l. Die Ausbreitung des Totalitarismus Prognosen Was das 20. Jahrhundert ist und war - darauf sind im Laufe der letzten achtzig Jahre viele höchst verschiedene Antworten gegeben worden. Aber die meisten Interpretationen der Zeit gehen doch dahin, das Jahrhundert als Einheit zu sehen und unter ein bestimmtes Signum zu stellen. Das mag eher überraschen, wenn man die tiefen Brüche bedenkt, von denen unser Saeculum zerrissen wurde - und die ungeheuren Veränderungen sieht, die es über die Menschen und Völker, Gesellschaften und Staaten gebracht hat: besonders die großen Gegensätze und Konflikte des rapiden Modernisierungsprozesses, der die ganze Erde erfaßt und erschlossen hat, sie aber auch fortdauernd und zunehmend bedroht. Bemerkenswert verschieden und widersprüchlich sind von Anfang an die Erwartungen und Deutungen der Zeitgenossen. Um nur vier Beispiele aus dem ersten Viertel des Saeculums zu geben: Für westliche Liberale wie H. G. Wells oder Präsident Woodrow Wilson war es das Jahrhundert der Demokratie und des Fortschritts; für die Revolutionäre von links das Jahrhundert des Sozialismus, das dem Mythos der siegreichen Arbeiterklasse folgte; die Ideologen von rechts wie Houston Stewart Chamberlain und Alfred Rosenberg stellten das Jahrhundert unter den »Mythus« der Rasse, dem Millionen geopfert wurden;1 doch für einen konservativen Protestanten wie Otto Dibelius war es andererseits sogar »Das Jahrhundert der Kirche«, wie sein gleichnamiges Buch von 1926 programmatisch verkündete, das neue Chancen für Religiosität erwartete, ja die christliche Kirche als Bollwerk des Abendlandes und geistige Heimat sah.2 Es wurde aber nicht zuletzt für viele Menschen und Völker das »Jahr- 1 Jacob Katz, Trom Prejudice to Destruction. Anti-Semitism iyoo-1933, Cambridge/ Mass. 1980, S. 303ff; Fritz Nova, Alfred Rosenberg. Nazi Theorist of the Holocaust, New York 1986. 2 Vgl. Andreas Lindt, Das Zeitalter des Totalitarismus. Politische Heilslehren und Ökumenischer Aufbruch, Stuttgart 1981, S. 92. Zum historischen Gesamtzusammenhang meine Bücher Europa in der Krise. Innengeschickte und Weltpolitik seit 1917, Frankfurt-Berlin-Wien 1979, S. 32 ff.; Geschichte und Gewalt, Berlin 1981, S. 127ff. IS hundert der Wölfe« - so Nadeshda Mandelstam 1971 -, ja das Jahrhundert des Totalitarismus. Und das blieb es auch nach dem Untergang Hitlers und dem Tod Stalins, mit der Fortdauer der Diktaturen und ihrer weiteren Ausdehnung und Vermehrung in aller Welt: Es blieb das Jahrhundert der totalitären Verführung, also des potentiellen Totalitarismus auch in veränderten Formen. Blicken wir noch einmal auf diese vier Prognosen, die so extrem weit auseinander zu liegen scheinen, dann erkennen wir doch ein Ähnliches: nämlich die Erwartung gewaltiger Veränderungen unter einem großen, alles beherrschenden Prinzip, das den Umbruch und die neue Welt verheißt. Ein glaubensmäßiger, ja apokalyptischer Ton ist vernehmbar, der die rationalen Zivilisationsdeutungen übertönt. Denn die Erwartung, unter der die Westmächte den Ersten Weltkrieg führten: »to make the world safe for democracy« (H. G. Wells 1914), erfüllte sich nicht. Vielmehr waren danach die zwanziger Jahre umgetrieben von den tiefen Zweifeln der Kulturkritik, den nihilismusnahen Krisenphilosophien des Existenzialismus, der erschütternden Umwertung von Werten und den apokalyptischen Parolen vom »Untergang des Abendlandes« (Spengler 1918). Und eben daraus zog auch Dibelius seine P?role vom Jahrhundert der Kirche: der Zusammenbruch der alten Ordnungen 1916 ui iu die Drohung des Bolschewismus, so hieß es hier, schaffe gerade freien Raum für cii.c große Zeit der Kirche - als »eine Mauer..., die die christliche Kultur des Abendlandes schirme, nachdem kein Staat sie mehr schützen will«. Das aber war vor allem auch der Ansatzpunkt des konkurrierenden Phänomens: der totalitären Verführung durch ideologisierte Bewegungen und Regime. Karl Barth nennt sie dann drastisch die »Fratze Gottes«. Denn statt einer Erneuerung der Kirchen angesichts der Entwick-Iungs- und Modernitätskrise des Christentums kam der Aufstieg politischer Religionen. Die Autonomisierung von Staat und Gesellschaft, die Säkularisierung aller Lebensbeziehungen trieb den Wunsch nach neuen umfassenden Bindungen hervor, die nun freilich mehr denn je zuvor in der Geschichte zum politischen Irrationalismus, zur Vergötzung politischer Ideen, Bewegungen und Führer verleiteten. In der Tat wird der scheinbar unaufhaltsame Fortschritt von Wirtschaft und Gesellschaft im Zeichen rationaler Wissenschaft und Technik und einer weltweiten Ausdehnung moderner Zivilisation schon seit der Jahrhundertwende immer nachhaltiger in Frage gestellt. Es sind die erschütternden Brechungen des Fortschritts in den großen Kriegen und Krisen unseres Jahrhunderts, von Kulturkritikern wie Nietzsche lange schon antizipiert und dann doch weithin unerwartet erfahren, die viele rationale Gewißheiten zerstören und Europa für irrationales Denken empfänglich machen. Ideologisie-rung und Fortschrittskrise werden zum faszinierenden Antrieb - und zum Alptraum. Der Kampf der Ideen und Ideologien vermag lange gehegte Wert- und Moralordnungen umzustürzen. Daher auch jene neue Schärfe und jener umfassende Totalitätsanspruch, die den Vorgang der Ideologisierung in Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur kennzeichnen. So kommt es seit der Jahrhundertwende in rascher Folge zur Vorbereitung und Durchsetzung hochideologisierter Diktaturregime. Die sie tragenden Gruppen und Parteien vertreten einen unerbittlichen Realisierungsanspruch absolut gesetzter Gedanken von äußerster Zuspitzung und Radikalität. Ob nun konservativer, demokratischer oder sozialistischer Herkunft, bilden diese ein brisantes Gemisch von links- und rechtsradikalen, von progressivistischen und romantisch-reaktionären Antriebskräften. Die alte Frage nach der Bedeutung politischer Ideen im Verhältnis zur politischen Realität rückt nun in ein ungleich schärferes Licht. Der umstrittene Begriff der »Ideologie«, der ideellen Begründung politischer Herrcchaft erhält eine Schlüsselrolle in den großen Auseinandersetzungen um die »richtige« Weltanschauung des Jahrhunderts. Und die meisten Ideologien erheben zugleich Anspruch auf die Gestaltung des »Fortschritts«, ja treten als seine weltgeschichtlichen Träger auf. Beide Begriffe bedürfen immer aufs neue der Klärung. Wir leben in einem Jahrhundert der Ideologien. Die optimistische Rede von einem baldigen »Ende des ideologischen Zeitalters« hat sich ebenso als Täuschung der fünfziger Jahre erwiesen wie das Wort vom Niedergang der Intellektuellen.1 Nicht die »Erschöpfung« oder das »Altern« politischer Ideen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern eine Neuaufladung ideologischer Energien und intellektueller Verführungen bleibt kennzeichnend auch für die Epoche der nacheuropäischen Modernisierung der Welt. Dies verbindet die zweite Hälfte des Jahrhunderts mit den Ausbrüchen und Irrungen der ersten Jahrzehnte, die seit den sechziger Jahren geradezu eine Reprise erleben. Nun ist von neomarxistischen, neoliberalen, neokonservativen Bewegungen die Rede: »neu« oder nicht, das ideologische Bedürfnis ist jedenfalls nicht gestillt. Auch nicht mit der Einsicht, daß Europa nur 1 So seinerzeit Daniel Bell, The End of Ideology. Ott the Exhaustion of Politkal Ideas in the Fifties, Glencoe i960, S. 3 69 ff; heute wieder Peter Bender, Das Ende des ideologischen Zeitalters, Berlin 1981; ferner Thomas Molnar, Kampf und Niedergang der Intellektuellen, München 1966 (The Decline ofthi Intellectuals, New York 1962). 14 15 noch fähig scheint, Entwicklungen nachzuvollziehen, die anderwärts in Gang kommen, zumal in Amerika und der Dritten Welt: Studenten- und Jugendrevolten, Anti-Vietnambewegung und Entspannungspolitik, zuletzt menschenrechtliche und erneut neokonservative Impulse aus der Neuen Welt. Jahrhundertwende Dem Zeitgenossen des ausgehenden 20. Jahrhunderts erscheint nach zwei europäischen Bruderkriegen, die zu Weltkriegen wurden und das bisherige Staatensystem umgewälzt haben, das vorangehende 19. Jahrhundert als eine ungleich harmlosere, fast eine gute alte Zeit. Sie stand im Zeichen des Fortschrittsoptimismus und eines Zukunftsglaubens, der auch durch verschiedene »Kabinettskriege« nicht gestört und noch verstärkt wurde durch das Erleben von populären Volkskriegen im Zeichen der nationalen Erhebung: durch die französischen Revolutionskriege ausgelöst und durch die Auflösung oder Umwandlung von Imperien in Nationalstaaten ermöglicht. Der Kontrast zu unserer heutigen Zeit des Pessimismus, ja einer teilweise apokalyptischen Endzeitstimmung (»In letzter Stunde«, 1982),1 könnte nicht größer sein. Undin der Tat: die Scheidelinie verläuft ziemlich genau um die Jahrhundertwende - mit dem Endpunkt des Weltkriegsausbruchs von 1914, dieses ersten technischen Massenkrieges. Wie war es möglich, daß Jahrzehnten der zunehmenden Friedenssicherung, der scheinbar definitiven Fortschritte in der humanitären Abschaffung der Sklaverei und der Zähmung des Krieges durch Völkerrecht die ungeheuerlichsten Rückfälle in die Barbarei folgten: auf den Ersten der Zweite Weltkrieg, Völkermord und innere Unterdrückung, Arbeitsund Konzentrationslager, Totalisierung des Krieges durch Einbeziehung der Zivilbevölkerung, Exilierung, Deportation und Massenaustreibung, dann aber umgekehrt nach 1945 auch Ausreise- und Bewegungsverbot gegen die eigenen Staatsbürger, samt drakonischer Bestrafung von Staats- oder Republikflucht - und dies alles im Namen des Volkes, einer angeblich besseren, endgültigen Volksherrschaft? Wie weit ist dies wirklich die Bilanz unseres Jahrhunderts, das es in seinen zerstörerischen Ausmaßen von der bisherigen Geschichte der Menschheit und vor allem auch Europas, des sich christlich nennenden Abendlandes abhebt? 1 So das gleichnamige Buch mit endzeitlichen Aufrufen von Waker Jens (Hrsg.), H. Albertu, G. Bastian, E. Eppler, H. Richter u. a., München 1982. Wenn wir die Geschichte dieses Jahrhunderts heute fast ganz überblik-ken können, so treten auch die großen Zäsuren und Weichenstellungen, die Entscheidungen und Versäumnisse deutlich hervor. Besondere Bedeutung kommt nach den beiden Weltkriegen dem tiefen Einschnitt um die Jahrhundertmitte zu —1945—, dessen Folgewirkung bis heute bestimmendes Gewicht besitzt. Die großen Konstellationen der Weltpolitik und auch die innere Verfassung der heutigen Gesellschaften und Staaten datieren wesentlich aus den späten vierziger Jahren, und auch der Beginn der Dritten Welt mit ihren neuen Staaten geht darauf zurück.1 Ähnliches gilt für den Beginn unseres Jahrhunderts. Hier war es der plötzliche Stoß der großen Veränderungen um die epochale »Wasserscheide« der Jahrhundertwende2 - der neben den Fortschrittsgefühlen auch schon die Krisenstimmungen des technischen Zeitalters hervorbrachte. Von den Ahnungen des fin de siecle fuhren sie zum Katastrophendatum des Ersten Weltkriegs. Es sind zahlreiche weitere Daten und Epochenzusammenhänge, die zur Charakterisierung und zum Verständnis der verschiedenen Dekaden dieses Jahrhunderts dienen können, nicht zuletzt der Einbruch der großen Wirtschaftskrisen, die als Arbeitsund Gesellschaftskrisen wie 1929-33 das politische Denken und Verhalten aufs nachhaltigste beeinflussen und beeinträchtigen. Aber entscheidende Bedeutung besitzt doch vor allem das Auftreten eines neuen Phänomens in der Geschichte der Menschheit, über dessen Herleitung und Fortdauer bis heute tiefe Meinungsverschiedenheiten in Politik und Wissenschaft herrschen: das Phänomen des modernen Tota-litarismus. Es ist nur zu verstehen als Folge der großen Labilität und Unsicherheit des aus bisherigen Bindungen gelösten modernen Menschen, der nach neuer Identität sucht und danach strebt, sein Idealbedürfnis zu befriedigen. Und zwar in durchaus verschiedenen Formen: sei es als Intellektueller in Bewunderung perfektionistischer politischer Lösungen, sei es als vereinsamt-isolierter »Massenmensch«, der einer betäubenden Kollektiv- und Gemeinschaftssucht anheimfällt - vor allem in Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Krisen.3 1 Vgl. K. D. Bracher, Europa in der Krise, S. 286 fr. 2 Jan Romein, The Watersked of two Eras, Europe in igoo, New York 1978. 3 Die Kontroversliteratur zum Totaliearismusproblem ist ins Uferlose angewachsen. Grundlegend nach wie vor: Leonard Schapiro, Totaiitarianism, London 1972; vgl. Er-nest A. Menze (Hrsg.), Totaiitarianism Revisited, Port Washington, N. Y., 1981; Manfred Funke (Hrsg.), Totalitarismus, Düsseldorf 1978; K. D. Bracher, Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, erweiterte Neuauflage, München 1984. Zuletzt Walter Laqueur, in: Kontinent} (1986), S. 18 ff. 16 17 Die drei Dimensionen Ich möchte zunächst vom Entstehen und Ausgreifen, dann von den großen Weichensteilungen totalitärer Politik sprechen. Der Totalitarismus breitet sich seit Ende des 19. Jahrhunderts in drei großen Dimensionen aus: 1. Die Entfaltung totalitärer Ideologien geschieht vor allem im Klassenkampf- und Rassenkampf-Denken. 2. Der Aufstieg totalitärer Bewegungen wird durch die politisch-sozialen Erschütterungen der Modernisierung und des Ersten Weltkriegs beschleunigt. 3. Der Aushau totalitärer Herrschaftssysteme schließlich vollzieht sich im Vakuum der Nachkriegskrisen, zumal des Scheiterns der neu begründeten Demokratien. Es waren die siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, in denen sich diese Entwicklungen bereits sichtbar vorbereiten. Ideen- und geistesgeschichtlich kommt dabei aufwühlenden Ereignissen wie der Kommune in Frankreich 1871 und den großen Wirtschaftskrisen der Gründerzeit mit der Folge einer radikalen Kapitalismuskritik fortwirkende Bedeutung zu. Denn sie fuhren einerseits zur Verschärfung und Radikalisierung des Sozialismus im antiliberalen Sinn der marxistischen Doktrin, mit der Parole von der Diktatur des Proletariats; andererseits kommt es zur rassistischen Zuspitzung des Nationalismus und Antisemitismus, mit der Folge biologischer, pseudo-darwinistischer Gesellschaftstheorien, die anstelle des Klassenkampfes den Völkerkampf, das Freund-Feind-Verhältnis und das »Recht des Stärkeren« zum Grundprinzip des Politischen erheben. Beide Extremideologien berufen sich auf die umstürzenden Erkenntnisse Darwins und die moderne Wissenschaft, ja sie treten selbst mit dem Anspruch wissenschaftlicher Unfehlbarkeit auf. Diese Front des Antiliberalismus sowohl von rechts wie von links ist es, die sich in der Kulturkritik und im Zivilisationspessimismus zu einer explosiven Mischung verdichtet und die Gedanken liberalen Fortschritts und demokratischer Kompromißformen, die in Mittel- und Osteuropa erst ganz langsam Fuß fassen, gleich zu Beginn in Frage stellt, ihnen den Kampf ansagt. In diesem Sinne wird besonders auch die Philosophie Nietzsches verstanden und postum manipuliert (wie z. B. in den Verfälschungen der Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche), obgleich Nietzsche selbst Antisemitismus und Nationalismus abgelehnt hatte. Seine scharfen Aphorismen gegen die liberale Kultur und ihre christ- lichen wie demokratischen Elemente waren jedenfalls leicht und mit weit ausstrahlender Wirkung zu mißbrauchen. Die intellektuellen Geburtshelfer der totalitären Ideologien wirkten nach links und rechts: So dienten Mussolini, der zunächst radikaler Sozialist war und im Krieg dann zum Begründer des Faschismus wurde, ganz wesentlich Marx und Nietzsche als Ideenspender (wie besonders E. Nolte aufgezeigt hat). Auf der anderen Seite war es der Streit um ein reformerisches oder revolutionäres Verständnis des Sozialismus, der in derselben Zeit vor und nach der Jahrhundertwende eine radikale, gewaltbejahende Version hervorbrachte, wie sie besonders der französische Gewaltphilosoph Georges Sorel (1908) und dann der russische Vorkämpfer eines diktatorischen Einparteien-Sozialismus, Lenin, mit weltgeschichtlichen Folgen vertraten.1 Nun ist aus dem Pionierwerk von Jacob L. Talmon über die »Ursprünge der totalitären Demokratie«, ihre messianischen und nationalistischen Phasen zu lernen, in welchem Maße die Wurzeln des modernen Totalitarismus schon auf die revolutionären Veränderungen und Ideologiebildungen am Ende des 18. Jahrhunderts zurückgehen.2 Und doch sind es vor allem die tiefgreifenden Wandlungen um 1900, die einen neuen wichtigen Startpunkt für die modernen Ideologien geben: eine dritte, entscheidende Weichenstellung nach der Französischen Revolution und der romantischen Phase des nationalistischen und messianischen Sendungsgedankens im 19. Jahrhundert. In der Tat treten die weltanschaulichen Konzepte und Grundfragen, die uns bis heute bewegen, in den Jahren vor und nach 1900 in ihrer modernen Form hervor; als Ferment der großen »Bewegungen« unseres Jahrhunderts bestimmen sie in erstaunlicher Kontinuität politisches Denken und politische Ideen, die seither vorherrschten, verbraucht und wiederbelebt wurden.3 Das gilt nicht nur für die wichtigsten politischen Richtungen und Strömungen: die liberalen, sozialistischen, konservativen und radikalen Ideenkreise, die gewiß schon im vorangehenden Jahrhundert Form gewonnen haben. Es gilt besonders für die autoritären 1 Zur Diskussion der formativen Periode um 1900 Gesichtspunkte und Literatur bei K. D. Bracher, Zeit der Ideologien, Stuttgart 19842, 5.3iff; 130fr. vgl. Emst Nolte, »Marx und Nietzsche im Sozialismus des jungen Mussolini«, in: Historische Zeilschrift 191 (i960), S. 249 fr. Zum Sozialdarwinismus schon bei Marx auch Helmut Lamprecht, »Der Ursprung der Arten und des Klassenkampfes«, in: FAZ 72 (24.3.84) Beilage 2 Siehe unten S. 26 Anmerkung 1. 3 Dazu näher K. D. Bracher, Zeit der Ideologien, Teil I; ders., »Turn of the Century and Totalitarian Ideology«, in: Totalitarian Democraey and After, Jerusalem 1984, S. 70ff. 18 19 und totalitären Varianten und Extremismen, die sich im Vorfeld und während des Ersten Weltkriegs entwickelten. Wenn immer wir die radikalen politischen Bewegungen nicht nur der zwanziger und dreißiger Jahre, sondern nun auch der sechziger und siebziger Jahre betrachten, sind wir genötigt, auf die Jahrhundertwende zurückzublicken - um zu verstehen, wie aus Ideen Ideologien und sodann furchtbare politische Realitäten wurden. Man kann in der Tat feststellen, daß am Vorabend des Ersten Weltkriegs die Gedanken und Zielvorstellungen, teilweise auch schon die Mittel zur Verwirklichung einer bislang unerhörten Form allumfassender, ideologisch totalisierter Herrschaft bereitlagen und daß es nur des ersten modernen Massenkriegs bedurfte, um bisherige Strukturen, Maßstäbe und Hemmungen noch rascher zu beseitigen oder sie umkehrbar, pervertierbar zu machen. Vor allem Lenin und Hitler haben diese innere, geistig-psychische Bedeutung des Krieges (nicht nur die äußere) erkannt. Es entstand ein geistig-politisches Vakuum, in dem es ungleich erfolgreicher möglich war, die Mobilisierung von sozial-ideologischen »Bewegungen« jenseits der bisherigen Parteien und Organisationen zu betreiben. Sie vermochten sich als mächtige verführerische Alternativen sowohl zu den bisherigen halbabsoluten Monarchien wie zu den nur halbgelungenen, schwachen bürgerlichen Demokratien zu entwickeln, ja schon 1917 in Rußland, 1922 in Italien die Macht zu ergreifen. Die großen Weichenstellungen Es sind mehrere große Einschnitte und Weichenstellungen, über die sich die Ausbreitung, die Wandlungen und Renaissancen des Totalitarismus im Laufe des Jahrhunderts vollziehen. Wir betrachten nun acht solcher Zusammenhänge, die mir besonders wichtig erscheinen. 1. Die Gedanken- und Formationsperiode um 1900: Die Jahrhundertwende bildet den Kristallisationspunkt einer Zeit der Gärung, die von den achtziger Jahren bis 1914 reicht. Es ist gleichsam die Bereitstellung der Ideen und Weltanschauungen, der politischen Heilslehren wie des technisch-ökonomischen und sozial-psychischen Potentials, das die Mobilisierung von Massen für absolut gesetzte Ziele und die Bereitschaft oder Anfälligkeit nicht zuletzt auch von Bürgern und Intellektuellen für den Prozeß der totalitären Verführung überhaupt möglich macht. Es ist der Aufbruch zum ideologischen Zeitalter. 2. Die Konkretisierungsperiode von 1917-19.23: Der Krieg von 1914-18 und seine unmittelbaren Folgen sind Träger der ersten Durchbrüche und Realisationen von Ideen, die nun zu politischen Ideologien geformt dem am Ende des Krieges proklamierten Zeitalter der Demokratien die Diktatur neuen Stils entgegenstellen: Kommunismus und Faschismus. In Rußland geschieht 1917 unter Lenin die erste Machtergreifung, die mit diesem totalen Anspruch auftritt und zugleich die Weltrevolution verkündet. Das folgende Jahrfünft bringt die eigentliche Begründung des Totalitarismus als Herrschaftsprinzip, wenn noch nicht Herrschaftssystem. Der Befestigung der kommunistischen Alleinherrschaft in der neugeformten Sowjetunion und den anderen freilich gescheiterten Revolutionsversuchen in Europa folgt die alternative Begründung nationalistisch-sozialer Bewegungen, die gegen Liberalismus und Marxismus gleichermaßen gerichtet sind. An die Macht kommen sie zuerst 1922 in Italien unter Mussolini. Und während der sterbende Lenin durch Stalin, den Vollender eines totalitären Kommunismus, abgelöst wird, tritt als erster der italienische Diktator ausdrücklich unter dem Anspruch auf, den der Begriff »totalitär« bezeichnet, nachdem er zunächst (1923) von seinen liberalen Kritikern gegen ihn benutzt worden war.1 Es beginnt die »Periode des Wettstreits zwischen totalitärem Nationalismus und totalitärem Marxismus« (Seton-Watson).1 In Deutschland freilich scheitert zur gleichen Zeit mit dem - Mussolinis Marsch auf Rom nachempfundenen - Putschversuch Hitlers in München 1923 die erste Diktaturwelle, die zunächst von links in der Münchener Räterepublik 1919, Hitlers entscheidendem politischen Erlebnis, dann von rechts im Kapp-Putsch gegen die Weimarer Republik hochgeschwappt war. 3. Eben dort aber geschieht dann die nach 1917 folgenschwerste totalitäre Machtergreifung von 1933 J'34. Sie bildet den Kulminationspunkt einer autoritären Welle, die in den meisten neugegründeten Staaten der Nachkriegszeit die noch schwachen krisengeschüttelten Demokratien »übermannte« - eben mittels eines Kults des starken Mannes: von Ungarn (Horthy) und Polen (Pilsudski) über Portugal (Salazar) und Spanien (Franco) zu den Staaten des Baltikums und des Balkans, zu Österreich und Griechenland (Metaxas). Der Nationalsozialismus freilich war 1 Zuerst besonders vom liberalen Parteiführer Giovanni Amendola: Jens Petersen, »Die Entstehung des Totalitarismusbegriffs in Italien«, in: M. Funke, Totalitarismus, S. 105 ff. J In: International Fascism, London 1979, S. 20 21 unter all diesen antiliberalen und antidemokratischen Ideen- und Machtströmungen in Theorie und Praxis die weitaus radikalste, jedenfalls nicht minder konsequent und zugleich umfassend totalitär wie die kommunistische. Er stand wohl dem italienischen Faschismus nahe, entlieh ihm auch manche Formen und Parolen, rückte aber in der rassistischen Zielsetzung wie in der menschenverachtenden Volkskollektiv-Ideologie sehr viel näher an die Herrschaftsweise des Stalinismus heran, als dies die so betont »antifaschistischen« Sympathisanten des kommunistischen Experiments wahrhaben wollten. Während die zwanziger Jahre noch offen erschienen und erfüllt von den Möglichkeiten geistiger wie politischer Vielfalt, wurden nun die dreißiger Jahre überschattet und bedrängt von zwei großen Lagern, die trotz aller gegenseitigen Konfrontationen doch beide vor allem entschiedene Feinde der pluralistischen Demokratie und ihrer Werte waren, indem sie der Errungenschaft freiheitlicher und menschenrechtlicher Politik die Verführungskraft sozialistischer und/oder nationalistischer Gemeinschaftsmystik entgegenstellten. Dazwischen schwankten und fielen die meist jungen europäischen Df>rr.ck:suen unter dem Druck der wirtschaftlichen und nationalen Krisen. Es schien sich zu beweisen, daß diese Staatsform nur in Ausnahmefällen lebensfähig war und daß die Staats- und Gesellschaftsform der Zukunft von jenen cäsaristischen Führergestalten geprägt werden sollte, die nicht nur Oswald Spengler, sondern auch Max Weber vorausgesehen hatte.1 Die neuen Regime Betrachten wir an dieser Stelle das Wesen der neuen Regime. Die autoritäre Welle der Zwischenkriegszeit, der Ruf nach dem Diktator war die eine Voraussetzung für den Totalitarismus. Die andere Voraussetzung bildeten die gesteigerten Möglichkeiten, die das technisierte Massenzeitalter zur Erfassung und Gleichschaltung des Lebens und Denkens aller Staatsbürger bietet. Denn im Unterschied zu älteren, gleichsam konventionellen Formen von Diktatur- und Militärregimen wird nun der Anspruch auf Totalität der Herrschaft und Unterwerfung, auf Identität von Führer- und Parteibewegung, Volk und Individuum erhoben. Und dies l Dazu und zum Folgenden vom Verfasser: Die nationalsozialistische Machtergreifung I, 3. Aufl. 1974, S. 28ff; Die deutsche Diktatur, 6. Aufl. 1979, S. i84ff; Europa in der Krise, S. 156ff; Zeit der Ideologien, S. 170ff. war nur durchzusetzen, wenn schärfste Kontrolle und Terror durch die Fiktion einer identitären Ordnung legitimiert wurden und der Glaube an eine absolut gesetzte Ideologie verbindlich gemacht war: als »freiwillige Zustimmung« bei Strafe des Lebens. Marxistisch-leninistisches Dogma vom Klassenkampf oder faschistisch-nationalsozialistische Freund-Feindlehre vom Völker- und Rassenkampf waren solche totalitären Ideologien, die alle Herrschaftsakte rechtfertigen, selbst Massenverbrechen und Völkermord: ob dies nun im Namen des Volks-, Partei- oder Führerwillens geschah, ob es pseudo-deniokratisch und pseudolegal oder revolutionär-messianisch-chilia-stisch stilisiert war wie in den Zukunftsmythen eines klassenlosen Ar-beiterparadieses oder eines »Tausendjährigen Reiches«. Auch die Wirkung pseudoreligiöser Bedürfnisse und Manipulationen in einer Zeit des Verfalls und Vakuums religiöser Werte ist wichtig: der brünstige Glaube an Adolf Hitler etwa, aber auch an Symbole und Riten der Massenversammlung, die begeisternd wie betäubend zugleich das irrationale Erlebnis der Gemeinschaft vermitteln sollen. Der Totalitarismus als Möglichkeit und Versuch, der gewiß nirgends völlig, aber doch so weit zu verwirklichen war, daß er normalen Bürgern die grausigsten Verbrechen zumuten konnte, zielte auf die Beseitigung aller persönlichen, vorstaatlichen Freiheitsrechte und Auslöschung des Individuums. Aber zugleich erweckte er den Eindruck, daß er besser und effektiver als alle bisherigen Staats- und Gesellschaftsformen die wahre Bestimmung.des Menschen, ja die wahre Demokratie und den perfekten Wohlfahrtsstaat realisieren könne. Diese Verführungskraft war mit Mitteln moderner Technik, Propaganda und Kommunikation besser zu verwirklichen als je zuvor in der Geschichte. Der Totalitarismus war gerade in dieser Hinsicht »das politische Phänomen des 20. Jahrhunderts« (Gerhard Leibholz). Bei allen Unterschieden zwischen Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus zeigen sich in jedem Fall drei große charakteristische Tendenzen: (i) Die möglichst totale Herrschaftsverfügung einer einzigen, umfassend organisierten Partei und ihrer Führung, die mit den Attributen der Unfehlbarkeit und dem Anspruch auf pseudoreligiöse Massenverehrung ausgestattet ist. Nach den Erfahrungen unseres Jahrhunderts kann sich die Machtergreifung einer solchen totalitären Partei nicht nur, in der gleichsam klassischen Weise, über die revolutionäre Putschaktion einer militanten Minderheit (russische Oktoberrevolution 1917), sondern auch auf dem Weg der Aushöhlung, des Mißbrauchs und der schein- 22 23 rechtlichen Manipulation demokratischer Institutionen (pseudolegale Machtergreifung des Nationalsozialismus 1933) vollziehen. Alle anderen Parteien und Gruppen, die das politische und gesellschaftliche Leben repräsentieren, werden in der Folge entweder durch Verbot und Terror vernichtet oder durch Irreführung und Gewaltdrohung gleichgeschaltet, d. h. zu willenloser Scheinexistenz in Scheinwahlen und Scheinparlamenten erniedrigt, wie in den kommunistischen »Volksdemokratien« mit den Einheitslisten der »Nationalen Front«. (2) Der totale Einparteienstaat stützt sich dabei auf eine militante Ideologie, die gleichsam als »Ersatzreligion«, als Heilslehre mit politischem Ausschließlichkeitsanspruch die Unterdrückung jeder Opposition und die totale »Ausrichtung« des Staatsbürgers sowohl historisch wie zukunftsutopisch zu begründen und zu rechtfertigen sucht. So verschieden geschichtlicher Hintergrund, politische Gestaltungsziele und ideologische Doktrin bzw. Gedankenführung der drei wichtigsten totalitären Systeme sind, so treffen sich russischer Bolschewismus, italienischer Faschismus und deutscher Nationalsozialismus doch in der Technik allgegenwärtiger Überwachung (Geheimpolizei), Verfolgung (Konzentrationslager) und massiver Beeinflussung bzw. Monopolisierung der öffentlichen Meinung. Die bedingungslose Zustimmung der Massen wird mit allen Mitteln moderner Propaganda- and Werbetechnik manipuliert; sie ist gemäß den Erkenntnissen ier neueren Massenpsychologie auf die Erzeugung einer permanenten Kampfstimmung gegen einen absolut gesetzten Feir.u gerichtet, wobei sowohl die »positiven« Schutz- und Begeisterungsbedürfnisse wie die »negativen« Furcht- und Zv.-aiigsvorstellungen der Massen mobilisiert und zur Herrschaftsbefestigung eingesetzt werden. In überdimensionalen Kundgebungen und Aufmärschen findet das rigoros gelenkte Bewegungs-, Spannungs- und Unterhaltungsbedürfnis Befriedigung; die einseitige Organisierung aller Lebensbereiche vermittelt zugleich ein Gefühl der Geborgenheit, erzwingt die Unterwerfung des einzelnen unter die »Gemeinschaft« des Kollektivs und ersetzt die rechtsstaatliche Legitimierung durch ein System der scheinlegalen Zustimmung. Mit dem Anspruch auf völlige Verfügung über Leben und Glauben seiner Bürger verneint der totale Staat jedes Recht auf Freiheit, jeden letzten Wert und Zweck neben sich selbst als der allein verbindlichen »Totalität aller Zwecke«. (3) Ein wesentlicher Bestandteil der totalitären Herrschaftsideologie ist der Mythos von der höheren Effektivität eines solchen totalen Kommandostaates gegenüber dem komplizierten, durch mannigfache Kon- j trollen und Sicherungen eingeschränkten demokratischen Rechtsstaat. Die totalitäre Ideologie beruft sich dabei auf die Möglichkeiten wirtschaftlicher und sozialer Gesamtplanung (Vier- oder Fünfjahrespläne), I auf die schnellere politische und militärische Reaktionsfähigkeit oder auf I die Gleichschaltung politisch-administrativer Prozesse und die größere 1 Stabilität diktaturförmiger Staatsführung. Dieser weitverbreiteten Auf-I fassung entspricht die Wirklichkeit totalitärer Herrschaftspolitik jedoch I nur sehr bedingt. Ständige Rivalitäten innerhalb der totalitären Partei ij und ihrer Führungsgremien, ein unlösbarer Dualismus zwischen Partei und Staat und die Willkürakte einer unkontrollierten, mit Kompetenzen überladenen Zentralinstanz wirken der Perfektion eines nach dem Vorbild militärischer Kommandostruktur gestalteten Befehlsstaates entgegen. In diesem Zwangssystem werden partielle Verbesserungen durch einen gewaltigen Verlust an Bewegungsfreiheit, rechtlicher Ordnung und menschlicher Substanz erkauft, ohne daß doch das vorgegebene Ideal vollkommener Sicherheit und Überschaubarkeit verwirklicht wird. Das Schicke! de» Faschismus und des Nationalsozialismus und die An-passur.^sschwierigkeiten des nachstalinschen Kommunismus lassen er-kc/inen, daß totalitäre Herrschaftssysteme keineswegs höhere Krisenfestigkeit und wirksamere »Ordnung« verbürgen; ihre kontrollentzogene Zwangsordnung gestaltet vielmehr die Ausübung und das Ergebnis politischer Machtkonzentration auf die Dauer unendlich verlustreicher als das scheinbar schwerfälligere Gewaltenteilungs- und Kompromißverfahren eines demokratischen Rechtsstaats. 4. Den nächsten großen Einschnitt markiert der Beginn des Zweiten Weltkriegs 2939; er zeichnete sich schon seit 1937 ab. Mit dem Spanischen Bürgerkrieg, der ja bis 1939 wütete, war - wie ihn auch die Diktatoren verstanden - eine Generalprobe des großen ideologischen Bürgerkriegs im Gange, der die entscheidenden Weichenstellungen der künftigen Weltpolitik vorbereiten sollte. Es war aber auch die Zeit, in der für Klarblickende ein für allemal sichtbar wurde, welch unmenschliche Drohung der Totalitarismus von rechts wie von links bedeutete. So entstanden denn gerade aus dieser damaligen Anschauung zwei der scharfsinnigsten Analysen der totalitären Drohung, die bis heute gültig sind: die Schreckensvision von George Orwell und die große Ideologiekritik von Jacob Talmon. Der englische Schriftsteller Orwell (1903-1950) war bekanntlich selbst am Spanischen Bürgerkrieg beteiligt und erlebte dort 1937 sein Damaskus; und der polnisch-israelische Historiker Talmon (1916-1980), dem wir die geschichtlich umfassend- 24 25 ste dreibändige Darstellung der geistigen Ursprünge der »totalitären Demokratie« und ihrer diktatorischen Folgen verdanken, wurde als Student erklärtermaßen zuerst und entscheidend inspiriert durch jenen Zusammenhang von 1937-39: den Spanischen Bürgerkrieg, die stalinistischen Schauprozesse und die nationalsozialistische Judenverfolgung.1 Das drückt dann auch Orwells Selbstkritik (von 1944) aus, die ja bis heute gültig ist: die linken Intellektuellen zumal machten den Fehler oder erlägen dem Irrtum, daß sie »antifaschistisch sein wollten, ohne antitotalitär zu sein«. Und Talmon hat bis zu seinem allzu frühen Tod (1980) immer wieder betont, daß gerade seine grundlegende Einsicht in den pseudodemokratischen Charakter totalitären Denkens und Handelns auf diese bestürzende Erfahrung am Ende der dreißiger Jahre zurückgehe, in der er auch als persönlich betroffener Historiker eine Analogie zur terroristischen Phase der Französischen Revolution unter Robespierre (1793), also zur Entstehung der furchtbaren Idee und Realität einer totalitären Demokratie als radikalster Diktatur sah. Tatsächlich wurde dieser historische Zusammenhang gerade in der Folge noch dramatisch bestätigt. Der so überraschende und doch durchaus charakteristische Pakt Hitlers und Stalins 1939 ließ die Unterscheidung von Rechts- und Linksdiktatur zurücktreten hinter dem negativ-gemeinsamen Willen der Diktatoren zur totalitären Veränderung (und zeitweiligen Aufteilung) der Welt. Aber verhängnisvollerweise wurde diese noch allzu wenig verbreitete Erkenntnis schon zwei Jahre später wieder verwirrt oder verwischt durch die von Hitlers Angriff auf die Sowjetunion zusammengebrachte Koalition westlicher Demokratien mit kommunistischer Diktatur. Sie verleitete zu umgekehrten Illusionen und Fehleinschätzungen von weltpolitischer Bedeutung.2 Denn diese Illusionen mußten bei Wegfall des gemeinsamen Feindes, Hitler, geradezu notwendig zur neuerlichen Enttäuschung und in den Kalten Krieg führen. 1 J. L. Talmon, The Myth of the Nation and the Vision of Revolution. The Origins of Totalitarian Polarisation in the Tzoentielh Century, London 1980, S. 535fr. Vorangegangen waren die Bände: Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln-Opladen 1961 (engl. 1952); sowie Political Messianism: the Romantic Phase, London 196a. Zu Orweli vgl. unser Kapitel: »Die totalitäre Utopie«, S.5off.; Patrik von zur Mühlen, Spanien war ihre Hoffnung, Bonn 1983, S. 62 fr; George Watson, Politics and Literatuře in Modern Britain, London 1977,3. 41 ff; und besonders Bernard Crick, George Orweli, London 1980, S. 340 ff. 2 Vgl. Andreas Hillgruber, Klaus Hildebrand, Kalkül zwischen Macht und Ideologie. Der Hitler-Stalinpakt: Parallelen bis heute? Zürich 1980, S. 25 ff; 35 ff. Ferner Robert Beit-zeil, The Uneasy Alliance. America, Britain and Russia 1941-1945, New York 1972; James Joll, Europe since iSyo, London 1973, S. 423ff. Die Erfahrung von 1945 5. Eben dies macht die vierziger und fünfziger fahre zu einer Zeit der Veränderung, doch zugleich neuer Ausbreitung totalitärer Tendenzen. Waren die zwanziger Jahre eine politisch-ideologische Fortsetzung der großen Konflikte von Krieg und Revolution, die dreißiger Jahre die Zeit der unaufhaltsam vordringenden Diktaturen und die fünfziger Jahre im Westen die Ära des erstaunlichen Wiederaufbaus, ja eines eigentlich zum ersten Mal erfolgreichen Funktionierens, einer Blüte der freiheit-lich-pluralistischen Demokratie, so erscheinen die vierziger Jahre auf den ersten Blick gerade nicht als eine Einheit; sie zeigen ein Doppelgesicht, sind durch den weltpolitischen, weltgeschichtlichen Einschnitt von 1945 in zwei völlig verschiedene Perioden geteilt. Doch auf die brutalen Einbrüche des Totalitarismus und die katastrophalen Folgen des Hitlerreiches folgt nach der Befreiung von 1945 sogleich die Zerspaltung in den tiefen Gegensatz von Diktaturen und Demokratien. In drei großen Zusammenhängen der vierziger Jahre ist die neuerliche totalitäre Konfrontation begründet. (1) Mit der diktatorischen Machtentfaltung und den siegreichen Eroberungskriegen, die Hitler, Mussolini und Japan 1942 /43 auf den Höhepunkt ihrer Herrschaft führen, tritt die Kehrseite einer zerstörerischen, menschenvernichtenden Politik hervor, die in der totalen Niederlage dieser autoritär-totalitären Regime endete. Und gleichzeitig (2) entfalten und verstärken sich auch die Kräfte und Bewegungen des Widerstands, der Befreiung und des Wiederaufbaus, die im Zeichen der Demokratie und der Idee eines vereinigten Europas, ja einer friedlichen Kooperation aller Völker und Staaten der Welt stehen. Aber (3) schließlich bestimmt die konkrete Erfahrung der politischen und ideologischen Teilung Europas nach Kriegsende das Geschehen: Mit der Fortdauer und Steigerung des Stalinschen Totalitarismus im Osten kommt es zugleich zu der Einbeziehung des geschlagenen Deutschland in die Machtblöcke des Sowjet-Kommunismus und der westlichen Demokratien und schließlich zu seiner Spaltung in zwei ideologisch scharf getrennte Staaten. Am Ende des Jahrzehnts steht, grundlegend bis heute, die übergreifende Realität einer bipolaren Weltordnung, in der sich die alte Prognose eines Alexis de Tocqueville - schon 1835 formuliert - zu bestätigen schien. Der Weltgegensatz der Globalmächte Amerika und Rußland entsprach nun zugleich einer Weltalternative von Freiheit oder Knecht- 26 27 schaff, und jeder von ihnen schien »nach einem geheimen Plan der Vorsehung berufen, eines Tages die Geschicke der halben Welt in seiner Hand zu halten«.1 Aber entschieden anders als nach dem Ersten Weltkrieg wirkten die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs. Er brachte ideologisch schärfer und politisch radikaler noch als der Erste die Zerstörungskräfte der modernen Gesellschafts- und Staaten-Konflikte zu einer bislang unerhörten Entladung. In ihm verbanden sich die technisch gesteigerten nationalistischen und imperialistischen Ambitionen zumal der zu spät gekommenen Aufsteigermächte Deutschland, Italien und Japan mit der Stoßkraft totalitärer Weltanschauungen, welche den ganzen Menschen mit pseudoreligiöser Intensität zu erfassen und für eine totale Erobe-rungs- und Herrschaftsidee einzusetzen suchen: sei es das erneuerte Römische Imperium (Faschismus), ein germanisch-deutsches Rasse-Reich (Nationalsozialismus) oder der weltrevolutionäre Sieg im Klassenkampf (Kommunismus). Die gnadenlose Auseinandersetzung wurde nach dem frühen kommunistischen Vorbild bei der Vernichtung des Klassenfeindes geführt, wobei der Nationalsozialismus die Mittel kollektiver Verfolgung bis zur Ausrottung mißliebiger, zum absoluten (Rasse-) Feind erklärter Minderheiten und Völker anwandte: Mit dem Überfall auf die zunächst (1939) im Beutepakt verbündete Sowjetunion 1941 beginnt auch die systematische Judenvernichtung. Aber die schreckliche Erfahrung von brutaler Unterdrückung und totalem Kampf, die mehr Menschenopfer und Zerstörungen als irgendein anderer Krieg kosteten, schuf schließlich die Voraussetzung für eine Erneuerung freiheitlich-demokratischer Staats- und Gesellschaftsordnungen.1 Auch die Gründung des Staates Israel (1948) für das über Jahrhunderte verfolgte Volk der Juden war eine Folge dieser erschütternden Erfahrungen. Auf den Triumph der autoritären Welle in den dreißiger Jahren, die bis 1940 alle Demokratien des europäischen Kontinents (außer Schweden und der Schweiz) ausgelöscht hatte, antwortete nun ein entschiedener Wille zur Befreiung von Diktatur und Gewaltherrschaft. Die Widerstandsbewegungen gegen den nationalsozialistischen Eroberer wollten zum Ausgangs- 1 Alexis de Tocqueville, De la. democratie en Amerique (1835), Bdl, Schlußbetrachtung. 2 Zum folgenden James Joll, Europe since 1870, S. 393 ff; K. D. Bracher, Europa in der Krise, S. 255; Walter Lipgens, Europa-F-öderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940-1045, München 1968; ders.. Die Anfänge der Europäischen Einigungspölitik 194.5-1950,1. Teil, Stuttgart 1977, S. 43ff. punkt für eine neue Ordnung der Staatengesellschaft werden, die auf Demokratie und Zusammenarbeit gegründet war. Dies gelang freilich nur im Westen des befreiten Europa und in der atlantischen Welt. Die weiterreichenden Erwartungen und Hoffnungen, die besonders auch der amerikanische Präsident Franklin Roosevelt in einen endgültigen Frieden und eine Weltordnung der »Vereinten Nationen« gesetzt hatte, gingen mit seinem Tod noch vor Kriegsende (1945) und mit dem Fortdauern der ideologischen Machtpolitik Stalins in die Realität des »Kalten Krieges« über. Tatsächlich zeichnete sich die neue, nun kommunistische Gleichschaltung Osteuropas durch die Sowjetunion schon seit 1944 (Polen) ab, die Konsequenz militärischer Blockbildung wurde bereits 1946 mit einem »Eisernen Vorhang« durch Europa (so Churchill) besiegelt, und unausweichlich waren angesichts der kommunistischen Machtergreifung in der Tschechoslowakei und der Berlin-Blockade die zwischen 1947 und 1949 folgenden großen Entscheidungen des Westens. Trumandoktrin und Marshallplan, Berliner Luftbrücke und Norddtlantikpakt, schließlich der Koreakrieg (1950) führten zu einer bipolaren Struktur der Weltpolitik: geradezu zur Teilung in zwei euch gesellschaftlich und ideell konträre Welten, während die »Dritte Welt« der Kolonial- und Entwicklungsländer noch am Rande blieb, Indien nach Erlangung der Unabhängigkeit (1947) im Mühen um die Demokratie, China nach dem Bürgerkrieg im Übergang zum Kommunismus (1949) begriffen. So wurde die Stabilisierung der westeuropäischen Demokratien schon früh abgeschirmt durch eine Bündnis- und Kooperationspolitik mit Amerika, die nicht zuletzt eine Folge der sowjetrussischen Herrschaftsansprüche war: ein Bündnis, das sich von der russischen Hegemo-nial- und Besatzungspolitik in Ost- und Mitteleuropa ganz und gar unterschied. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte ein ungehemmter Nationalismus die Politik der europäischen Länder erregt und die inneren Grundlagen der Demokratien zerstört, während sich die USA, die den Krieg entschieden, die Friedensordnung und den Völkerbund inauguriert hatten, aus der internationalen Politik zurückzogen. Anders nach 1945. Die amerikanische Politik der Abschirmung und Eindämmung gegenüber dem Kommunismus stellte Westeuropa durch den Marshallplan und das NATO-Bündnis alsbald in den Rahmen einer intensiven internationalen Kooperation. Es ergaben sich Aspekte für eine supranationale Integration in westeuropäisch-atlantische Gemeinschaftsformen, die eine Art Schutzschirm über den neuen Parlamentsdemokratien darstellten und eine ungestörtere, weniger krisenerschütterte Entwick- 28 29 I lung als nach dem Ersten Weltkrieg ermöglichten. Dies hinderte zwar nicht, daß die politische Zersplitterung und die Existenz starker kommunistischer Parteien, zumal in Italien und Frankreich, weiterhin die Gefahr innenpolitischer Krisen mit sich brachte. Aber eine Wiederholung der demokratischen Systemkrisen der Vorkriegszeit, die zur Kapitulation vor den Diktatoren geführt hatten, konnte in allen Fällen vermieden werden. Demokratische stand gegen totalitäre Europapolitik.1 Vor allem trat an die Stelle des Gewirrs nationaler Ambitionen inmitten des Elends der zweiten Nachkriegszeit die konkrete Einsicht in die Notwendigkeit einer Selbstbeschränkung nationaler Souveränitäten, wie schon die Widerstandsbewegungen ja weitreichende Pläne zur intensiven europäischen Kooperation, sogar zur politischen Integration Europas ausgearbeitet hatten. Die Anerkennung einer derartigen Verflechtung wurde durch den unaufhaltsamen Abbau der Kolonialreiche erleichtert, weil er die europäischen Staaten stärker auf die Aufgaben der inneren Strukturreform und der Kooperationspolitik verwies. Überdies: die ökonomische Stabilisierung im Namen eines - freilich sozial-marktwirtschaftlichen — Kapitalismus, den die totalitären Ideologen längst totgesagt hatten, kontrastierte grell mit den Mißerfolgen der kommunistischen Wirtschaftspolitik in Osteuropa. Dies und die blutigen Säuberungen vor und nach dem Bruch mit Tito verminderten zusätzlich die Anziehungskraft sozialistischer Politik im Westen Europas und hatte das Ausscheiden der kommunistischen Parteien auch aus den Regierungen Frankreichs und Italiens zur Folge. Die liberal-demokratische Stabilisierung Westeuropas war nicht das Resultat einer finsteren Verschwörung kapitalistischer Imperialisten, wie die sowjetische Propagandathese lautete. Nicht nur der totalitäre Kommunismus, sondern auch die Ideen einer sozialistischen Umgestaltung der Demokratie und einer von den Supermächten unabhängigen europäischen Entwicklung sind durch die repressive Wirtschaftsund Gleichschaltungspolitik der Sowjets in Osteuropa diskreditiert worden. i K. D. Bracher, »Demokratische und totalitäre Europapolitik«, in: U. Altermatt, J. Ga-ramvölgyi (Hrsg.), Innen- und Außenpolitik, Primat oder Interdependenz? (Festschrift für Walther Hofer), Bern-Stuttgart 1980, S. 73 ff. Alte und neue Drohungen Die weitere Entwicklung und Abwehr des Totalitarismus beruhen ganz wesentlich auf diesen grundlegenden Entscheidungen der vierziger und frühen fünfziger Jahre. 6. Eine bedeutsame Etappe markiert im Anschluß daran die Zeit von 1953—1956: vom Tode Stalins, des ersten und scheinbar letzten totalitären Diktators, zur teilweise demonstrativen Entstalinisierungspolitik Chruschtschows. Es ist aber, nach der blutigen Ausdehnung des Spät-Stalinismus auf Osteuropa (1948ff.), zugleich die Zeit der Befestigung und des Ausbaus der kommunistischen Diktatur in China und - mit der Distanzierung von Moskau - der Begründung eines nicht weniger totalitären Ideologieanspruchs nun des Maoismus, der an Stalin demonstrativ festhält.1 Damit beginnt die weitere Ära eines Nachkriegs-Totalitarismus, der weiter ausstrahlt als je zuvor: ein Viertel der Weltbevölkerung im Land der Mitte sind ein Potential, das auf die weiten Regionen und jungen Staaten im Zuge des Entkolonisierungs-prozesses drückt. Die Dritte Welt tritt in die Geschichte ein: ein großes Feld für Agitatoren und Ideologen im Gewände von Befreiungsbewegungen, die fast immer in Diktaturen enden. Ein besonderes Signal, nun für Lateinamerika, war die Machtergreifung von Fidel Castro in Kuba; und die Popularisierung des Castrismus und seines Guerillahelden Che Guevara wirkt nicht nur in die Dritte Welt, sondern als romantische Revolutionsbotschaft auch zurück auf Intellektuelle und Studenten der westlichen Welt. Teile der Kirchen, zunächst der protestantischen, dann zunehmend der katholischen, werden schließlich darin verwickelt, liefern eine »Theologie der Revolution«, lassen sich von politischen Religionen faszinieren.2 7. Von hier spannt sich ein Bogen zum Schlüsseljahr 1968, dem Höhepunkt der westlichen Protestbewegungen, die zumal als neomarxistische »Neue Linke« auf eine neue Anfechtung parlamentarischer Demokratie, auf eine neue Welle totalitären Politikverständnisses hinsteuerten. Wieder trat nun die grundlegende Unterscheidung hervor, die schon bei der frühesten Anfechtung der repräsentativen Demokratie in der terroristischen Phase der Französischen Revolution sichtbar geworden war, dann 1 Grundlegend Leonard Schapiro und John W. Lewis, »The Roles of the Monolithic Party under the Totalitarian Leader«, in: The China Quarterly, Oct.-Dec. 1969, S. 50 ff. 2 Literatur bei K. D. Bracher, Zeit der Ideologien, S. 293 ff; Europa in der Krise, S. 435 ff. 30 31 in der so gern zitierten Pariser Kommune von 1871 blutig ausgetragen wurde und schließlich in der Revolutionsphase von 1917-1919 zugleich mit der Spaltung zwischen Sozialisten und Kommunisten die große Trennung zwischen rechtsstaatlichem und diktatorischem, freiheitlichem und totalitärem Demokratieverständnis markiert hatte. Gewiß waren die westlichen Staaten dieses Mal nicht existentiell bedroht wie in jenen historischen Fällen. Es handelte sich 1968 eher um eine generationsbedingte Herausforderung der Gesellschaft, die ihre antitotalitäre Ausrichtung mit dem Schwinden der abschreckenden Erfahrung des Alt-Totalitarismus abzuwerfen begann. Indem die Wortführer dieser Generation die Notwendigkeit von Herrschaft überhaupt in Frage stellten, verdrängten oder bagatellisierten sie aber auch den Unterschied zwischen den politischen Systemen. Gleichzeitig suchten sie in der Terrorismusdiskussion den Gewaltbegriff zu entgrenzen, dem Staat zu entwinden.1 Und dies war nicht ein harmloses Experiment, sondern konnte zu einer bedenklichen Selbstentwaffnung führen; die ideologisch motivierte Tabuisierung des Totalitarismusbegriffes selbst gehört zu solchen Selbstgefährdungen und Schwach stellen der Demokratie in den siebziger Jahren. Denn nicht das Verschwinden der pseudodemokratischen Diktaturen, sondern gerade ihre Häufung in allen Kontinenten führt nun dazu, sie nicht mehr beim Namen zu nermen. Das gilt vor allem auch für die kommunistischen Systeme, die sich schon immer gegen die Bezeichnung »totalitär« verwahrt hatten (doch zugleich jeden »Reformismus« gegen die Allmacht des Systems ungerührt verdammten), und es sich nun gern gefallen ließen, im Namen von Entspannung und Zusammenarbeit gleichsam »enttotalisiert« zu werden, auch wenn sich am totalitären Monopol von Partei und Geheimdienst, von Nomenklatura und Ideologie nichts prinzipiell, nur graduell einiges änderte.2 1 Zur Gewaltproblematik jetzt grundlegend Ulrich Matz, »Der Primat der Ideologie und der Bruch der Regeln«, in: Gewalt und Legitimität, (Analysen zum Terrorismus 4/1), Opladen 1983, S. 43 ff; vgl. K. D. Bracher, Geschichte und Gewalt, S. 106ff. Über die Begriffsdiskussion auch: Totalitarismus und Faschismus. Eine wissenschaftliche und politische Begriffskontroverse, München-Wien 1980, S. loff; K. D. Bracher, Schlüsselwörter in der Geschichte, Düsseldorf 1978, S. 49fr; Peter Graf Kielmansegg, »Politikwissenschaft und Gewaltproblematik«, in: Der Weg in die Gewalt, München-Wien 1978, S. 69 ff. 2 Boris Meissner, »Wandlungen des sowjetkornmunistischen Einparteistaates«, in: Recht und Staat im sozialen Wandel (Festschrift für H. U. Scupin), Berlin 1983, S. 53 ff. Michael Voslenski, Nomenklatura, Die herrschende Klasse der Sowjetunion, München 1984. 8. Die siebziger Jahre sind also vor allem auch geprägt vom Ringen um das Demokratieverständnis. Die Auseinandersetzung mit totalitären Mächten und Tendenzen wird von der Entspannungseuphorie verdrängt. Sie tritt in eine weitere Phase dann in der Zeit um 1978 ein, als die sich verschärfende Wirtschaftskrise mit dem letzten Höhepunkt des Terrorismus und der Ausbreitung zivilisationskritischer Ideologien und Bewegungen zusammentrifft. Der Aufschwung von alternativen und ökologischen Überzeugungen zusammen mit pazifistischen und neutralistischen Bewegungen, die Neubelebung eines angeblich dritten Weges zwischen den Fronten, jenseits der parlamentarischen Demokratie und auch der Industriegeselischaf t - all dies brachte wieder einen »Hauch von Totalitarismus« (K. Sontheimer1) und einen politisch-moralischen Rigorismus auf den Plan, der teilweise an selbstzerstörerische Strömungen der zwanziger Jahre und danach erinnerte. Jedenfalls wird damit die totalitäre Problematik heute wieder in ein verändertes Licht gerückt: Wir leben nicht mehr in den Zeiten erfolgsgewisser Entideologisierung, sondern neuer Unsicherheiten und Angstphilosophien. Nun geht es nicht mehr wie bei der Bewegung von 1968 um optimistische Fortschrittsgedanken, die einst liberale und sozialistische Emanzipationsideen emporgetragen hatten, auch nicht um natio-nal-imperiale Expansionsideen, sondern um eine Kultur- und Gesellschaftskritik im Zeichen antistaatlicher Gemeinschaftsideale. Die Klage über die allzu rationale Fortschrittsgesellschaft, eine angebliche Verschiebung des Bewußtseins von materialistischen zu »postmaterialistischen« Werten (R. Inglehart) - solche freilich fragwürdigen heutigen Generations-Diagnosen verbinden sich mit neoidealistischen und irrationalistischen Utopien vom heilen Leben.2 Bedürfnisse dieser Art haben sich totalitäre Bewegungen seit je zunutze gemacht. Sie treten heute vor allem wieder in pseudo-religiöser Form auf. Nicht nur ist ein Drittel der Weltbevölkerung kommunistischen Systemen unterworfen, die nach wie vor auf ideologischen Ansprüchen und Fiktionen wie der von der totalen Identität zwischen Regime und Volk beruhen. Das Vordringen zumal der islamischen Erneuerungsrevolution auf Religionsbasis und der Erfolg von Sektenbewe- 1 Vgl. überhaupt Kurt Sontheimers aufschlußreiche Bücher: Das Elend der Intellektuellen, Hamburg 1976, und: Zeitenwende?Hamburg 1983; K. D. Bracher, »Zauberformel und Alleinanspruch. Eine Ideologiekritik der Friedensbewegung«, in: Die politische Meinung 210 (1983), S. 6"ff. 2 Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton 1977. 32 33 gungen in westlichen Demokratien zeigt die Stärke des totalitären Ver- i führungspotentials. Es erwächst nach wie vor oder erneut und nun weit- j weit aus der Krise im Gefolge von Säkularisierung und Modernisierung. j Über zwei Drittel der Menschheit herrschen Diktaturen und über ein | Drittel totalitäre. Noch ist das Jahrhundert nicht zu Ende, das mit 1 schrecklichem Recht nicht zuletzt das Jahrhundert des Totalitarismus j genannt werden muß. J Ost-West-Konflikt und Ideologiefrage Im Unterschied zu den fünfziger und sechziger Jahren unterliegt die ideologische Dimension heute eher der Gefahr einer Unterschätzung. Sie verdient jedenfalls nach wie vor genaue Beachtung. Das gilt sowohl (i) für die tatsächliche Frage nach der Bedeutung oder dem Verschwinden ideologischen Denkens, nach seinen Konstanten oder Veränderungen im Ost-West- wie Nord-Süd-Konflikt. Es gilt mehr noch (2) für die wechselhafte Einschätzung der ideologischen Dimension, ihre Verkennung oder Verdrängung in der nicht-kommunistischen, westlichen und deutschen Diskussion - mit der Vorstellung, die Betonung des ideologischen Gegensatzes schade der Entspannung, das Herabspielen der Ideologie hingegen fördere sie. Die Tabuisierung des Totalitarismusbegriffs hat seit Ende der sechziger Jahre gerade auch in dieser Hinsicht nachhaltige Wirkungen gezeitigt. Der Aufschwung eines antifaschistischen statt antitotalitären Demokratieverständnisses ging auf Kosten der Einsicht in totalitäre Strukturen und Tendenzen, wurde erkauft mit einseitigen, einäugigen Diktaturbegriffen, die sich nur gegen »rechts« und »Kapitalismus« richteten, dagegen »linke«, betont »sozialistische« und »antifaschistische« Diktatursysteme und -bewegungen verschonten. In der Tat: Unter der Flagge der »Entideologisierung« segelte jener historisch-politische Revisionismus, der sich seit Ende der sechziger Jahre gegen Totalitarismustheorien und -begriffe überhaupt richtete und diese mit dem nicht minder globalen Verdikt des Antikommunis-mus belegte, ja kurzerhand erledigte. Man vergleiche die seit dieser Zeit weithin übliche Hinrichtung in Fußnoten, die nicht wenige Nationalsozialismus- und Kommunismusforscher nun ereilte: A. oder B. halte wis-senschafts- und entspannungswidrig noch immer an einem Totalitaris-musbegriff fest! Oder: er argumentiere antikommunistisch und verfalle daher der »Grundtorheit unserer Epoche«; in dieser mißdeutbaren For- mulierung Thomas Manns (1942) steckt ein so lapidarer wie wirkungsvoller Vorwurf, der schon aus der leninistischen Feindpropaganda der zwanziger Jahre stammte und in Vereinfachung der antifaschistischen Kampfparole von vielen Intellektuellen (z. T. vorübergehend) akzeptiert worden war. Auch in dieser Hinsicht also ein Rückfall oder Rückgriff in die zwanziger und dreißiger Jahre.1 Freilich sind wir entgegen den Erwartungen der Nachkriegs- und dann der Detentezeit weder i960 (Daniel Bell) noch 1981 (Peter Bender) an das oft prophezeite Ende des ideologischen Zeitalters gekommen.2 Im konkreten Fall des Ost-West-Konflikts trat an die Stelle vielmehr eine Art Ideologisierung des Entspannungsbegriffs, eine verführerische Verheißung, die letztlich auch der Totalisierung des Friedensgedankens zu einer Massen-Friedensbewegung zugrunde liegt. Etwas konkret zu Bedenkendes wird hier gerade wegen der ungebrochenen Wirkung ideologischen Denkens überspitzt und manipuliert: Die zutreffende Beobachtung einer zunehmenden Anfechtung der kommunistischen Ideologie auch unter ihren Anhängern geht öfters einher mit einer Relativierung des freiheitlichen Demokratiegedankens im Westen; und die ursprünglich ebenso zutreffende Forderung nach einer die Westpolitik ergänzenden deutschen »Ostpolitik« rückt unversehens in den Rang weltanschaulicher Ortsbestimmung auf, erlangt neben der außenpolitisch-internationalen Bedeutung nun unter dem Dach der »Friedensbewegung« eine innenpolitische und ideologische Dimension. Der Streit um eine mögliche Konvergenz der Systeme als Ende des Ost-West-Konflikts - Wandel durch Annäherung? - wird durch ein Herunterspielen des ideologisch-antagonistischen Gehalts von Koexistenzpolitik einseitig vorentschieden, statt daß die erklärte Funktion der Koexistenzdoktrin als Instrument des fortdauernden Kampfes gegen die »kapitalistische Welt« ernst genommen wird.3 In einer BBC-Sendung stellten 1983 Leszek Kolakowski und Leonard Schapiro bezeichnend ähnlich und doch in der Deutung verschieden die paradoxe 1 Vgl. das Kapitel »Antikommunismus als intellektuelles Problem«, unten S. 75 ff. 2 Vgl. zum Vorstellenden kontrovers Daniel Bell, The End of ldeology, New York i960; Peter Bender, Das Ende des ideologischen Zeitalters, Berlin 1981; Hans-Peter Schwarz, Boris Meissner (Hrsg.), Entspannungspolitik in Ost und West, Köln 1979; K. D. Bracher, »Zauberforme! und Alleinanspruch«, [1983), S. 4ff. 3 Treffend kritisiert Gesine Schwan, die SPD sei unter Brandt zum »Gefangenen einer mystifizierten Entspannungspolitik geworden«: in Neue Gesellschaft vom 15.10.1983, und Frankfurter Allgemeine Zeitung vom zo. 10.1983, S. 8. 34 35 Formel auf, als Diagnose und Prognose zugleich:3 Die kommunistische Ideologie sei in den Ländern ihrer Herrschaft »dead but indispensable«, unentbehrlich nämlich zur Legitimierung des Machtmonopols »der« Partei (Innendiktatur) wie des »proletarischen Internationalismus« (Außenherrschaft). Fraglich mag ja nun sein, wie tot diese Ideologie ist oder sogar schon 1956 und 1968 war. Aber unbestreitbar bleibt eine totalitäre Ideologie die gültige Voraussetzung, der Legitimierungsgrund des totalitären Einparteienregimes, dessen Abschaffung ja auch nach der Hoffnung und Enttäuschung in Polen (1980/81) weder geplant noch absehbar ist. Und unbestreitbar ist auch die Anziehungs-, Verführungs- und Verwirrungskraft, die nach wie vor unilateralen politischen Religionen mit Sozialismus-Anspruch in der nicht-kommunistischen Welt unter Protest- oder Befreiungsbewegungen sowie im immer neuen Generationskonflikt, zumal im Vakuum eines vielbeschworenen »Wertwandels« zukommt. Man kann diese Bemerkungen zu einem zeitweilig vernachlässigten Aspekt einer allzu euphorischen Ost-West-Forschung der siebziger Jahre in drei Punkte zusammenfassen: Die Ost-West-Politik steht gerade auch in der Zeit der Entspannungspolitik unter der dauernden Spannung eines dreidimensionalen Bezugssystems, dessen verschiedene Komponenten nicht in ihrem engen, untrennbaren Wechselverhältnis bagatellisiert werden dürfen, und zwar so wenig im wissenschaftlichen Wunschdenken wie in der politischen Einschätzung: Wer von Außenpolitik spricht, muß auch von Innenpolitik und von Ideologie sprechen. 1. In der Außenpolitik ist es die Sicherheitsfrage, die, allzu lange überspielt, sich als Spannungsfaktor (mit dem Ungleichgewicht der Rüstungen) heute um so schärfer zu Wort meldet. 2. In der Innenpolitik ist es die Vernachlässigung der politischen Systemfrage, die den Blick für das Demokratieverständnis getrübt hat. 3. In der Ideologiedebatte schließlich steht die Freiheitsfrage, das Bewußtsein von dem grundlegenden Gegensatz zwischen offener und geschlossener Gesellschaft auf dem Spiel. Dem entspricht die Bedeutung, die einer engen Kooperation der drei Hauptbereiche der Politikwissenschaft, aber auch der interdisziplinären Zusammenarbeit mit historischen, ökonomischen, philosophischen, ju- 1 Vgl. auch Michael Charlton, »The Eclipseof Ideology«, in: EncounterUUNo. 2 (1983), S. 23iL, sowie Melvin J. Lasky, ebenda S. 90ff., über alte und neue (deutsche) Illusionen samt einer überzogenen Amerikakritik, die damit einhergeht. I ristischen Analysen zukommt. Die konkretepolitikwissenschaftliche Fol-! gerung aus der kritischen Betrachtung der Ost-West-Beziehungen lautet: I den Konfliktanerkennen (Unterschiede)-ihnaushalten (Abschreckung)-I ihn regulieren (Gleichgewicht). Dies geschieht ohne die Illusion einer I endgültigen Lösungund setztunabdingbarvorausdieErhaltungdeswest-I liehen Bündnisses und einer klaren ideellen Solidarität über bloßes Inter-I essen- und Sicherheitsdenken hinaus - aber auch gegen einen utopischen I Neutralismus, einen Rückfall in die alt-neue Ideologie des »dritten Weges « I zwischen West und Ost, Demokratie und Sozialismus. I In allen drei Fällen der Ost-West-Problematik büßen wir, Politikwis-;j> senschaftler wie Politiker, für Fehler und Unterlassungen oder Unterschätzungen der siebziger Jahre. Wenn vor allem der grundlegende Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur vernachlässigt wird, und sei es für noch so wünschenswerte Zwecke der Entideologisierung und Entspannung, dann ist ja übrigens auch die Grundlage gerade unserer Wissenschaft in Gefahr, nämlich die Möglichkeit zur freien und pluralistischen Kritik nicht zuletzt des eigenen politischen Systems. Verführ-barkeit und Erpreßbarkeit durch Sog und Druck gibt es nicht nur in der Politik, sondern auch im wissenschaftlichen Denken, Reden und Schreiben - und zwar gerade im Vorfeld von Diktaturen, lange vor ihrer Durchsetzung. Das sollte zumal in Deutschland, aber auch in Europa als leidvolle historische Erfahrung bekannt genug sein. Die Aktualität des Totalitären An drei gegenwärtigen Ansatzpunkten totalitärer Politik wird die fortbestehende und künftige Problematik deutlich. 1. Die weitere Technisierung unseres Lebens perfektioniert auch die Fähigkeiten zur Überwachung und Manipulierung immer noch mehr: Massenmedien und Datentechnik im Computer-Zeitalter gefährden zugleich die Freiheit im bürokratischen Wohlfahrtsstaat, der immer größere Erwartungen und damit auch Kompetenzen auf sich zieht. 2. Der Spät-Totalitarismus in kommunistischen Systemen ist trotz Anfechtung der Ideologie noch immer mächtig genug, jede Opposition von Dissidenten zu ersticken, wenn es zweckmäßig erscheint. Eine neuere Untersuchung über Sowjetrecht und Sowjetwirklichkeit1 1 Otto Luchterhand, UNO-Menschenrechtskonventionen,Sowjetrecht-Sowjetwirklichkeit. Ein kritischer Vergleich, Baden-Baden 1983. 36 37 macht deutlich, daß zwar die wirtschaftlichen und sozialen Rechte besonders herausgestellt werden, aber auch hier Theorie und Praxis weit auseinanderklaffen. Vollends gilt dies für die politischen Rechte. Rigoros eingeschränkte Meinungsfreiheit, Geheimhaltung der Rechtsakte, Pflicht statt Recht zur Partizipation, Akklamationsdruck statt Wahl, Relativierung individueller Menschenrechte, keine Begrenzung der Staatsmacht, sondern deren Glorifizierung, Religionseinschränkung, kein Habeas Corpus, sondern psychiatrische Kliniken für Andersdenkende, keine fairen Strafprozesse, sondern Drohung des Gulag, Willkür und äußerste Ungleichheit zwischen Privilegier-tenklasse und terroristischer Verfolgung von Dissidenten - kurz, ein Untertanen- statt Bürgerrecht, über dem nach wie vor durchaus totalitär das Wahrheitsmonopol der Partei und die Forderung nach voller Hingabe an das System stehen. Die oft erwartete, erhoffte Liberalisierung bleibt stets widerrufbar, auch wenn sich die Formen verfeinern. Aber keine Ideologie ist weiterverbreitet als der Kult des Leninismus. Er herrscht über einen Großteil der Menschheit und wirkt auf revolutionäre Jugend- und Befreiungsbewegungen in allen Kontinenten. Alle Ideen und Bewegungen mit absoluter, unilateraler Zielsetzung sind auch heute potentiell totalitär, sofern ihnen der Zweck die Mittel heiligt und sie den Glauben verbreiten, daß es einen Schlüssel zur Lösung aller Probleme hier auf Erden gäbe. Durch einseitigen, fanatischen Sendungsglauben und sozialutopische, gewaltträchtige Perfektionstheorien unterminieren sie jetzt wie einst pluralistische Demokratien und ihre auf gegenseitiger Toleranz beruhenden Methoden liberaler, parlamentarischer Politik. Demokratie ist Selbstbeschrän-Icung, Ideologie Selbstüberhöhung, und diese gewinnt leider immer wieder die Oberhand über jene.1 Denn immer wieder geschieht mit der Ideologie von der »wahren« Demokratie ein fataler »Umschlag von der Emanzipation zum Despotismus«.2 Die entscheidende, zweifelnde Frage bleibt, ob der Mensch wirklich einen Drang zur Freiheit habe und ob er der Freiheit gewachsen sei. Oder ob er nicht immer wieder Führer, Systeme und Ideologien suche, die ihn von seiner Freiheit befreien und in Dienst nehmen: eine politische Religion also, die ihm die Ungewißheit über Gut und Böse, Sinn und Sinnlosigkeit nimmt. Dabei mögen sich Fortschritts- und Aberglaube, Wissenschaftskult und Lebensangst seltsam vermischen: Am stalinistischen Terror und der nationalsozialistischen Judenverfolgung haben wir exemplarisch erlebt, was pseudowissenschaftlicher ideologischer Wahn vermag, wenn er totalitäre Herrschaftsmittel gewinnt, d. h. wenn die totale Idee (der Rasse oder Klasse) vor die Beachtung der Menschenrechte rückt. Die Erinnerung an die millionenfachen Opfer links- und rechtsradikalen totalitären Wahns zwingt uns, die historischen Einsichten ernst zu nehmen, die zwei Zeitgenossen aus dem Kreis der verfolgten Völker, ein Tscheche und ein Jude, als Warnung gegen alte und neue Verführung formuliert haben:1 »Keine Utopie kann ohne Terror verwirklicht werden, und nach kurzem bleibt allein der Terror« (E. V. Kohák, 1968). Und: »Es gibt ein ironisches Gesetz der Geschichte, daß sich revolutionäre Erlösungspläne durch Revolution zu Terrorregimen entwickeln und daß die Verheißung einer vollkommenen direkten Demokratie in der Praxis die Form totalitärer Diktatur annimmt.« (Talmon, 1980) Um aus dieser Erfahrung unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts zu lernen und die Wiederholung und Fortsetzung der totalitären Verführung zu hindern, gilt es die Geschichte der Diktaturen heute nicht weniger ernst zu nehmen - auch wenn diese nun ostentativ im Gewand der Demokratie erscheinen, was sie nur noch gefährlicher, unwiderstehlicher macht. K. D. Bracher, Demokratie und Ideologie im 20. Jahrhundert, Bonn 1982, S. 5; 21 ff. Klaus Hornung, Der faszinierende Irrtum, Freiburg/Br. 1978, S. 134; vgl. Alexander Schwan, Theorie als Dienstmagd der Praxis .,, Von Marx zu Lenin, Stuttgart 1983, S. 205 ff. Vgl. Zeit der Ideologien, S. 120. 39 ■ Karl Dietrich Bracher Die totalitäre Erfahrung Piper München Zürich