur mit Adele. Was kümmert ihn Petronides? — Er wird vor 204 Adelejbiintreten, sie anschauen, mit dem festen nrrck'aes Verstehenden. Sein Auftritt muß ein Appell an ihre tiefere Einsicht sein. Adele — wird er sagen ■— ich weiß — es ist nicht so — wie es die Leute auslegen —aber bedenke doch — wie immer es ist— es ist nicht so, wie Nickel heute in seiner heimtückischen Art —■ ich bin ja schon ruhig — du glaubst, daß ich dich nicht zu schützen weiß? — Du irrst —■ ich gehe jetzt zurück — und mit diesen beiden — nein, nein, ich weiß — du liebst solche Szenen nicht — ein Geschäftsreisender soll kein Phantast sein — das waren deine Worte —: aber ^ Adele't:Fr du hast mir so furchtbäPeii Schmerz bereitet — ich üb er treib e nicht—glaub e nicht, daß ich üb ertreibe — ich komme nur, von dir Abschied zu nehmen, es ist aus, aus zwischen uns, aus mit mir —ficl^ nehme Abschied— leb'wohl —Adele— * Malenski ist plötzlich außerhalb der Stadt. Er wollte ja der Wohnung zu, nun ist er in die entgegengesetzte Richtung geraten . .. „Ich muß die Konsequenzen ziehen," denkt er. „Ich kann nicht die Konsequenzen ziehen — ich — ich — das ist der Widerspruch in mir — von da kommt alle Ruhelosigkeit und Ungeklärtheit — ich werde sterben — man wird mich einscharren — begraben — und Faßland 205 — wird einen Nachfolger finden — wen? — Vielleicht Kappus? — Vielleicht Mertens? — Die Kunden werden abfallen — keiner wird übrig bleiben — die Firma wird zugrunde gehen — es ist aus — Schluß — Ist Schluß? Wird Schluß sein? Wo kommen denn so gräßliche Gedanken her? — So grundlos. So überspannt. Was will er denn? Die Wahrheit! Nein, er will sie nicht, die Wahrheit,! Reisen, reisen ... laufen ... immer weiter weg von söIchenTEJlöbnis, hur weg!! Diesen Nibkel Yoirt^man keines Blickes würdigen. Es ist doch nichts geschehen! Man muß es immer wieder wiederholen: — es ist nichts geschehen . . . Es wird auch nichts geschehen! Denn das Leben geht nach dem Wind, wir müssen weiter von Ort zu Ort, dürfen den Anschluß nicht versäumen, müssen reden und offerieren, zweitausenddreihundert dreißig Artikel — — — und so kehrt Heinrich Malenski ins Cafe zu-—r-Ück, eine neue Partie Bulka kam zustande — Nickel war übrigens nicht mehr zu sehen —: „Wer gibt?"--- Heinrich Malenski: — das halbe, unerforschte Abenteuer der — Natur und wahrem Wesen entrückten — Alltäglichkeit. In jedem Menschen — und wenn es auch nur ein Geschäftsreisender ist — lebt die Gewalt der Wildnis weiter . . . Doch so, wie das Tier im Käfig vergeblich an den Stäben rüttelt, bleibt auch dem Menschen, wenn ihm Kraft fehlt, sie zu durchbrechen, Anteilnahme versagt ... 206 ©1987 Kurt Pohl MALENSKI AUF DER TOUR erschien erstmals 1930 im Erich Reiss Verlag, Berlin. Vermutlich ist es Otto Roelds einziger Roman. Aber, die Suche reizt uns. CoverArt Uwe Göbel, München Faksimile Günter Mayr, Donauwörth Druck MaroDruck, Augsburg Bindung Thomas Buchbinderei, Augsburg ISBN 3-88288-012-0 Verlag Pohl'n'Mayer Hoher Weg 9 • 8851 Oberndorf " Karl H. Mayer über Otto Roeld: \^ In den 20er Jahren lebten ambitionierte Autoren unter sehr zweifelhaften Umständen. Die ungewissen Verhältnisse der Zeit förderten die Bildung von Legenden, das Spiel mit dem Inkognito. Viele waren Juden, alle schrieben „entartet" oder sittengefährdend. Man erfand für den Freund die Position eines Plantagen-Besitzers bei Barcelona oder die Liebesgeschichte mit einer Züricher Fabrikanten-Witwe. Als noch niemand wußte, was alles geschehen würde, war das sicher ein amüsantes Spiel. Auch Otto^Rosenfeld mag sich über die Beschreibung seines Zeitgenossen Walter "geTner als eleganten Betrüger amüsiert haben, zu dessen v'erbreitung~das ..Präger Tagblatt" mit einem Artikel beigetragen hat. Otto Rosenteld arbeitete dort als Redakteur. Im Gegensatz zu Serrier waf Seine literarische Produktion spärlich. Als Otto^.Bobby" Rosenfeld 38 Jahre alt war., erschien sein ersterUrrd einziger Koman unter dem Pseudonym „Otto Roeld" beim Erich Reiss Verlag in Berlin. Roeld alias Rosenfeld und Serner alias Seligmann teilen ihre Zeitgenossenschaft. Die Wirklichkeit hinter Inkognito und Legende war banal und brutal. Von Semer weiß man es seit Thomas Muchs Recherchen ziemlich sicher, von Roeld nimmt man es an: über Theresienstadt führte ihr Weg jnLdiejGaskammer einesKZs im Osten. ~ ~ Kurt Pohl über Vertreter: „Alles auf Erden kann man verkaufen, wenn man es nur anbietet", schreibt Otto Roeld 1930. Das Gewicht des Verkaufs hat sich verstärkt, seit Waren sich immer ärmlicher und im Überfluß vorhanden sind. Der Kunde hat die Wahl, der Vertreter die Strategien. Werbung und Propaganda, Überzeugen und Verhandeln werderTniclTt^dem Zufall und der Mißgunst der Stunde überlassen. Die Chance des schnellen Abräumens ist eine der Anziehungskräfte des Berufs. Eine andere ist die Tour, das Unterwegssein. Der Vertreter im Angestelltenverhältnis heißtReisfeader. Reise, Tour, Gebiet, Distrikt, Rayon, unterwegs. Der Vertreter steht am Feierabend in der Fußgängerzone und blickt traurigen Büstenhaltern nach. Aber Hotels und Bars in fremden Städten sind immer noch für Überraschungen gut.Heute hier und morgen dort unter Spesenabzug. Auf der Strecke bleiben Vermutungen über Heinrich Malenski und seine Kollegen: die Jalousie im Rückfenster ihres 5er BMW, Schutz vor rasanten Fotos; Sexualdelikt am Zonenrand, der Tat dringend verdächtigt wird der Futtermittelreisende Harld F. (53); oder, ist der Mann von der Versicherung wirklich ein Agent? t i Lotet „(Dr^is^^rolan SE-ielona ^jürct, Harri ■ war überrascht, hier in einem ganz miesen Laden ein paar Bücher von APohl'n'Hayer zu »finden. Aber Jovanka zeigte mir auch hier den Weg. John gante i3t wirklich eine wunderbare Entdeckung für Deutschland. Seine beiden Komane "Unter Brüdern" und "Warten auf Wunder" sind witzig, klar und ruppig geschrieben. Dazu die schönere Ausstattung der Bücher. ... nur I0.000 und 12.5oo Zloty. Bukowskia Begeisterung, kein Wunder! Otto Üoelds "jiialenski auf der Tour" ist eine Ausgrabung aus den 30ern. Hichtig rasant und mythisch ist so ein Vertreter-Roman - lange vor Arthur Miller, ca. 12.5oo Zloty. BitD, jetzt sind Daniel Dubbe und Kiev Stingl. Dubbes skI "'Wilde Männer, wenig Frauen" (75oo Zloty) enthält ürzählungen ohne Umweg (FAZ oder so). Stingls Gedichte "Flacker in der 2±s' Pfote" erreichen ohne Überraschung einen zeitlosen Btatus, 3.Auflage^: für 6ooo Zloty. "Tempo Gity" von Brödl ist auch wieder da. Weißt eh, der dritte Mann ne^er dies. Mne schnelle Geschichte, 75oo Zloty. Genieße die Pohl'n'lylayer-Werke.Hoffe, wir sehn uns in Triest Ä^yer **Ldea ie»^ Verlag 8851 SbSdorf? Wefi 9'SS** i 1