(SZ) Der Minnesänger Walther von der Vogelweide wurde mit einem Lied populär, in dem er schilderte, wie er dasaß. Nämlich auf einem Stein mit übercinandergeschla-genen Beinen, auf welche er den Ellbogen stützte. Eine seiner Wangen - er verrät nicht welche - hat er in seine Handfläche geschmiegt, so ungefähr muss man sich die Walther'sche Sitzposition vorstellen. Dergestalt sitzend, stellte der Mann Überlegungen zur Frage an, wie auf der Welt zu leben sei. Säße Walther heute einem amerikanischen Endokrinologen gegenüber, würde er zur Antwort bekommen: „So jedenfalls nicht, Sir." Und warum nicht? Weil Sitzen zu schwerwiegenden Stoffwechselkrankheiten und zu Diabetes führt. Wer sitzt, schadet sich selbst und gefährdet vielleicht sogar andere damit. In der Los Angeles Times hat der Arzt James Lcvine kürzlich gesagt: „Der Sessel bringt uns um." Sitzen, so sagen andere Ärzte, sei im Grunde genommen so schädlich wie Rauchen. Viele Menschen in den USA haben nun Angst vor Sesseln und Stühlen und hoffen, dass sie von dem Zeug wegkommen. Natürlich gibt es Menschen, die sich wirklich nur ab und zu mal auf einen Stuhl setzen. Das ist zwar auch nicht besonders gut, aber statistisch gesehen weniger schädlich als gewohnheitsmäßiges und exzessives Sitzen. Kettensitzer sind, das weiß man inzwischen, suchtkrank und müssen in Behandlung. Man sollte sie deshalb nicht ausgrenzen, sondern ihnen helfen aufzustehen. In New York überlegt Bürgermeister Bloomberg, der schon Zucker und Fett verboten hat, auf jeden Stuhl einen Warnhinweis zu kleben: Sitzen tötet. Oder: Sitzen gefährdet das Leben ihres Kindes während der Schwangerschaft. Oder, ein bisschen konstruktiver: Wer das Sitzen heute aufgibt, verringert das Risiko tödlicher Stoff Wechselerkrankungen. Es wird bald Nichtsitzer-Schutzgesetze geben und ein erst partielles, dann absolutes Sitzverbot in öffentlichen Gebäuden, U-Bahnen und Restaurants. Wer unbedingt sitzen will, muss vor die Tür gehen, wo der Wirt Stühle aufgestellt hat. Manche Leute werden sagen, na ja, das Nichtsitzer-Schutzge-setz ist einerseits schon streng. Andererseits ist es auch mal ganz angenehm, in einem Restaurant zu stehen, wo nicht die ganze Zeit gesessen wird. Ei nes Tages wird die Endokrinologie bemerkenswerte Untersuchungen darüber anstellen, ob Stehende auch Risiken in Kauf nehmen müssen, wenn sie im selben Raum mit ständig sitzenden Menschen arbeiten. Man wird es zwar nicht hundertprozentig beweisen können, aber tendenziell ließe sich schon sagen, dass Menschen auch durch Passivsitzen schwere gesundheitliche Schäden davontragen können. Schade bloß, dass das gute alte Sitzabteil in der Bahn abgeschafft wird. Irgendwann wird es auch so weit sein, dass nur noch Helmut Schmidt in der Öffentlichkeit sitzen darf.