Junge Türken in Istanbul: Jeder in seiner Welt Wenige Wochen vor dem Verfassungsreferendum reiste Reporterin Yasemin Ergin in die Türkei. Sie will herausfinden, wie die politische Krise im Land das Leben junger Türken verändert hat. Neulich bei Instagram fallt mir ein Foto auf, das Tugba gepostet hat. Es zeigt ihr Smartphone, auf dessen Bildschirm ein Porträt des türkischen Staatspräsidenten Erdogan prangt. Es ist ein politisches Statement, das auffällt inmitten der immer gleichen Selfies beim Kaffeetrinken mit Freundinnen, die Tugba sonst so teilt. Die Botschaft ist klar: Sie steht hinter ihrem Präsidenten und wird beim anstehenden Verfassungsreferendum, das Erdogan weiter stärken soll, mit "Ja" stimmen. Ich rufe sie an, weil ich wissen will, wie es ihr so geht in den Wochen vor dieser Wahl, wie sie den Streit um die Abstimmung wahrnimmt, und was sie sich von der geplanten Verfassungsänderung verspricht. Viel kriege ich nicht aus ihr raus. Das Präsidialsystem werde dem Land guttun, sagt sie - und hoffentlich irgendwie für neue Jobs sorgen. Kennengelernt haben wir uns vor wenigen Monaten während eines Reportagedrehs in Istanbul: Zusammen mit meiner Kollegin Katharina Willinger will ich herausfinden, wie die politische Krise im Land das Leben junger Türken verändert. Dafür sind wir in unterschiedlichsten Stadtvierteln unterwegs. Denn in Istanbul stehen verschiedene Stadtteile für verschiedene Lebensformen, für verschiedene gesellschaftliche und kulturelle Ausrichtungen. Menschen, die an unterschiedliche Dinge glauben, leben oft in unterschiedlichen Welten. Und gerade in unsicheren, angespannten Zeiten wie diesen ziehen sie sich zurück in die Viertel, in denen sie sich sicher fühlen, in denen sie von Menschen umgeben sind, die ihre Werte teilen. Einblicke in das Leben traditioneller Istanbuler Tugba ist in Balat geboren und aufgewachsen, einem Viertel nahe des Goldenen Horns, in1 dem überwiegend konservative, AKP-treue Istanbuler leben. Deshalb bin ich auch nicht überrascht darüber, dass die junge Frau Erdogan verehrt, sondern dass sie uns ausgerechnet am Rande einer Vernissage begegnet. Eigentlich sind wir in Balat mit der deutschen Fotografin Charlotte Schmitz verabredet, die mehrere Jahre hier gelebt und die Frauen in ihrer Nachbarschaft fotografiert hat. Vor der Ausstellung wollen wir mit ihr den Stadtteil erkunden und im unmittelbar angrenzenden Carsamba-Viertel - einer Ecke von Istanbul, in der schwarz verschleierte Frauen und bärtige Männer in muslimischen Gewändern das Bild bestimmen - auf dem Wochenmarkt einkaufen. Und zu diesem Treffen bringt Charlotte Tugba und ihre Schwester Büsra mit. In bunten, eleganten Outfits und auf High Heels, die farblich perfekt auf ihre Kopftücher abgestimmt sind, staksen die beiden energisch über das Kopfsteinpflaster und beraten Charlotte beim Einkauf. Tugba kommt später sogar noch mit zu dem Alkoholhändler im Viertel und versucht, den Preis des Roseweins runterzuhandeln, den Charlotte literweise für ihre Ausstellungseröffnung kauft. In diesem Teil unseres Films sollte es ursprünglich darum gehen, Einblicke in das Leben der traditionellen Istanbuler zu bekommen und am Beispiel von Charlottes Vernissage drauf zu schauen, wie es um die einst so lebendige Kunstszene Istanbuls bestellt ist. Stattdessen wird die Episode eine Beobachtung darüber, wie ausgerechnet einer Fremden aus Deutschland das gelingt, was die Istanbuler selbst nur selten hinbekommen: Die Gräben zwischen den