1 Woran denkt der Denker? Diese Skulptur kennen wir alle, oder fast alle. „Der Denker“, von Rodin. Kopien davon sind auf der ganzen Welt verteilt. Von Paris über Shanghai, bis nach Recife und Moskau. Eine monumentale Bronzefigur, ein Mann der nachdenkt, Tag und Nacht, seit 1880. Wir, wiederum, denken über ihm nach, und fragen uns: woran er wohl denkt? Die Skulptur stellt einen sitzenden Mann dar, leicht nach vorne gebeugt. Der rechte Ellbogen ruht auf dem linken Knie. Das Kinn auf der Faust. Bevor er der Denker genannt wurde und 1,80 Meter maß war die Skulptur als Teil des Höllentors gedacht. Eine Auftragsarbeit Rodins für den französischen Staat an der er viele Jahre gearbeitet hat. Die Figur misst dort nur 70 Zentimeter, und heißt „Der Dichter“ oder „Dante“. Und worüber denkt Dante nach? Über die Verdammten, deren Qualen er beobachtet – das Leid der Menschheit, inspiriert von der Göttlichen Komödie und ihrem berühmtesten Kapitel, die „Hölle“. Rodin ließ sich von anderen denkenden Figuren inspirieren, wie etwa Dürers „Melancholie“ (Melencolia I) oder „Ugolino“ von Jean-Baptiste Carpeaux. 1888 nimmt Rodin die Figur aus dem Höllentor heraus, er vergrößert sie und macht sie zu einer eigenständigen Skulptur, dem „Denker“. Und worüber denkt dieser nach? Vielleicht über die Tür aus der er herausgeholt wurde. Ach ja, können Gedanken eigentlich materialisiert werden? „Denken ist traditionell immateriell, doch immer mehr Philosophen und Neurobiologen erklären, das Denken würde in der Materie erstehen und sich aus Emotionen heraus entwickeln“. Rodin sagte über seinen gleichzeitig Stärke und Verletzlichkeit ausstrahlenden Denker: „Mein Denker denkt nicht nur mit seinem Kopf, sondern mit jedem Muskel in seinen Armen, seinem Rücken und seinen Beinen, mit seiner geballten Faust und seinen gekrümmten Zehen“. Schriftsteller Rainer Maria Rilke, damals Rodins Sekretär fügt hinzu: „Sein ganzer Leib ist Schädel geworden und alles Blut in seinen Adern Gehirn“. „Die Skulptur an sich ist extrem stark und extrem paradox: gleichzeitig kraftvoll und zerbrechlich. Sie ist die bildliche Darstellung des Denkens“. Rodin formt einen ambivalenten Gedanken, unverfälscht und universell. „Rodins ‚Denker‘ verkörpert keinen bestimmten Denker, steht auch nicht 2 für den Philosophen an sich. Er ist vielmehr die bildliche Darstellung des unbestimmten Gedankens im Allgemeinen“. 1906 wird der Denker vor dem Pantheon aufgestellt, dem Tempel der französischen Denker. Dort wacht er über Voltaire, Rousseau, und Victor Hugo. Für die Sozialisten wird die Skulptur zum Symbol der Demokratie und Treffpunkt vieler Demonstrationen, bis der Staat die Figur 1922 entfernen lässt. Neben der symbolischen Bedeutung stört man sich auch an den großen Händen und Füßen. Der Denker wird als Gorilla, oder wütender Orang-Utan bezeichnet. Warum die Aufregung? „Die Figur ist nicht schön im klassischen Sinn. Die Pose des Denkers wiederspricht tatsächlich den noblen Gesten feinsinniger Denker, und die Skulptur wiedersprach allen Proportionen und Diktaten des Modells der griechischen Schönheit“. Doch der Bruch mit traditionellen Konventionen macht auch einen Teil ihres Erfolgs aus. Viele bekannte Persönlichkeiten lassen sich in dieser Pose fotografieren, immer wieder taucht der „Denker“ auf, verändert, verzerrt, verfremdet. Mann schmückt sich mit ihm, imitiert ihn, parodiert ihn, macht sich über ihn lustig. Dem „Denker“ werden viele Gedanken zugeschrieben. Zahlreiche Bildhauer lassen sich von ihm inspirieren, bis zum Video- und Medienkünstler Nam June Paik, der aus ihm einen Narziss macht. „Der Denker“ sieht sich im Fernsehen dabei zu, wie er nachdenkt. Ist der Denker nicht auch die Darstellung seines eigenen Schöpfers? Denn wo finden wir die Skulptur auf Rodins Anwesen? Über seiner Grabstelle. Wie Dante, der über die Hölle nachdachte, beugt sich der Denker nun über seinen Schöpfer – ein klarer Ausdruck von Selbstreflexion. Und eines ist sicher: über die Gedanken des „Denkers“ werden wir noch lange nachdenken.